H.-U. Wehler: Eine lebhafte Kampfsituation

Cover
Titel
Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Cornelius Torp und Manfred Hettling


Autor(en)
Wehler, Hans-Ulrich
Erschienen
München 2006: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Raphael, Fachbereich III - Geschichte, Universität Trier

Interviews mit bekannten Vertretern des eigenen Faches erfreuen sich inzwischen großer Beliebtheit. Das Wechselspiel von Frage und Antwort, die Direktheit, ja Unverblümtheit des mündlichen Austausches, aber auch die Unverbindlichkeit der Plauderei haben sicherlich dazu beigetragen, dass diese Form der Autobiografie und der Zeitzeugenschaft gerade für die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft zu einer wichtigen Informationsquelle geworden ist. Interviews versprechen den Studierenden einen raschen, leichten Einstieg ins Thema, den Kollegen die pikanten Anekdoten und den Kontrahenten die erwarteten bzw. erhofften Provokationen.

Der vorliegende Band liegt voll in diesem Trend; er teilt die Stärken und Schwächen des Genres. Zwei jüngere Kollegen und frühere Doktoranden bzw. Mitarbeiter haben Hans-Ulrich Wehler, den immer angefeindeten Wortführer der „historischen Sozialwissenschaft“ bzw. der „Bielefelder Schule“ zu seinem Leben, Werk und vor allem seinen Meinungen zum Stand der Geschichtswissenschaften in Deutschland befragt.

Wie bei diesem Genre und diesem Gesprächspartner vorprogrammiert, lobten und verrissen die Rezensenten in der Tagespresse das Werk sofort nach Veröffentlichung.1 Gerade Verteidiger anderer Fachpositionen bzw. alte Kontrahenten Wehlers nutzten die Gunst der Stunde zur polemischen Verächtlichmachung: Der früher eher gefürchtete Zensor wird nun selbst seiner Wissenslücken überführt und soll damit wohl lächerlich gemacht werden. Dieses Medienspiel soll hier nicht fortgesetzt werden – dem Rezensenten fehlt das Talent wie die Lust zum feuilletonistischen Feuerwerk oder zur kollegialen Aburteilung.

Dieses Taschenbuch kann nach Anlage und Genre eher begrenzte Aufgaben erfüllen; entsprechend bescheiden sollten die Leseerwartungen sein. Herausgekommen ist in der Tat ein leicht lesbarer Band, der anschaulich den Lebensweg des Historikers Wehler schildert und dessen Sicht auf die Geschichtswissenschaft in aller Deutlichkeit klarlegt – mit den Stärken und Schwächen, die diesem Genre anhaften. Die Abschnitte über Wehlers Jugend im Nationalsozialismus und Krieg, dann aber vor allem das zweite Kapitel über die Amerikaaufenthalte und Studienjahre in Bonn und Köln während der 1950er-Jahre sind ähnlich aufschlussreich wie das Gespräch über das eigene Werk (Kapitel VI: „Arbeiten, um überholt zu werden“). Es sind – so wird im Interview deutlich – die prägenden Jahre für den engagierten politischen Historiker Wehler: Zusammenbruch des NS-Regimes und Desillusionierung eines jugendlichen Mitläufers, Neuorientierung am demokratischen Vorbild Amerika, schließlich die Selbstbehauptung als scharfzüngiger Außenseiter in einem konservativen Universitätsmilieu – nicht zuletzt dank der liberalen Rückendeckung seines Förderers Theodor Schieder.

Aber ebenso deutlich wird, in welchem Maße und trotz seines unverwechselbaren individuellen Profils Wehler sich zugleich auch als Mitglied einer Generation und als Teil eines durch private Freundschaft, fachliche Übereinstimmung und professionelle Kollegialität verbundenen Kreises etwa gleichaltriger Historiker erlebt, die sich um dieselben Vorbilder und Lehrer sammelten, ähnliche sozialliberale Reformziele vertraten und in vergleichbarer Weise mit dem Zustand ihres Faches in den 1950er- und 1960er-Jahren unzufrieden waren. Hier ist der Ton warm, sind die Fachurteile ausgewogen, zuweilen sogar mild. Das emphatische Selbstporträt der Gründergeneration der politischen Sozialgeschichte in der Bundesrepublik ist aufschlussreich. Es zeigt Vernetzungen und Verbindungen hinter den Kulissen, macht zeitgenössische Konfliktlinien deutlich – so wie Wehler sie heute sieht, dies sei als methodische Warnung allen eiligen Lesern mit auf den Weg gegeben: Die Wissenschaftsgeschichte kann quellengestützt manches korrigieren und wird auch manches anders interpretieren, aber das ist bei solchen Zeitdokumenten eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die nur gesagt zu werden lohnt, weil es zu den Trugbildern der Disziplingeschichte gehört, sich auf die Selbstzeugnisse der Akteure mit blindem Vertrauen zu verlassen. Es versteht sich von selbst, dass die Anekdoten nicht fehlen, auf die der Leser wartet. Und natürlich finden sich jene scharfzüngigen apodiktischen Urteile über Werke und Autoren, für die Wehler bekannt ist und die dann viele nicht Betroffene mit klammheimlicher Freude weitertradieren.

Doch die Interviewpartner schätzen Wehler auch als kritischen Beobachter der Aktualität, seine Sicht der aktuellen Trends im Fach, seine Stellungnahmen zum eventuellen EU-Beitritt der Türkei. Neben den immer klaren und pointierten Urteilen fällt hier die Ratlosigkeit auf, die aus vielen seiner Bemerkungen und Antworten spricht: Die großen Gegenwartsfragen (Huntingtons „Clash of Civilizations“) ebenso wie die neuen Trends im Fach erscheinen als ebenso beunruhigend wie irritierend; sie passen offenbar nicht mehr in das Koordinatensystem eines politischen Historikers, der die mühsame Demokratisierung der Bundesrepublik mitverfolgt und aktiv mitgestaltet hat, der in der sozialliberalen Ära den Höhepunkt seines öffentlichen Wirkens und seiner universitären Macht erlebte. Bereits diese Phase wird kaum thematisiert – wohl auch deshalb, weil zwei Vertreter des eigenen Schülerkreises die kritischen Fragen hier gar nicht stellen. Hier fehlen die aufmerksamen Bemerkungen und Erinnerungen, die gerade für die früheren Jahrzehnte die Lektüre des Bandes lohnen.

Wehlers Sicht auf die Gegenwart des Faches ist ohne Überraschungen: Die ironische Skepsis dominiert, aber sie beruht auf einer sehr selektiven, stellenweise eng begrenzten, zuweilen sogar risikoreich einseitigen Wahrnehmung und Kenntnis, als sei mit dem Altern der Freunde und Weggefährten auch die kollektive Urteilskraft geschrumpft, auf die man sich angesichts von Spezialisierung und Internationalisierung der laufenden Forschung auch verlassen muss. So liefert dieses Gespräch nicht zuletzt Hinweise auf das so überraschend schnelle Altern der historischen Sozialwissenschaft, auf ihre lebensweltliche, aber auch politisch-weltanschauliche Einpassung in die Bonner Phase der Bundesrepublik.

An ihrer Geschichte entzündet sich in diesen Passagen des Gesprächs denn auch die so sympathische kritische Verve des forschenden Sozialhistorikers Wehler, der die Kontinuität der Eliten und die wachsende Ungleichheit in seiner eigenen Gesellschaft – man muss wohl formulieren: mit einiger Überraschung – trotz Bourdieu-Lektüre wiederentdeckt, und damit ein Strukturproblem, dessen gefährliche Begleitrisiken dem Verfechter der modernisierungstheorisch orientierten Gesellschaftsgeschichte bei seinem langen Weg durch die deutsche Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts bestens vertraut geblieben sind.2 Man darf also gespannt sein auf den ungleich wichtigeren, fünften und letzten Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“, der der Bonner Republik gewidmet ist.

Anmerkungen:
1 Rödder, Andreas, Bielefelder Allerlei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.9.2006; Bahners, Patrick, Woher hat er das bloß?, in: ebd., 25.9.2006; Augstein, Fransziska, Der Sonderweg des Mittelstreckenläufers, in: Süddeutsche Zeitung, 28.10.2006; Stürmer, Michael, Geschichte – Futter für die Schlacht der Historiker, in: Welt, 27.12.2006.
2 Siehe auch Wehler, Hans-Ulrich, Verschämte Klassengesellschaft, in: ZEIT, 23.11.2006, online unter URL: <http://www.zeit.de/2006/48/Unterschicht>.

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