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Titel
Versorgungswirtschaft als regionale Organisation. Die Wasserversorgung Berlins und des Ruhrgebietes zwischen 1850 und 1930


Autor(en)
Eiden, Christian
Reihe
Rheinisch-Westfälische Hochschulschriften 4
Erschienen
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Stier, Universität Koblenz-Landau

Vor dem Hintergrund aktueller Veränderungen der Wassermärkte untersucht die Bochumer Dissertation die organisatorische Entwicklung dieses wichtigen Teilsystems der Infrastruktur als Funktion eines sozialen Aushandlungsprozesses unter teils universellen bzw. systemimmanenten, teils regionsspezifischen Bedingungen. Dem typisierend-qualifizierenden Vergleich der beiden Fälle liegt dementsprechend ein zweifaches Verständnis der Wasserversorgung als großtechnisches System und zugleich als soziale Organisation zugrunde. Ziel der Arbeit ist es, unterschiedliche Entwicklungspfade herauszuarbeiten und die jeweiligen Anpassungsleistungen der Organisation an sich verändernde Anforderungen zu bewerten. Als Leitaspekte dienen die Entwicklung der Verfügungsrechte über die Ressourcen, die Probleme der Agenturbeziehung zwischen Kommunen und beauftragten Unternehmen sowie Ziele und Verhalten der beteiligten Akteure im Entscheidungsprozeß. Zeitliche Grenzen bilden einerseits die Mitte des 19. Jahrhunderts, als das traditionelle System der Wasserversorgung durch Bevölkerungszunahme, Urbanisierung und Industrialisierung an seine Leistungsgrenze kam, andererseits die in den 1930er-Jahren erreichte dauerhafte Verfestigung der Systemstruktur.

1856 wurde in Berlin eine zunächst von einem Privatunternehmen betriebene Wasserversorgung eingerichtet. Ihre Kommunalisierung im Jahr 1873 erklärt Eiden mit dem stark steigenden Wasserbedarf aufgrund der Einführung der Schwemmkanalisation nach dem Plan Hobrechts im selben Jahr. Die Mängel des Betreibervertrags, der keinen adäquaten Ausbau des Systems entsprechend der Entwicklung von Bevölkerungszahl, Wasserbedarf und räumlicher Ausdehnung der Stadt gewährleistete, wurden dadurch behoben. Erst mit der Übernahme in den städtischen Betrieb waren die Voraussetzungen für eine kontinuierlich wachsende, ebenso leistungsfähige und effiziente wie betriebswirtschaftlich erfolgreiche Versorgungswirtschaft gegeben. Nach der Bildung von Groß-Berlin (1920) wurde sie in der „Berliner Städtische Wasserwerke AG“ (WASSAG, gegr. 1923) mit den kommunalen Wasserwerken der eingemeindeten Vororte sowie mit einem größeren privaten Anbieter zusammengeschlossen.

Der Abriss über den Berliner Fall fällt vergleichsweise knapp aus. Er dient als Referenzstudie, anhand der sich die spezifischen Bedingungen und Entwicklungen des Ruhrgebiets-Systems deutlicher herausarbeiten lassen, diesem gilt eindeutig das Hauptinteresse Eidens. Die Wasserwirtschaft an Ruhr und Emscher wird zweigeteilt anhand einzelner Fallstudien sowie anhand eines vorangestellten regionalen Gesamtüberblicks untersucht. Dieser arbeitet zunächst die besonderen, eher belastenden Rahmenbedingungen heraus, vor allem die relative Wasserknappheit und die schwierige Ressourcenerschließung, die Störung der Grundwasserbildung durch ungünstige Bodenverhältnisse und durch den Bergbau, schließlich die Konkurrenz zwischen den einzelnen Wasserwerken und vor allem zwischen verschiedenen Nutzungsarten der Flüsse (Wassergewinnung, Abwassereinleitung), welche die Wassergewinnung aus der Ruhr erheblich beeinträchtigte und die aus der Emscher völlig ausschloß. Auf der Systemebene, so die Argumentation, hätten sich diese Probleme nur durch eine regional und funktional integrierte Wasserbewirtschaftung im großen Rahmen wirksam lösen lassen, aber die tatsächliche Entwicklung sei durch isoliertes Handeln der lokalen Akteure, durch administrative Kleinteiligkeit und die Zersplitterung der Wasserwirtschaftsverwaltung geprägt worden. Auch die unternehmerische Zusammenfassung der Wasserwerke in einem Einheitsversorger oder in einem regionalen Wassersyndikat scheiterte an den Sonderinteressen der Beteiligten, an der Furcht vor privaten Wassermonopolen und an den durch Konzessions- und Demarkationsverträge festgezurrten Strukturen. Es erfolgte deshalb keine Konsolidierung des Systems durch Flurbereinigung wie in Berlin, sondern seine Ergänzung durch ein „dichtes organisatorisches und institutionelles Netzwerk“ (S. 339) von übergelagerten Einrichtungen, Funktionen und Konzepten. Vor allem durch die Zweckverbände (Ruhrtalsperrenverein, Ruhrverband), daneben durch das Gelsenkirchener Hygiene-Institut sowie durch die Etablierung einheitlicher Bewirtschaftungs- und Hygienestandards wurden die kommunalen bzw. industriellen Wasserwerke wirksam verklammert. Unterhalb dieser Ebene bestimmte aber weiterhin einzelunternehmerisches bzw. einzelgemeindliches Agieren die Wasserversorgung. Seine Leistungen und Defizite werden in einem zweiten Teil am Beispiel größerer Städte (Duisburg, Mülheim, Oberhausen, Essen, Gelsenkirchen) sowie der beiden privat- bzw. gemischtwirtschaftlichen Wassergesellschaften WWKR und RWW ausgelotet.

Bezogen auf die Fragestellung steht das Beispiel Berlin für die durchgreifende Verbesserung einer quantitativ und qualitativ suboptimalen Versorgung; sie wurde erreicht durch die vollständige Kommunalisierung, das heißt Vereinheitlichung der Verfügungsrechte und Eliminierung der problematischen, weil vertraglich unzureichend geregelten Agenturbeziehung zwischen Gemeinde und privaten Anbietern (S. 144f., 152f.). Die Bildung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin schuf eine wesentliche Voraussetzung dafür. Im Ruhrgebiet dagegen verhinderte die administrative Kleinteiligkeit jede Konsolidierung. Die kompensatorische Wirkung der ersatzweise entstandenen übergelagerten Institutionen beurteilt Eiden in historischer Perspektive insgesamt positiv: Trotz einzelner Probleme hätten sie Versorgungssicherheit und Interessenausgleich zwischen den Akteuren gewährleistet. Die Zukunftsfähigkeit des Ruhr-Systems stellt er dagegen grundsätzlich in Frage (S. 325f., 331ff., 339). Die Region, so die These, könne sich in der globalisierten Wasserversorgung keine organisationsbedingten Effizienzverluste mehr leisten. In welche Richtung eine mögliche Lösung geht, lässt sich unschwer ausmachen, auch wenn Eiden das von ihm präferierte Modell der einheitlichen Großversorgung nicht näher ausbuchstabiert. Solche Überlegungen resultieren aus dem dezidiert zukunftsbezogenen Anspruch der Studie, „zur weltweiten Debatte über die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen“ beizutragen (S. 7). Ob er wirklich erfüllt werden kann, sei dahingestellt. Aus historischer Perspektive jedenfalls erscheinen die beiden Organisationsformen der Wasserversorgung als spezifische und damit adäquate Antworten auf unterschiedliche Konstellationen und Problemlagen: einerseits die Einheitsgemeinde mit einheitlicher Willensbildung und relativ übersichtlichen Systembedingungen (Größe des Versorgungsgebiets, Bevölkerungs- und Verbrauchsdichte, homogene Nachfragestruktur bei insgesamt untergeordneter Rolle des industriellen Wasserverbrauchs), andererseits die politisch zersplitterte Großregion mit einer gänzlich abweichenden Nachfragestruktur und insgesamt sehr viel ungünstigeren Rahmenbedingungen. Das arbeitet die Studie theoriegeleitet und zugleich empirisch überzeugend heraus.