Doris Bachmann-Medicks Buch „Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften“ hat für einigen Wirbel gesorgt und erscheint in absehbarer Zeit bereits in der dritten Auflage. Das ist für eine Theorie-Monographie durchaus ungewöhnlich und bietet Anlass genug, sie kritisch zu prüfen.
Bachmann-Medicks innovativer Ansatz ist situiert zwischen moderner Wissenschaftsgeschichte, systematischer Theorieforschung und vorausweisender Perspektivierung; er zielt ins Zentrum eines bislang vernachlässigten Bereichs der Forschung: Die Autorin nimmt die Phasen, Entwicklungen und dynamischen Transformationen wissenschaftlicher Denkformen, Theoriestränge und Handlungsweisen in den Blick, die das Bild der modernen Kulturwissenschaften maßgeblich formten und noch immer wirksam sind. Die dadurch angestoßenen Neuorientierungen haben sich unter dem gängigen Selbstbeschreibungsvokabular der Disziplinen kontinuierlich verschoben, ohne die in sie eingeprägten Spuren einer paradigmenbasierten Wissenschaftsentwicklung komplett zu verwischen. Die Verweigerung einer eindeutigen und abschließenden Perspektive auf die kulturwissenschaftlichen Theoriebildungen markiert einen Kontrapunkt zu traditionellen wissenschaftsgeschichtlichen Sichtweisen, die über weite Strecken noch immer einer vermeintlich linearen Evolution wissenschaftlichen Denkens nachspüren. Die raffinierte Vermittlung einer an Thomas Kuhns Begriff des Paradigmas geprägten Perspektive mit der Denkfigur des ‚Turns’ stellt einen besonderen Verdienst der Monographie dar, die nicht nur zu den interessantesten systematischen Beiträgen zur Theorie und Praxis der Kulturwissenschaften der letzten Jahren gezählt werden muss, sondern darüber hinaus auch dem ins Abseits geratenen Genre ‚Theorie-Buch’ zu neuer Geltung verhilft.
Bachmann-Medick hat ihre Darstellung klar strukturiert. Den Hauptteil der Studie bilden sieben Kapitel, die sich einem konkreten ‚Turn’ widmen (Interpretive, Performative, Reflexive/Literary, Postcolonial, Translational, Spatial und Iconic Turn). Hierbei verarbeitet Bachmann-Medick eine beeindruckende Menge wichtiger Forschungsliteratur, so dass sich jedes Kapitel für sich als vorzügliche Einführung in die jeweiligen kulturwissenschaftlichen Forschungsperspektiven lesen lässt. Prägnant erläutert die Autorin die Genese der ‚Turns’ innerhalb ihrer spezifischen Kontexte und beschreibt die Übersetzungs- und Transformationsprozesse, die den Fokus dezidiert auf die Prozessualität und Dynamik des Theoriediskurses lenken. Die Zentralität der Übersetzungsperspektive bei der Untersuchung von Verfahren und Verlaufsformen der Theoriebildung erschließt einen bislang noch weißen Fleck in der Kartographie kulturwissenschaftlicher Forschungsrichtungen, der vor allem durch Bachmann-Medicks Impulse im deutschsprachigen Raum zunehmend an Bedeutung gewinnt. Jedes Kapitel endet mit einer Sichtung der disziplinären Integrationsweisen des jeweiligen ‚Turns’ und kritischen Bemerkungen. Eine thematische Bibliographie rundet die Kapitel ab.
Bachmann-Medicks ‚andere’ Geschichte der Kulturwissenschaften ist weder eine Geschichte der großen Brüche und epistemologischen Revolutionen noch diejenige einer einzelnen Disziplin oder Idee. Vor allem ist sie nicht das vehement ‚Andere’ einer Wissenschaftshistoriographie, die dogmatisch um das Konzept des ‚Paradigmenwechsels’ herum die Entwicklung der Wissenschaften von einer umstürzenden Zäsur zur nächsten modelliert. Den Fokus der Untersuchung bildet vielmehr das Interesse an den mikrologischen Gleichzeitigkeiten, Interdependenzen sowie Transfer- und Übersetzungsleistungen im weiten Feld der kulturwissenschaftlichen Theoriebildung. Dieser Blick auf die synchronen Szenarien des ‚doing theory’ orientiert sich an der Vielzahl der ‚Turns’, der Wenden und Umorientierungen, die das ‚master narrative’ eines monologischen ‚Cultural Turn’ mit ihren „Differenzierungsimpulsen geradezu untergraben“ (S. 9). Bachmann-Medick wendet sich gegen die lineare Rückführung der interdisziplinären Ausdifferenzierung kulturwissenschaftlicher Forschungsperspektiven auf eine zentrale „Megawende“ (S. 7). Zwar bilde der ‚Linguistic Turn’ eine Art „umstürzenden Paradigmenwechsel“ (ebd.) und sei verantwortlich für die postmoderne Hinwendung zu ‚Kultur’ als Forschungsfeld. Diese Einsicht dürfe sich jedoch nicht in der Überzeugung verfestigen, dass sich alle nachfolgenden Umorientierungen auf dieses Ereignis reduzieren bzw. darin auflösen ließen.
Bachmann-Medick konkretisiert die Überschreitung – wohlgemerkt: nicht die Verabschiedung – des Paradigmenbegriffs in der Denkfigur des ‚Turn’, für dessen klare Bestimmung als epistemologische Kategorie eindeutige Kriterien noch ausstehen, für die sich jedoch Konturen nachzeichnen lassen. Von einem ‚Turn’ könne dann gesprochen werden, „wenn der neue Forschungsfokus von der Gegenstandsebene neuartiger Untersuchungsfelder auf die Ebene von Analysekategorien und Konzepten ‚umschlägt’, wenn er also nicht mehr nur neue Erkenntnisobjekte ausweist, sondern selbst zum Erkenntnismittel und -medium wird“ (S. 26). Der Umschlag vom Gegenstand zur Analysekategorie markiert somit die wesentliche Qualität eines ‚Turns’, die sich gerade nicht in der quantitativen Verbreiterung der Materialbasis erschöpft, sondern durch die Lockerung der unmittelbaren Gegenstandsrelation (nicht deren Tilgung!) eine Verallgemeinerung der Forschungsperspektive sowie deren Übersetzbarkeit in andere Gegenstandsbereiche und Themenfelder ermöglicht. Die im Rahmen der Ausbildung neuer Perspektiven eingeführten Vokabulare werden in diesem Zusammenhang oftmals erst durch ihre Metaphorisierung übersetzbar.
Den Anstoß zur Ausbildung der Kette von ‚Turns’ führt Bachmann-Medick auf die Kulturanthropologie bzw. Ethnologie zurück, „besonders [auf] die amerikanische, die sich erheblich unterscheidet von der deutschsprachigen Tradition einer philosophisch begründeten Anthropologie“ (S. 28). Diese Basisentscheidung hat Bachmann-Medick gehörige Kritik beschert. Nicht so sehr die Datierung eines konkreten Beginns der Entwicklungsgeschichte wurde moniert, sondern die Beschränkung der Übersetzungsperspektive auf eine Wissenschafts-Szene, deren Engagement für politische und kulturelle Fragen sich vom deutschen Wissenschaftsbetrieb unterscheidet. Die von Bachmann-Medick eingeforderte Wendung der Analysekategorien von lediglich beschreibenden zu operativen, das heißt wirklichkeitsverändernden Begriffen speist sich in der Tat aus diesem Kontextwechsel (S. 26). Allein durch den Hinweis auf die differenten kulturellen und politischen Dispositionen des wissenschaftlichen Feldes in Deutschland kann der Vorschlag, die Perspektive auf die kulturwissenschaftliche Theoriebildung über die Grenzen des „Theorielabors“ hinaus auszudehnen, jedoch nicht abgewiesen werden.
Die Vernachlässigung Frankreichs in der Untersuchung der ‚Turns’ wurde ebenfalls mehrfach nachdrücklich kritisiert. Diese Ausblendung verkürzt fraglos die Sicht auf die Theoriediskussion. Unbegründet bleibt die Entscheidung jedoch nicht: In Frankreich „scheinen die Diskurse in anderen Bahnen zu verlaufen“ (S. 32). Erst kürzlich hat Johannes Angermüller am Beispiel der transnationalen Poststrukturalismus-Diskussion herausgearbeitet, wie differenziert das französische Feld diesbezüglich zu betrachten ist.1 Erkennt man die epistemologischen Prämissen der Autorin an, leuchtet die Beschränkung auf den amerikanischen Kontext also durchaus ein. Eine andere Geschichte der Kulturwissenschaften kann und soll eben keine Universalgeschichte sein.
‚Turns’ sind nicht völlig unverbindlich oder beliebig. Und so zeichnet sich auch die Kartographie der ‚Turns’ durch bestimmte Entwicklungstendenzen aus, die stets ein Nebeneinander, aber auch ein Darüberhinaus implizieren. Diese Tendenzen sieht Bachmann-Medick in einer Revitalisierung von Materialität und Sozialität sowie in der damit einhergehenden Überschreitung des ‚Linguistic Turn’.
Wohin wird die Entwicklung zukünftig führen? Steht den Kulturwissenschaften ein neuer ‚Megaturn’ ins Haus? Hier legt sich Bachmann-Medick nicht fest. Anwärter auf zukünftige ‚Turns’ gibt es jedenfalls genug. Im abschließenden Ausblick reiht Bachmann-Medick eine Vielzahl potentieller Kandidaten auf, wobei der ‚Cognitive/Neurobiological’ bzw. der ‚Global Turn’ besonders aussichtsreich erscheinen. Was sich in der Zusammenschau aller ‚Turns’ deutlich abzeichnet, sind konzeptuelle und forschungspraktische Verdichtungen von übergreifender Wirkung: Prozessorientierung statt Seinsbehauptung, Orientierung auf soziale Handlungswirklichkeiten, interkulturelle Grenzüberschreitung (S. 383).
Bachmann-Medick hat die ‚Turns’ nicht erfunden, und längst nicht alle Wenden, die sie präsentiert, sind neu. „Oft sind sie nur wichtige Wiederbelebungen schon längst praktizierter Forschungsrichtungen [...].“ (S. 45) Ihr Verdienst ist es, die inflationäre Rede vom ‚Turn’ in eine epistemologische Kategorie von hohem, aber nicht ausschließlichem Erklärungswert gewendet zu haben. Der Übergang vom Untersuchungsgegenstand zu einer in andere Kontexte übersetzbaren Analysekategorie schließt produktive Überschreitungen und Weiterentwicklungen ebenso wenig aus wie Verflachungen und Banalisierungen. Freilich: Es verlangt ein sehr genaues Lesen, um in der Begriffsvielfalt, die Bachmann-Medick bietet, stets den konzeptuellen Überblick zu wahren. Hier hat die kontroverse Diskussion um das Buch bereits wichtige Hinweise geliefert, die in der Summe jedoch weniger zur Revision als vielmehr zur Aufhellung der Argumentation beigetragen haben.
Doris Bachmann-Medicks Buch bietet Verschiedenes: Es ist sowohl informatives Hand- und Lehrbuch als auch innovativer Forschungs- und Diskussionsbeitrag. Es koppelt Konsensualität mit Momenten produktiver Irritation. In jedem Fall lädt es zum Dialog ein. Eines streicht es jedoch besonders deutlich heraus: die Unverzichtbarkeit der Kulturwissenschaften – auch und gerade angesichts völlig neuer und noch nicht abzusehender Entwicklungen im Bereich der Neurowissenschaften. Das sollte stimulierend wirken.
Anmerkung:
1 Johannes Angermüller, Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld 2007.