I. Wehr (Hg.): Un continente en movimiento

Cover
Titel
Un continente en movimiento. Migraciones en América Latina


Herausgeber
Wehr, Ingrid
Erschienen
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
€ 36,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Christof Parnreiter, Institut für Geographie, Universität Hamburg

Der vorliegende Band versammelt eine Auswahl von Beiträgen, die auf der Jahrestagung 2003 der Arbeitsgemeinschaft Deutsche Lateinamerikaforschung (ADLAF) präsentiert wurden. Auf eine Einleitung folgen 29 Texte, die in sechs thematische Gruppen zusammengefasst sind: „Migration und Identität“, „Migration und Gender“, „Internationale und transnationale Aspekte von Migration“, „Binnenmigration“, „LateinamerikanerInnen in Deutschland, Deutsche in Lateinamerika“ sowie „Migration – Exklusion – Citizenship“ (Übersetzung C.P.). Aktuelle Fragen werden in der Mehrzahl der Beiträge behandelt, obwohl auch historische Themen Platz finden. Geographische Schwerpunkte werden sowohl auf Abwanderungsregionen als auch auf Zuwanderungsgebiete gelegt, wobei für einige Länder Beiträge sowohl zur Immigration als auch zur Emigration vorliegen. Die meisten Beiträge sind in spanischer Sprache verfasst, je einer in Englisch bzw. Portugiesisch.

Konferenzbände weisen, unabhängig von der Qualität der einzelnen Beiträge, fast immer den Mangel auf, etwas zusammengewürfelt zu wirken. Allerdings ergibt sich daraus auch eine Stärke von Tagungsbänden: Sie stellen ein Zeitdokument dar, das Auskunft gibt über Themen, Forschungsansätze und Methoden, die sich zum jeweiligen Zeitpunkt der Tagung großer Beliebtheit erfreuten. Gleichzeitig informieren sie auch über Aspekte eines Themengebietes oder theoretische Ansätze, die aus der Mode geraten sind.

So demonstriert die obige Übersicht über die thematischen Gruppen also, was (vielfach junge) LateinamerikanistInnen zu Beginn des 21. Jahrhunderts bewegte – und was nicht. Der Sammelband zeigt einen klaren Fokus auf kulturwissenschaftliche Themen und Methoden (z.B. tragen neun Beiträge den Begriff „Identität“ im Titel), während etwa politökonomische Ansätze sich gegenwärtig einer weniger guten Konjunktur erfreuen können (mit Ausnahme der Frage der so genannten Rimessen, der Rücküberweisungen der MigrantInnen an ihre Familien). So findet sich auch relativ wenig zu traditionellen Themen der Migrationsforschung wie etwa Arbeitsmarktfragen, die Zerstörung ländlicher Ökonomien, der Zusammenhang von Migration und (Unter)-Entwicklung oder das Funktionieren von Migrationsnetzen. Auch die Binnenmigrationen in Lateinamerika sind, obwohl mit einem eigenen Abschnitt im vorliegenden Buch vertreten, als Forschungsthema offensichtlich weitgehend aus der Mode gekommen. Zwei der drei Beiträge in diesem Kapitel sind Wanderungen im 16. Jahrhundert gewidmet, der dritte behandelt die Zuwanderungssituation in Mexico City (1995-2000).

Die thematischen Lücken verwundern insofern, als der lateinamerikanischen Arbeitsmigration in die USA, aber auch den Folgen von Neoliberalismus und Globalisierung für ländliche Entwurzelung und Binnen- wie internationale Migrationen in der Fachliteratur durchaus Gewicht zugemessen wird. Weil die Behandlung dieser Themen sehr dünn ausfällt, was Ingrid Wehr in der Einleitung als (zugegebenermaßen sehr hohes) Ziel der Migrationsforschung definiert, nämlich die politischen und sozioökonomischen Prozesse auf der Makroebene mit den Entscheidungen auf der Mikroebene zu verbinden. Etwas mehr Bescheidenheit hätte auch der Titelwahl gut getan: Nicht die thematischen „Lücken“ stellen ein Problem dar, sondern der Buchtitel, der eine Gesamtdarstellung suggeriert.

Andererseits aber bietet der Sammelband breite Information zu Fragen der Identitätsbildung, und zwar, und das ist sicherlich die Stärke des Buches, von MigrantInnen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Regionen. Es werden Themen behandelt wie die aktuelle karibische Zuwanderung nach New York und die Auswanderung spanischer Anarchisten in dieses Stadt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die Migration von Japanern nach Brasilien und die Identitätskonstruktionen von AfroamerikanerInnen in Brasilien und Argentinien durch Bild und Text, oder auch die kollektiven sozialen Praktiken von Flüchtlingen in Kolumbien. Auch die Beiträge zum Bereich „Migration und Gender“ kreisen vielfach um Fragen der Identität, wenn in diesem Teil auch „traditionelle“ Themen wie Arbeitsmigration und ihre Folge für Geschlechterbeziehungen behandelt werden (z.B. in den Beiträgen von Barbara Potthast und París Bombo).

Der Teil zu „internationale und transnationale Aspekte von Migration“ spiegelt eine der aktuellsten Debatten der Migrationsforschung wider, die um die Frage kreist, ob sich als Teil von Globalisierungsprozessen auch neue, transnationale Formen der Migration und der Migrationsregulierung herausbilden. Amalia Stuhldreher bejaht diese Frage in ihrem Beitrag über regionale Migrationspolitik, wobei sie insbesondere auf das Zusammentreffen von staatlichen Interessen und zivilgesellschaftlichen Forderungen hinweist. Auch Sandoval Palacios untersucht transnationale Migrationspolitik, allerdings aus einer Perspektive „von unten“, nämlich an Hand von Organisationen zur Verteidigung der Rechte von ImmigrantInnen. Allerdings verbleibt der Beitrag sehr deskriptiv und kann deshalb die sich auftuende Fragen nicht beantworten, warum der Zusammenschluss von zivilgesellschaftlichen Organisationen eine neue Qualität – nämlich Transnationalität – sozialer Beziehungen darstellt. García Zamora nähert sich dieser Frage an Hand der Untersuchung der Rolle von Klubs von Auswanderern aus dem mexikanischen Bundesstaate Zacatecas nach Kalifornien. Er arbeitet die Rolle dieser Klubs in Entwicklungsprojekten „zu Hause“ heraus (z.B. Infrastruktur, soziale Projekte) und argumentiert durchaus plausibel, dass diese Klubs zu neuen, binationalen Akteuren geworden seien, die sich ihrer politischen wie sozialen Rolle am Zuwanderungs- wie am Abwanderungsort bewusst seien und entsprechend handeln würden. Positiv ist auch zu erwähnen, dass García Zamora, statt einfach einen Bedeutungsverlust des Staates zu konstatieren, das Transnationale im Kontext unterschiedlicher räumlicher und administrativer Ebenen betont.

Auch Anika Oettler greift das Thema der Transnationalität von Migrationen auf, um zu fragen, inwieweit die Migrationen der Guatemalteken in die USA die interethnischen Beziehungen und Identitätsbestimmungen innerhalb Guatemalas, aber auch in den USA beeinflusst. Sie zeigt zum einen, dass die Migration in die USA die sozialen und v.a. die Geschlechterrollen am Herkunftsort verändert (Frauen übernehmen zunehmend den Haushaltsvorstand, sie stellen Männer für die Feldarbeit einzustellen), und zum anderen, dass die Migration und die damit verbundene Erfahrung der Konkurrenz am Arbeitsmarkt in den USA zu neuen Formen der Selbstdefinition führen kann. Ob dadurch den blutigen Auseinandersetzungen zwischen „ladinos“ und „indigenas“ ein Ende bereitet werden kann, muss allerdings offen bleiben.

Abschließend muss noch eine Schwäche des Bandes angesprochen werden, nämlich der Mangel an quantitativen Überblicken und Einschätzungen des Phänomens Migration. Zwar liefern die Beiträge von Barbara Potthast und Barbara Fritz solche Überblicksdarstellungen für die Bereiche weibliche Migrationen (beginnend mit der Kolonialzeit) und Rimessen, eine Gesamtdarstellung aber fehlt. Die Einleitung von Ingrid Wehr fällt zu knapp aus, um LeserInnen, die sich noch nicht ausführlicher mit Migrationen in Lateinamerika beschäftigt haben, in das Thema einzuführen. Der stichwortartige historische Abriss bringt wenig Neues, die wenigen Daten sind nicht ausreichend, um Übersicht zu schaffen. Das ist v.a. deshalb bedauerlich, weil viele dieser Daten vorliegen und deshalb auch relativ leicht zusammengestellt hätten werden können.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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