Cover
Titel
Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany


Herausgeber
Niven, Bill
Erschienen
Basingstoke 2006: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
IX, 292 S.
Preis
£ 18.99/$ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Krijn Thijs, Opleiding Duitse Taal en Cultuur, Universiteit Leiden (Niederlande)

Seit gut fünf Jahren steht das Thema „Deutsche als Opfer“ (wieder) im Zentrum der bundesdeutschen Geschichtskultur. Längst gilt das nicht ablassende Interesse am Bombenkrieg und seinen Folgen sowie an Flucht und Vertreibung als die neueste Form des seit den frühen 1980er-Jahren anhaltenden Erinnerungsbooms in Deutschland. Das ist selbstverständlich auch der Auslandsgermanistik und den German Studies nicht verborgen geblieben, zumal die neue Opferdebatte gerade in Deutschlands Nachbarländern gelegentlich lebhafte Reaktionen auslöst. So ist es nicht verwunderlich, dass eben dort jetzt Überblicksarbeiten entstehen, die in die neue Geschichtsdebatte einführen. Ein solcher Sammelband ist das Buch „Germans as Victims“, dessen zwölf Autoren zum überwiegenden Teil an britischen Universitäten tätig sind. Sie zeigen sich sehr gut informiert und scheuen nicht das klare Urteil, was das Buch zur anregenden Lektüre macht.

Herausgeber ist der Zeithistoriker und Germanist Bill Niven (Notthingham), bekannt durch seine Einführung in die deutschen Geschichtsdebatten der 1990er-Jahre. In „Facing the Nazi Past. United Germany and the Legacy of the Third Reich“ (London 2002) argumentierte er, dass erst das Ende des Kalten Krieges und die deutsche Vereinigung eine „inklusive“ Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ermöglicht hätten. Nivens Darstellung des deutschen Erinnerns endete damals harmonisch mit dem Beschluss zum Bau des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“.

Die Erinnerungsgeschichte der Bundesrepublik hörte hier aber nicht auf, sondern verzeichnete kurz vor dem Jahr 2000 auch die ersten Gipfel einer erneuerten Opferkultur. Der nun erschienene Sammelband setzt also dort an, wo „Facing the Nazi Past“ aufhörte, und korrigiert zugleich mehr oder weniger dessen optimistische Sicht. Denn die neue Konjunktur ist nach Nivens Maßstäben nur als Rückfall zu deuten, erscheinen ihm die meisten Gründe dafür doch rundweg „problematisch“ (S. 19). Zwar will er deutsche Opfergeschichten nicht pauschal ablehnen, sondern nur dann, wenn sie Deutsche als „absolute“ Opfer inszenieren und „falsche Sentimentalität“ wecken (S. 18). Seine Alternativvorstellungen („offener und ehrlicher“, „weniger politisch“ [S. 4] und „differenzierter“ [S. 17]) werden nicht so deutlich ausgearbeitet wie die Kritik.

Einführend betont Niven erneut, dass auch die deutsche Leidensgeschichte lange vom Kalten Krieg geprägt war. Mit der unerwarteten Einheit habe sich zwar die Chance einer geringeren Politisierung des Themas ergeben, doch sei diese zunächst nicht genutzt worden. Das sei Kohls massiver „Geschichtspolitik der nationalen Versöhnung“ zuzuschreiben, denn die CDU/FDP-Regierung habe sich entschieden, das Thema des deutschen Leidens „für ihre eigenen Zwecke“ zu „repolitisieren“, nämlich um mit Hilfe eines universellen Opferbegriffs eine neue gesamtdeutsche „Nach-Wende-Identität“ zu stiften (S. 5f.). Laut Niven sah die rot-grüne Bundesregierung das Thema entspannter, wodurch es 1998 zunächst in den Hintergrund trat. Kurz darauf kam es aber mit aller Wucht wieder zurück, nunmehr auch als Herausforderung der dominanten Stellung der Holocaust-Erinnerung.

Abgesehen von der etwas überspitzten Inszenierung einer ständigen Links-Rechts-Konkurrenz, wobei „die CDU und die politische Rechte im Allgemeinen“ (S. 7) meistens die ‚bad guys’ sind, wirft diese Einordnung des aktuellen Opferdiskurses vor allem die Frage auf, warum Niven überhaupt einen so starken Primat der Politik annimmt. Die Erklärungskraft ist bei näherem Hinsehen beschränkt, beschreibt Niven doch selbst, wie in den 1990er-Jahren trotz Kohls universalistischer Opferinszenierungen in fast allen Sparten der Geschichtskultur vielmehr die Auseinandersetzung mit den Tätern in den Mittelpunkt rückte. Zwar scheint 1998 das entscheidende Jahr für den Beginn einer neuen Opferdebatte gewesen zu sein, aber der Zusammenhang mit dem Regierungswechsel bleibt eher metaphorisch: „Because German suffering was not a significant component of post-1998 memory politics, the shift to Red-Green represented, as it were, a ‚handing over’ of the theme to the public realm.“ (S. 8) Kam die gesteigerte Aufmerksamkeit nun wegen oder trotz der Regierung Schröder/Fischer zustande?

Überzeugender wirken demgegenüber der Hinweis auf Deutschlands gewachsenes demokratisches Selbstbewusstsein und vor allem auch Nivens Parallelisierung von früheren und gegenwärtigen Opfererzählungen. Martin Walsers Friedenspreisrede oder die Affäre um Martin Hohmann definierten heutige Deutsche als Opfer vermeintlicher linker oder ‚jüdischer’ Schuldkampagnen und kreierten ein Klima, in dem auch historische Leidenserzählungen mehr Aufmerksamkeit fanden. Niven beschreibt treffend die Erzählstrategien, mit denen verschiedene Autoren die Deutschen als Opfer im Zweiten Weltkrieg darstellen – darunter die rückwirkende „Entnazifizierung“, die Inszenierung von Deutschen als Opfern Hitlers, die Behauptung einer deutsch-jüdischen Leidensgemeinschaft sowie der Vergleich von alliierten und nationalsozialistischen Kriegsverbrechen.

Die übrigen Autoren haben ihre Kapitel in ähnlich kritischem Ton verfasst wie der Herausgeber; ihre Diagnosen über Hintergründe und Entwicklungslinien des neuen Leidensdiskurses sind teilweise dennoch sehr unterschiedlich. Den roten Faden des Bandes bildet die These, dass deutsche Opfererzählungen niemals ein Tabu gewesen seien. Dies wird mit so viel Einstimmigkeit vorgetragen, dass es beim Lesen wiederum einen gewissen Argwohn hervorruft. Fast fragt man sich, worin dann eigentlich die neue Qualität des heutigen Opferdiskurses liegen könnte. Ruth Wittlinger konzentriert sich insofern zu Recht auf die Geschichtskultur der alten Bundesrepublik seit etwa 1970. Ihre Frage, ob Opfererzählungen der Vertriebenen „Tabu oder Tradition“ gewesen seien, scheint allerdings von vornherein beantwortet zu sein und verdeckt die interessantere Frage, wie sich die Inhalte, Funktionen und Kontexte von Opfererzählungen möglicherweise verändert haben.

Andrew H. Beattie bestätigt in seinem Beitrag zu Kontinuität und Wandel deutscher Erinnerungspolitik zwar einerseits Nivens These eines endlich „inklusiven“ Umgangs mit der Vergangenheit im vereinigten Deutschland, relativiert aber zugleich die Zäsur von 1990, da er vor allem im konservativen Diktaturenvergleich viele Erinnerungskontinuitäten in die 1980er-Jahre hinein sieht. In einem gedankenreichen Kapitel über Trauma und kollektive Identität schwächt auch Helmut Schmitz die Bedeutung der Vereinigung ab, indem er Linien vom Historikerstreit zur Walser-Bubis-Debatte zeichnet. Die neue Empathie für deutsche Kriegserfahrungen verknüpft er mit der nun abgeschlossenen Institutionalisierung der Holocaust-Erinnerung in der Bundesrepublik. Pertti Ahonen zeigt in einem instruktiven Kapitel, wie die Ostdeutschen nach 1990 über die Konstruktion von Leidenserzählungen als „Opfer der Berliner Mauer“ zu Bundesbürgern „konvertiert“ werden sollten (S. 144).

Zu begrüßen ist es, dass der Band den künstlerischen und medialen Dimensionen des Opferdiskurses reichlich Platz einräumt – mit Kapiteln von Robert G. Moeller zu frühen westdeutschen Kriegsfilmen, von Paul Cooke zu Kinodarstellungen deutschen Leidens (bis hin zum „Wunder von Bern“) und von Stuart Taberner zur neueren deutschen Literatur. Stefan Berger flankiert diese Beiträge mit seiner Beobachtung, dass die Opferdebatte bislang niemals eine spezifische Historikerdebatte gewesen sei. Lesenswert sind schließlich auch die Kapitel zu den internationalen Beeinflussungen des Opferdiskurses – Andreas Huyssen untersucht diesbezüglich die gesellschaftliche Ablehnung von Luftangriffen auf den Irak, und Karoline von Oppen und Stefan Wolff zeigen, wie die deutschen Vertriebenenverbände vor allem durch den Kosovokrieg von den Rändern wieder ins Zentrum des Basisdiskurses gelangen konnten.

Die Entwicklung des neuen Opferdiskurses wimmelt von scheinbaren Paradoxien und unerwarteten Gleichzeitigkeiten. Die Breite der im Sammelband gebündelten Erklärungsansätze und Periodisierungen ist deshalb sehr nützlich, auch wenn es dabei stellenweise zu Widersprüchen und Zirkelschlüssen kommt. Insgesamt zeigt dies vor allem, wie wenig wir, trotz aller Forschung auf diesem Feld, von den Wirkungsmechanismen in zeitgenössischen Erinnerungskulturen wirklich wissen. Wie sind mittel- und langfristige Verschiebungen zu erklären, wie hängen Aktion und Reaktion zusammen, wie inventarisiert man den Einfluss etwa politischer Verlautbarungen oder erfolgreicher Kinofilme, und gibt es tatsächlich das oft beschworene „Erinnerungspendel“ zwischen Opfer- und Täterperspektiven? Solche Fragen werden die Forschung noch eine Weile beschäftigen, und auch die öffentliche Debatte um Deutsche als Opfer hat weiterhin Konjunktur. Der vorliegende Band bietet einen hervorragenden Einstieg.