Frauke Lätsch untersucht in ihrer Stuttgarter althistorischen Dissertation die Frage, ob und inwieweit es sich auf die Entwicklung einer Gemeinschaft auswirkt, wenn diese auf einer Insel situiert ist. Weiterhin wird der Versuch unternommen, "ein allgemeines und umfassendes Bild des antiken Lebens auf den Mittelmeerinseln zu entwerfen" sowie den inhaltlichen und methodischen Rahmen zur Beantwortung der Frage abzustecken, "ob eine bestimmte Entwicklung mit der Insellage zu erklären ist oder in gleicher Weise auch auf dem Festland hätte stattfinden können" (S. 18). Da ein Großteil der Hellenen auf Inseln lebte, sollte das Thema von zentraler Bedeutung gerade für die Geschichte der griechischen Antike sein. Allerdings ist das Phänomen der Insularität als taugliche heuristische Kategorie zuallererst nachzuweisen, was der Studie nur bedingt gelingt.
In ihrer Einleitung (S. 17-20) stellt Lätsch heraus, dass sich die Untersuchung vor allem auf Inseln konzentriert, für die die Quellenlage gut ist, womit sie hauptsächlich literarische Quellen meint, die zum Großteil aus dem griechischen Raum stammen und den Focus der Betrachtung also entsprechend einengen. Diese Einschränkung, die Inschriften, materiellen Funde und Befunde sowie Münzen außer Betracht zu lassen, ist zwar nachvollziehbar, aber dennoch eines der methodischen Hauptprobleme der Arbeit. Die literarischen Quellen werden in den Hauptteilen hinsichtlich der Leitfragen intensiv ausgewertet und in einem Anhang (S. 262-280) nochmals präsentiert, wobei Lätsch die Frage der Quellenkritik recht großzügig handhabt: So wird beispielsweise (S. 58, Anm. 66) die Überbevölkerung Griechenlands zur Zeit der Großen Kolonisation mit einem wirren Zitat aus Velleius Paterculus, einem Historiker der frühen Kaiserzeit, belegt. Zuvor müssen die Leser/innen jedoch ein Kapitel zu "Forschungen und Grundlagen" (S. 21-47) durcharbeiten, das neben einer Vorstellung der antiken Ansichten zu Inseln und deren Entstehung und Besonderheiten sowie einem Durchgang durch die interdisziplinäre Inselforschung seit Darwin drei wenig aufregende Tatsachen als grundlegend herausstellt: das wichtigste Unterscheidungsmerkmal einer Insel vom Festland sei, dass erstere vom Meer umgeben werde (S. 30); die "Intensität der Insularität" steige "mit zunehmenden Abstand von Inseln zu anderen Landmassen und mit abnehmender Größe"; Inseln selbst seien unterschiedlich (S. 27).
Unbefriedigend ist der Abschnitt "Kolonisation" (S. 49-74). Kolonisation meint hier im Übrigen entgegen dem üblichen Wortgebrauch meist die erste Besiedlung. Diese sei von der Erreichbarkeit und Größe der Insel abhängig. Um dies zu erläutern, werden einige sich den Anschein von Fachbegriffen gebende, aber weitgehend sinnfreie Vokabeln eingeführt (distance effect, rescue effect, stepping stones, area effect, carrying capacity, push- und pull- Faktoren, visibility effect, S. 51f.), die glücklicherweise späterhin nicht operationalisiert werden. Davon abgesehen lasse sich festhalten, dass die Inseln des Mittelmeers zumeist später als das Festland besiedelt wurden, in der überwiegenden Zahl der Fälle absichtlich aufgrund von Kriegen und Überbevölkerung. Im weiteren Verlauf des Kapitels kann ich den chronologischen Vorstellungen Lätschs nicht mehr folgen, da ab S. 60 nicht mehr klar wird, in welcher Zeit man sich bewegt und ob von Erstbesiedlung oder Kolonisation die Rede ist.1
Das Kapitel "Besiedlung" (S. 75-100) untersucht die Frage, ob es inselspezifische Siedlungsformen gegeben habe. Der begrenzte Raum und die Beschränktheit der Ressourcen wirkten sich auf die ökonomische Tätigkeit der Bevölkerung aus. Oft musste mit knappen Mitteln gewirtschaftet werden; unerlässlich war es, in die Tier- und Pflanzenwelt einzugreifen und die durch das Meer gesetzten Grenzen zu übertreten; sehr selten lebten Inselbewohner isoliert von der Außenwelt. Die Siedlungen befanden sich also meist an der Küste; die Hafenorte waren meist die Hauptorte2; in Zeiten der Bedrohung pflegten sich die Menschen aber in befestigte Höhensiedlungen zurückzuziehen. Wenn der auf der Insel vorhandene Raum nicht mehr ausreichte, konnte ein Teil der Bevölkerung auswandern oder eine Peraia gegründet werden.
In "Wirtschaft und Handel" (S. 101-126) wird vertieft die Bedeutsamkeit von Außenkontakten dargelegt. Durch Spezialisierung wurde der Nachteil der eingeschränkten Ressourcen ausgeglichen: Gerade in der Bronzezeit war die Technologie auf den Inseln oft höher entwickelt als auf dem Festland. Um allerdings Handel treiben zu können, waren Tauschgüter und Schiffe nötig; nur reiche Bewohner konnten Letztere bauen, und so war eine soziale Hierarchisierung der Bevölkerung die Folge; jedoch habe es durch die Vielzahl der Ruderer auch demokratische Tendenzen gegeben.3 Die Inseln haben weiterhin bis zur hellenistischen Zeit eine bedeutende wirtschaftliche und politische Rolle gespielt, bis sie sich nicht mehr gegen das neue politische Konzept des Flächenstaates behaupten konnten und Fremdherrschaften die wirtschaftliche Entwicklung beeinträchtigten, wie sie dies generell zu tun pflegten.4 Dass Inseln vor Feinden, die keine Schiffe besitzen, sicher sind, zeigt der Abschnitt "Krieg" (S. 127-164). Dennoch waren sie einer starken Seemacht vom Festland oft unterlegen, da Feinde mit Schiffen Inseln unter Beachtung einiger taktischer Besonderheiten dennoch angreifen konnten. Athen etwa zeichnete sich durch eine ostentative Geringschätzung seiner Inseluntertanen aus, was leider, ohne Ortskenntnis und Thukydides gründlich missverstehend, am Beispiel von Skione dargelegt wird (S. 140), das keineswegs eine Insel ist, noch je eine war.5
Das Kapitel "Identität" (S. 165-215) untersucht Besonderheiten in den Bereichen Politik, Religion und Kultur. Die Verfassungsformen der Inselstaaten gleichen in historischer Zeit denen auf dem Festland. Ein Entwicklungsmodell wird aufgestellt, das ein Fortschreiten von zersplitterten Siedlungsformen zum Synoikismos in einer Polis und damit zum Insel-Staat, dessen Name meist mit dem der Stadt identisch ist, von dort allerdings ab der hellenistischen Zeit zu Fremdherrschaft, Verlust der Autonomie und der identitätsstiftenden Elemente sowie politischem und kulturellem Niedergang postuliert. Ebenso könnte man jedoch auch die Entwicklung auf dem griechischen Festland grob skizzieren. Das Modell bleibt in jedem Fall zu oberflächlich; es gibt zu jedem einzelnen Punkt Gegenbeispiele zuhauf, die Lätsch unerwähnt lässt.6 Einige Besonderheiten in der kulturellen Entwicklung seien im minoischen Kreta, auf den Kykladen und auf Malta zu erkennen. Die Prosperität Kretas sei auf seine Insellage zurückzuführen, die einerseits intensive Außenkontakte, andererseits große Sicherheit mit sich brachte, wie das auf dem Festland niemals der Fall gewesen sein könne. So soll denn auch die minoische Kultur der Insellage zu verdanken sein, während die der Kykladen auch an einer Festlandsküste hätte entstehen können. Malta stellt in der Zeit der Isolation zwischen 3500 und 2500 einen eindeutigen Sonderfall dar. Mit den Fremdherrschaften über die Inseln seien eigenständige Entwicklungen abgebrochen und behindert worden.7 Religiöse Sonderwege können auf Inseln nicht festgestellt werden.
Das Kapitel "Abgeschiedenheit" (S. 217-228) stellt knapp die Funktion von Inseln als Exil-, Aussetzungs- und Reiseorte sowie als Schauplätze von Utopien vor. Es folgen die "Schlussfolgerungen" (S. 229-233); Lätsch betont hier, "dass die Begrenztheit des Raumes und die Schifffahrt das Leben auf Inseln in der Antike erheblich beeinflusst haben", sie jedoch insgesamt stets in die größeren Entwicklungen involviert gewesen seien. Literaturverzeichnis, Quellenanhang und ein ausführliches Register beschließen den Band.8
Was ist nun von Insularität als heuristischer Kategorie zu halten? Die angeführten Spezifika von Inseln sind nicht distinktiv. Auch Gegenden, die nicht ringsum von Wasser umgeben sind, können funktional als Inseln bezeichnet werden.9 Auch Festlandspoleis konnten eine Peraia haben, so wie etwa Byzantion in Bithynien. Eigenständige Kulturen gab es auf dem Festland zuhauf. Lätsch verwässert ihre Kategorisierung selbst, indem sie etwa (S. 150f.) die geografische Situation Athens und vieler anderer Festlandspoleis als mit der einer Insel vergleichbar bezeichnet oder indem sie in einem Atemzug (S. 139) die vor Milet gelegene Felsklippe Lade und den Kleinkontinent Sizilien als Beispiele für die Nutzung von Inseln als Flottenstützpunkte anbringt. Insgesamt scheint mir die Kategorie "Insel" nicht tauglich zu sein, irgendein Phänomen der Gesellschaftsentwicklung zufriedenstellend zu klären. Zu isoliert werden die Inseln in der Studie betrachtet; es fehlt der Vergleich mit den Entwicklungen auf dem Festland, der zu sämtlichen als inselspezifisch ausgegebenen Besonderheiten Parallelen erbracht hätte. Außerdem fehlt eine differenzierte Betrachtung der Inseln selbst. Mit ihrer Sammlung und Auswertung der antiken Quellen jedoch hat Lätsch eine wertvolle Vorarbeit für eine weitere Aufarbeitung des Themas oder von vielleicht nutzbringender zu untersuchenden Einzelaspekten geleistet.
Anmerkungen:
1 Es scheint sich um tatsächliche Verwirrung der Begrifflichkeiten und der Tatsachen zu handeln, ganz abgesehen von höchst fragwürdigen Annahmen wie der S. 68 geäußerten, dass Nordafrika in der Kolonisationszeit dichter besiedelt gewesen sei als Unteritalien und Sizilien, oder schlicht falschen Behauptungen wie S. 71, Thera sei ab 133 v.Chr. als zur Provinz Asia gehörig von den Römern beherrscht worden.
2 Unter einer Fremdherrschaft soll die Siedlungsform zur Zersplitterung neigen, was mir allerdings auf einem Zirkelschluss zu beruhen scheint; vgl. das Beispiel Melos S. 95 und 115.
3 S. 113 am Beispiel Athens erläutert, das jedoch keine Insel war. Gab es im bronzezeitlichen Kreta, Lätschs Großbeispiel für den Nutzen einer riesigen Flotte, demokratische Tendenzen?
4 S. 110. Das Beispiel Delos ist denkbar unpassend, war doch das unabhängige Delos wirtschaftlich lediglich lokal engagiert, während das fremdbeherrschte ungemein prosperierte. Die eindrucksvollen epigrafischen Detailstudien von Gary Reger, die ebendies belegen, fegt Lätsch mit einem banalen common sense-Argument beiseite (S. 120, Anm. 133): "Dem widerspricht jedoch, dass Delos das Ziel von Pilgern aus der damals bekannten Welt war, die sicher auch Händler nach sich gezogen haben." Ebenso wird S. 122 für das 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. gegen alle Evidenzen eine "Beherrschung des Handels durch Rom", was auch immer das bedeuten mag, postuliert.
5 Zahlreiche sachliche Fehler machen dieses Kapitel zu einer oft ärgerlichen Lektüre. Beispiele: Knidos ist keineswegs nur durch einen schmalen Damm mit dem Festland verbunden; bei den in ein und demselben Satz angeführten Inseln Leukas und Leukada handelt es sich um zwei Namensformen für eine Insel (S. 135); "eine Insel bei Syrakus" ist Ortygia, das Zentrum der Stadt (S. 137, Anm. 50).
6 Falsch sind zudem die Behauptungen, von den Kykladeninseln habe lediglich Amorgos mehrere Poleis besessen (S. 171, Anm. 48) und die euboiischen Abanten hätten ihren Namen "nach einer der dortigen Städte" erhalten (S. 180, Anm. 124). Dass Kalymna, das lediglich in archaischer Zeit sowie zwischen 300 und 190 v. Chr. einige Münzen emittiert hat, als Beispiel für Kontinuität in der Münzprägung und damit der eigenen Identität angeführt wird (S. 189), scheint mir doch etwas weithergeholt.
7 Die mykenische Zeit scheint merkwürdigerweise als Fremdherrschaft der Stadt Mykene über die restliche griechische Welt vorgestellt zu werden (S. 201).
8 Zum Literaturverzeichnis ist anzumerken, dass es quasi unbenutzbar ist. In den Fußnoten wird die "naturwissenschaftliche" Zitationsweise benutzt ("Warwick 1963" – übrigens nicht im Literaturverzeichnis zu finden; gemeint ist BMC Crete), während das Literaturverzeichnis thematisch und nach Inseln gegliedert ist. Auch als einführende Bibliografie ist es nicht zu gebrauchen, da für diesen Zweck zuviel an Literatur fehlt.
9 vgl.: Shaw, Brent D., A Peculiar Island. Maghrib and Mediterranean, in: Malkin, Irad (Hg.), Mediterranean Paradigms and Classical Antiquity, London 2005, S. 93-125.