Cover
Titel
Getrennt vereint. Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Weitere Titelangaben
Zum Umgang mit Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern nach 1990


Autor(en)
Auenmüller, Jakob
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tom Koltermann, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Jakob Auenmüller widmet sich in seinem Buch einem bisher noch unterbelichteten Aspekt der Wiedervereinigung: dem Fortleben der Musik der DDR und der neuen Bundesländer nach 1990. Der Musikwissenschaftler konzentriert sich dabei nicht primär auf Pop und Rock, sondern auf eine pragmatisch definierte "zeitgenössische Musik". Damit meint Auenmüller im weitesten Sinne klassische Musik, die nach 1945 mit unkonventionellen Kompositionstechniken entstanden ist (S. 20). Auenmüller verortet seine Studie, die auf seiner 2020 an der Universität Hamburg eingereichten Dissertation basiert, primär in der Musiksoziologie und der systematischen Musikwissenschaft. Hauptmotivation für seine Forschungen sei allerdings die "Beschäftigung mit größeren gesamtgesellschaftlichen, politischen und sozioökonomischen Herausforderungen unserer Zeit" (S. 19). Mit seiner Arbeit möchte er vor allem Grundlagen legen, auf denen spätere Forschungen aufbauen können. Ein Vorhaben, das nur sehr bedingt gelingt, wie sich im Folgenden zeigen wird.

Auenmüller gibt seinem Buch eine unkonventionelle Struktur: Er lässt sich bewusst knapp 100 Seiten Zeit (von insgesamt 275), bevor er seine Leitfragen erläutert. Im ersten Teil des Buchs möchte Auenmüller den "allgemeinen historischen, politischen und kulturellen Diskurs" zu Ostdeutschland auffächern und daraus in der Folge seine Forschungsfragen ableiten (S. 19). Dazu versucht er die theoretischen Zugriffe auf die ostdeutsche Teilgesellschaft und den musikwissenschaftlichen Forschungsstand zusammenzufassen. An dieser Stelle seien die Forschungsfragen dennoch schon mal vorweggenommen: Der Autor möchte den Stellenwert der Musik aus der DDR bzw. aus Ostdeutschland im vereinigten Deutschland bestimmen, darüber hinaus untersuchen, ob und inwieweit das musikalische Erbe der DDR in dieser Zeit eine Marginalisierung erfahren hat. Zum anderen will er eruieren, inwiefern sich Musik als "alternative Plattform" für die Verhandlung des Wiedervereinigungsprozesses eigne. Messen möchte er dies durch eine "explorative" Vorgehensweise, etwa durch die Repertoireanalyse von musikalischen Institutionen, die Analyse von Lehrplänen im Schulunterricht sowie Befragung von Lehrkräften, mit einer Rezeptionsanalyse und mit Musiker/innen-Interviews – ein sehr ambitioniertes Forschungsprogramm (S. 112).

Der oben erwähnte erste Buchabschnitt fällt für den zeitgeschichtlich informierten Leser allerdings etwas ernüchternd aus. Auenmüller zieht einige wenige Werke heran, aus denen er ausführlich zitiert und diese dann im Hinblick auf sein eigenes Forschungsthema kommentiert. Eine Textsammlung von Friedrich Schorlemmer von 1992, die die historische Situation in den frühen 1990er-Jahren illustrieren soll, nimmt großen Raum ein.1 Schorlemmers aus der Position des öffentlichen Intellektuellen verfassten und meist auf die allgemeine Kritik des Wiedervereinigungsprozess abzielenden Reflexionen werden von Auenmüller vor allem auf den Bereich der Kultur angewendet. Das ist methodisch nicht überzeugend und bleibt dabei recht kursorisch.

Die geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung von DDR und "Wendezeit" fasst er dann auf drei knappen Seiten zusammen und beruft sich dabei allein auf einen Aufsatz von Ulrich Mählert (S. 63–66).2 Einige zeitgenössische Studien, wie der Vergleich von Ostdeutschen und Migrant/innen von Naika Foroutan, werden hingegen sehr ausführlich dargestellt.3 Wie schon bei Schorlemmer präsentiert er eine Auswahl von langen Zitaten, die er dann auf ihre Eignung für den kulturellen Bereich hin kommentiert. Gleiches gilt für seinen Zugriff auf einschlägige publizistische Stimmen, etwa Jana Hensel und Petra Köpping, die die gegenwärtige Situation im Vereinigungsprozess als Kronzeuginnen belegen sollen.4 Besonders irritierend mutet seine Zusammenfassung des musikwissenschaftlichen Forschungsstands an, die teilweise zu einer bloßen Aufzählung von Literatur verkommt. Auch wenn Auenmüller die "Nachwendezeit" als "eigenständiges soziales und gesellschaftspolitisches Gebilde" betrachtet, wäre hier eine stärkere Einordnung in die Musikforschung nötig gewesen (S. 108).

Für die eigentliche empirische Analyse der Spielpläne von 36 Musikinstitutionen wählt Auenmüller den Zeitraum von 1980 bis 2000 aus, konzentriert sich dann aber vor allem auf die 2000er-Jahre. Dazu errechnet er einen "Soll-Wert", der auf Basis des Bevölkerungsanteils Ost- und Westdeutschlands an der gesamten Bundesrepublik anzeigen soll, wie der "rechtmäßige" Anteil am Repertoire idealerweise aussehen müsse. Diesen gleicht er dann mit dem Ist-Zustand ab. Der Autor merkt dabei selbst an, dass seine Herangehensweise etwas zu grob sei, eine detailliertere Auswertung aber den Rahmen der Arbeit sprengen würde (S. 117). Dass dies hauptsächlich oberflächliche Ergebnisse produziert, nimmt er dabei anscheinend in Kauf. In der gesamtdeutschen Betrachtung der Repertoires sieht Auenmüller Komponisten und Werke aus beiden Landesteilen annähernd angemessen repräsentiert. Blicke man einzeln auf Ost- und Westdeutschland, lasse sich jeweils eine Überrepräsentation der "eigenen" Musik erkennen. An dieser Stelle bricht Auenmüller den Ost-West-Dualismus leider nicht konsequent auf und ignoriert somit andere regionale Zugehörigkeiten. Negativ fallen zudem die zahlreichen Grafiken in dem Kapitel auf, die meist nur schlecht aufgelöst und häufig unzureichend beschriftet sind.

Nachdem er sich an einem knappen Überblick zum Unterricht in der DDR und den neuen Bundesländern versucht, verlegt Auenmüller seine Lehrplananalyse dann in die Gegenwart bzw. in die jüngere Vergangenheit. Hier beschränkt er sich allerdings allein auf Gymnasien in Mitteldeutschland. Da der Autor in seiner Analyse nicht genau bestimmen kann, inwieweit Musik aus der DDR im tatsächlichen Unterricht enthalten ist, greift er auf eine eigens erhobene Online-Befragung von 409 Lehrkräften zurück. Dabei arbeitet er beispielsweise heraus, dass Lehrer/innen mit ostdeutschen Hintergrund Musik aus der DDR und den Neuen Bundesländern nach eigener Einschätzung etwas mehr Unterrichtszeit einräumen, als es ihre westdeutschen Pendants tun (S. 155). Auch in diesem Abschnitt wünscht man sich, dass Auenmüller seine eigenen Befunde etwas ausführlicher diskutiert hätte und nicht nur auf erhoffte Anschlussstudien verweisen würde.

In seiner Rezeptionsstudie hat Auenmüller den Proband/innen ost- und westdeutsche Musik (zeitgenössische Musik und Pop/Rock) in verschiedensten Konstellationen vorgespielt und erläutert seine komplexe Auswertung im Text durchweg lobenswert transparent. Werke aus der DDR im Vergleich seien von den Proband/innen vor allem dann anders als westdeutsche Musik bewertet worden, wenn sie neben dem Musikstück noch Zusatzinformationen zur Herkunft erhalten hatten. Insgesamt würden die Unterschiede aber immer weiter verschwinden (S. 234). Dieses sehr spannende Ergebnis wird durch die geringe Repräsentativität des Samples jedoch etwas relativiert: Seine Proband/innen rekrutierte er ausschließlich aus relativ jungen Kulturschaffenden und Studierenden der Musikwissenschaften

Das abschließende Interview-Kapitel basiert auf fünf Gesprächen des Autors mit Musiker/innen. Eine äußerst dünne Basis, wie der Autor selbst gesteht (S. 241). Auenmüller hat sich gegen einen festen Fragenkatalog entschieden und für die Führung von "problemzentrierten Interviews". Leider erläutert er sein Vorgehen dabei nicht ausreichend. Eine Grundlage für die von ihm gewünschten künftigen Forschungen stellt dieses Kapitel somit keineswegs da. Regelrecht ärgerlich ist dann aber die Auswertung des Autors, denn er versucht diese knappe Grundlage nach Themenfeldern zu sortieren. Er identifiziert etwa die "soziale Absicherung von Akteuren des Musiklebens" als häufiges Gesprächsthema und gibt dazu eine Prozentzahl (hier 6,72 Prozent) sowie ein kurzes Zitat aus einem seiner anonymen Interviews an (S. 244). Hier wäre ein deutlich größeres Sample oder ein stärker qualitativer Fokus notwendig gewesen. Den im Buchtitel versprochenen "Stimmen der Nachwendezeit" hätte der Rezensent beispielsweise gerne länger zugehört. Auenmüller reflektiert und entschuldigt die eigenen Leerstellen so häufig, dass dies wie eine Immunisierungsstrategie wirkt. Meist führt er einen zu großen Umfang an, den er nicht leisten könne oder der nicht angebracht sei (beispielsweise S. 132). Der Leser fragt sich unweigerlich, wenn er sich etwa für den wackligen Zugang zu seiner Interviewstudie entschuldigt, ob es nicht ratsam gewesen wäre, dieses Kapitel zu streichen und die anderen dafür ausführlicher zu gestalten (S. 241).

In seinem Fazit konstatiert Jakob Auenmüller insgesamt eine "wachsende Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschland" bei den Protagonisten seines Buchs (S. 264). Dieses gesellschaftlich wohl wünschenswerte Ergebnis hätte durch eine besser gelungene Aufspannung des Problemhorizonts im ersten Teil und durch eine konsequente Verfolgung seiner Einzelstudien deutlich an Gewicht gewinnen können. Abschließend lässt sich festhalten, dass sich Auenmüllers Buch auf neues Terrain vorwagt und vereinzelt auch überraschende Ergebnisse bietet. Für den speziell am musikalischen Vereinigungsprozess interessierten Leser kann ein Blick in Auenmüllers Einzelstudien daher durchaus lohnend sein. Die zeithistorische Kontextualisierung bzw. Aufarbeitung der musikalischen Wiedervereinigung leistet das Buch aber nicht. Zudem verbleibt die zeitgenössische Musik selbst merkwürdig abwesend in dem Buch.

Anmerkungen:
1 Friedrich Schorlemmer, Versöhnung in der Wahrheit. Nachschläge und Vorschläge eines Ostdeutschen, München 1992.
2 Ulrich Mählert, Totgesagte leben länger. Oder: Konjunkturen der DDR-Forschung vor und nach 1989. Eine Einführung, in: ders. (Hrsg.), Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema, Berlin 2016, S. 9–22.
3 Naika Foroutan u.a. (Hrsg.), Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung, in: https://www.dezim-institut.de/fileadmin/user_upload/Projekte/Ost-Migrantische_Analogien/OstMig_Booklet_A4.pdf (08.12.2020).
4 Wolfgang Engler / Jana Hensel, Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein, Berlin 2018; Petra Köpping, Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten, Berlin 2018.

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