Seit 2007 sind in Nicaragua die Sandinistische Befreiungsfront (Frente Sandinista de Liberación Nacional, FSLN) und Präsident Daniel Ortega wieder an der Macht. Lokal wie international haben sie einen Diskurs von Nicaraguas Einzigartigkeit geschaffen, der darauf abzielt, die FSLN und Ortega historisch und innenpolitisch zu legitimieren. In dem von Hilary Francis herausgegebenen Sammelband hinterfragen internationale Expert/innen in insgesamt acht Beiträgen, zuzüglich einer Einleitung und einer abschließenden Conclusio, diesen Diskurs. Anhand der Analyse von Einzelaspekten der Revolution (1979–1990) und deren Aus- und Nachwirkungen wird eine Linie bis heute gezogen, denn über 40 Jahre nach der Revolution stellt sich die Frage, was von ihr geblieben ist.1
Bereits in der Einleitung fällt Francis ein klares Urteil: Die Revolution schlug letztlich fehl, da die FSLN nicht mit Diversität umzugehen vermochte. „Whether it was confronted with young gay and lesbian revolutionaries or poor peasants who wanted their own land, the first FSLN government repeatedly imposed its own ideas of what was required, rather than engaging with the cacophony of voices, histories and ideas that it inherited in 1979.” (S. 12) Auch Justin Wolfe kommt in seiner Conclusio zu einem ähnlichen Ergebnis. Die FSLN schaffte es nicht, die vielfältigen sozialen, kulturellen, ethnischen und politischen Lebensrealitäten zu erfassen, sondern wollte alles unter dem Hut des Sandinismo vereint sehen. Selbstermächtigung und die Organisationsfähigkeit auf kommunaler Ebene sind jedoch für alle Autor/innen die Vermächtnisse der Revolution, von denen bis heute progressive Impulse ausgehen.
Fünf der insgesamt acht Beiträge widmen sich dem ländlichen Nicaragua (Fernanda Soto, Christiane Berth, José Luis Rocha, David Cooper und Francis). Hierbei stechen die Beiträge von Rocha und Berth heraus, die sich der Agrarreform in den 1980er-Jahren widmen. Berth behandelt das Problem der Ernährungssouveränität im Kontext der Reform und spricht von einem „dependency dilemma“, weil die Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten sogar verstärkten. Rocha liefert eine detailreiche Zusammenfassung der unterschiedlichen Akteur/innen und Institutionen innerhalb dieses komplexen Prozesses. Ihm gelingt eine übersichtliche und präzise Erklärung der Reform, sodass sein Beitrag vor allem für das nicht fachspezifische Publikum von Interesse ist. Beide Autor/innen sehen die Organisationsstrukturen sowie die Politisierung der campesinos/as durch die Reform als wichtigste Hinterlassenschaften.
Die Beiträge von Soto, Cooper und Francis widmen sich den unterschiedlichen Lebensrealitäten in ländlichen Gebieten Nicaraguas sowie der Implementierung von Projekten der FSLN aus historischer und aktueller Perspektive. Alle bauen auf ethnographischer Feldforschung auf, wobei Soto und Francis sandinistische Gemeinden ehemaligen Contra-Hochburgen gegenüberstellen. Der Beitrag von Soto problematisiert die Geschichte der Revolution an der agricultural frontier im Hinblick auf die Landpolitik der FSLN (Zwangsverstaatlichung, Auflösung von kommunalem Landbesitz). Sie plädiert dafür, der Pluralität der Stimmen und Erinnerungen nachzugehen, um die Widersprüche der damaligen Politiken sowie deren immer noch stattfindende Heroisierung im Kontext der Landfrage aufzudecken.
Die Beiträge von Cooper und Francis betrachten die Diskussions- und Partizipationskultur als wichtige Hinterlassenschaften der Revolution. Francis meint, dass sich vor allem die Bürger/innenbeteiligung als langlebige Praxis durchsetzen konnte, und sieht darin einen positiven Beitrag zur Herausbildung lokaler Demokratisierungsmechanismen. Allerdings ist heute erneut eine Zunahme von Interventionen der Zentralregierung zu bemerken, was das soziale und politische Gleichgewicht in den Gemeinden aus der Balance bringt. So ist hier vor allem auf der lokalen Ebene die problematische Politik der FSLN erkennbar. Coopers ethnographische Studie fragt danach, wie die Bewohner/innen von Gualiqueme den sozialen Wandel durch die Revolution wahrnehmen. Diese Mikrostudie zeigt, dass Gemeinden die FSLN nicht primär aus ideologischen Gründen unterstützen, sondern weil die FSLN ihnen materielle Sicherheit mittels Sozialprogrammen geben kann.
Francis und Cooper versuchen ebenso wie Robert Sierakowski und Johannes Wilm der Frage nachzugehen, warum die Nicaraguaner/innen die FSLN damals und heute unterstützen. Für die 1980er-Jahre scheint dies zum größten Teil bereits geklärt, für die Jahre seit 2007 gilt dies nicht. Einen guten Beitrag dazu liefert Sierakowski, der sich mit der Polizei Nicaraguas auseinandersetzt. Er beschreibt detailreich, wie sich diese nach dem Sturz Somozas neu gründete und auf den Leitlinien Solidarität, Humanismus und Ehrlichkeit aufbaute. Problematisch erscheint ihm die Einflussnahme durch die ehemals kommunistischen Länder sowie Kubas beim Aufbau des Sicherheitsapparates, vor allem was die Überwachungsmechanismen durch „Verteidigungskomitees“ (Comité de Defensa Sandinista) in den Stadtvierteln betraf. Dieses zwiespältige Erbe konnte zwar in den 1990er-Jahren Erfolge verbuchen, seit der Rückkehr von Ortega an die Macht ist jedoch der Repressionsapparat größer geworden. Sierakowskis Erklärungen sind solide, wenn es um die Motive der derzeitigen Führung des Sicherheitsapparates geht, die Ortega und die FSLN schützt. Für die einfachen Polizeibeamt/innen bleibt dies fraglich, auch wenn angenommen werden kann, dass das System Ortega mit einer Logik des divide et impera auf viele verlockend wirkt und die Verweigerung des Gehorsams mit dem Verlust des Arbeitsplatzes enden kann.
Für Wilm fußt die Unterstützung der FSLN und Ortegas auch auf einem wirkmächtigen Teil der nicaraguanischen Identitätskonstruktion, da sie mit der erfolgreichen Revolution lokal und international etwas Einzigartiges erreicht haben. Vor allem der Begriff des protagonismo, der das autonome Agieren zwischen den Blöcken im Kalten Krieg, aber auch innerhalb der zentralamerikanischen Region betont, spielt hier eine wichtige Rolle. Tatsächlich, so Wilms, stehen hinter dieser bis heute akzeptierten Eigenzuschreibung aber die langlebigen, im Kalten Krieg etablierten Allianzen vor allem mit Russland.
Den Abschluss bildet ein von Florence E. Babb verfasster, gut lesbarer Überblick zur LGBTQ-Bewegung der letzten Jahrzehnte. Babb würdigt die Leistung der Revolution, in den 1980er-Jahren Themen wie Feminismus, Homosexualität oder Gender in den öffentlichen Diskurs eingebracht und längerfristig das Bewusstsein dafür in der Bevölkerung geschaffen zu haben. Besonders das Zusammenspiel zwischen lokalen und regionalen Akteur/innen auf zentralamerikanischer Ebene seit den 2000er-Jahren ist für sie ein Indiz für die spezielle Stellung des sozialen Aktivismus in Nicaragua.
Der Sammelband kommt zur richtigen Zeit, denn seit den Protesten im April 2018 sind viele gesellschaftliche Brüche zu Tage gekommen, die lange unter der Oberfläche lagen.2 Francis betont in der Einleitung, dass die Proteste im April 2018 eine Art point of no return für das Regime Ortega bedeuten, wobei – so ihre Annahme – zukünftig von einem Davor und Danach zu sprechen sein wird. Erfreulicherweise ist der Sammelband im Open Access erhältlich, was – wenn man die immer noch knappen Ressourcen in Zentralamerika kennt – ein wichtiges Signal vor allem für die junge Generation darstellt, die auf den Straßen nicht nur für eine demokratische Zukunft des Landes eintritt, sondern auch eine historische Aufarbeitung der Revolution einfordert.
Anmerkungen:
1 Siehe auch: Salvador Martí i Puig / David Close (Hrsg.), Nicaragua y el FSLN, 1979–2009. ¿Qué queda de la revolución?, Barcelona 2009. Das letzte Kapitel (S. 419–435) stellt auch die Frage nach der „Einzigartigkeit“ Nicaraguas.
2 Eine aktuelle Publikation von nicaraguanischen Wissenschaftler/innen widmet sich ausschließlich den Ereignissen und Entwicklungen der Proteste im April 2018. Manuel Ortega Hegg u.a. (Hrsg.), La insurrección cívica de abril. Nicaragua 2018, Managua 2020.