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Titel
Die Ostkontakte der westdeutschen Gewerkschaften. Entspannungspolitik zwischen Zivilgesellschaft und internationaler Politik 1969 bis 1989


Autor(en)
Müller, Stefan
Reihe
Politik- und Gesellschaftsgeschichte 109
Erschienen
Anzahl Seiten
429 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Rau, Institut für Zeitgeschichte München – Berlin, Forschungsabteilung Berlin

Die globalen Krisen der letzten Jahre, die hierzulande vielfach bedrohliche Analogien zur Weimarer Republik wachrufen, haben die jüngste Zeitgeschichtsforschung nachhaltig geprägt. So erfahren auch Akteure der Arbeitswelt nach vielen Jahren der Abwesenheit wieder stärkere Aufmerksamkeit. Dabei hat sich besonders die Gewerkschaftshistoriographie aus der Enge ihrer früheren Selbstbezogenheit gelöst und sich in mehrfacher Hinsicht anschlussfähig an eine Problemgeschichte der Gegenwart erwiesen.1

Als außenpolitische Akteure aber sind die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer/innen bislang nicht untersucht worden. Dieses Desiderat greift Stefan Müller in seiner Habilitationsschrift über die Ostkontakte der westdeutschen Gewerkschaften von 1969 bis 1989 auf. In fünf chronologisch und thematisch angelegten Kapiteln verfolgt er die intensive Unterstützung der Entspannungspolitik der sozial-liberalen (1969–1982) und konservativ-liberalen Bundesregierungen (1982–1989) durch die westdeutschen Gewerkschaften in den letzten 20 Jahren vor dem Mauerfall. Dabei steht der Dachverband Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) im Zentrum der Untersuchung. Wie Müller einleitend klarstellt, bezieht sich seine Studie ausschließlich auf die „westdeutsche Perspektive“ (S. 21), was allerdings in einer gewissen Spannung zur ebenfalls adressierten Analysekategorie der gewerkschaftlichen Transnationalität steht. Aber dazu später mehr.

Zunächst ordnet Müller die gewerkschaftlichen Ostkontakte ab 1969 in die langen Linien der gewerkschaftlichen und sozialdemokratischen Außenpolitik seit dem Ende des Ersten Weltkrieges ein und zeigt dabei auch Konfliktlinien zwischen SPD und Gewerkschaften auf. Dazu zählte nicht zuletzt der von Adenauer eingeschlagene Kurs der Westbindung, den die Gewerkschaften angesichts ihres Machtzuwachses auf nationaler Ebene und ihrer scharfen Abgrenzung vom kommunistisch dominierten Weltgewerkschaftsbund nach 1945 mittrugen. Noch bevor die Gewerkschaften jedoch im Mai 1969 offiziell beschlossen, ihre Kontakte nach Osteuropa auszubauen, überquerten bereits einzelne Gewerkschafter/innen wie der charismatische Vorsitzende der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) Heinz Kluncker den Eisernen Vorhang und trafen sich mit Vertreter/innen osteuropäischer Staatsgewerkschaften (mit Ausnahme der DDR). Die Zeitspanne von 1964 bis 1966 markiert für Müller dabei einen „tief greifende[n] Veränderungsprozess in der gewerkschaftlichen Kontaktpolitik“ (S. 70), der vom Gedanken der Völkerverständigung geprägt gewesen sei.

Anschließend rekonstruiert Müller die Verhandlungsphase der Neuen Ostpolitik der seit 1969 regierenden sozial-liberalen Koalition aus SPD und FDP bis zum Abschluss des Grundlagenvertrags zwischen beiden deutschen Staaten 1972. Dabei befanden sich die Gewerkschaftsvorstände in der Situation, einerseits die Neue Ostpolitik stützen zu wollen, während sie andererseits das wachsende Interesse an Kontakten nach Osteuropa sowie in die DDR in den eigenen Mitgliederreihen mit Misstrauen beobachteten. Die Ostkontakte wurden daher zur Vorstandssache erklärt, und besonders der Bundesvorstand des DGB agierte bald als parastaatlicher Akteur der westdeutschen Außenpolitik. Politische Konfliktpunkte wie die Berlin-Frage oder die Grenze zu Polen wurden im sich intensivierenden Delegationsaustausch mit osteuropäischen Gewerkschaften konsequent ausgeklammert, um die Neue Ostpolitik nicht zu gefährden. Dafür verdichteten sich – wie Müller erstmals eindrücklich belegt – die Beziehungen zwischen dem DGB und dem Auswärtigen Amt, dessen Kulturabteilung nun sogar die Auslandsarbeit des Gewerkschaftsbundes förderte. Der DGB leistete wichtige Vorfeldarbeit für diplomatische Kontakte und entwickelte sich damit zu einer wesentlichen Stütze der Neuen Ostpolitik.

In den drei folgenden Kapiteln geht Müller der Entwicklung der Ost- und Deutschlandpolitik des DGB und seiner Gewerkschaften in den 1970er- und 1980er-Jahren nach. Dabei macht er drei grundlegende Entwicklungen aus.

Erstens verschob sich das Gewicht der Delegationsreisen mit Beginn der 1980er-Jahre von der Sowjetunion auf die DDR. Waren die Beziehungen zum Freien Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) nach 1969 anfangs noch vom „konfliktiven Erbe der 1950er und 1960er Jahre“ (S. 385) geprägt, wandelte sich dies im Zuge der wachsenden Bereitschaft, die DDR als eigenen Staat zu akzeptieren. Man fand in den 1980er-Jahren zunehmend gemeinsame Themen, und die Lehrergewerkschaften Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und Gewerkschaft Unterricht und Erziehung (GUE) standen sogar kurz vor der Verabschiedung eines gemeinsamen friedenspolitischen Papiers, das weit über gemeinsame offizielle Stellungnahmen von SPD und SED hinausging. Dennoch blieben die deutsch-deutschen Gewerkschaftskontakte durch die besondere Bedeutung symbolpolitischer Fragen krisenanfällig. Die Abnahme der Kontakte in die Sowjetunion erklärt Müller dagegen mit der „stabilen Reformpersistenz“ (S. 385) der sowjetischen Verbände, während sich der DGB der dortigen Staatsspitze zuwandte. Osteuropäische „Blockstaaten“ wie Bulgarien, Rumänen und die ČSSR spielten ferner im gesamten Zeitraum kaum eine Rolle.

Zweitens stand die Kontaktpolitik der westdeutschen Gewerkschaften stets im engen Wechselverhältnis mit der Entspannungspolitik der Bundesregierungen und entwickelte kein Eigenleben. Die Gewerkschaften achteten peinlich genau darauf, sich nicht in die inneren Angelegenheiten der „Ostblock-Staaten“ einzumischen. Dies wurde jedoch mit dem selbstauferlegten Verzicht auf Unterstützung osteuropäischer Dissidenten und öffentlicher Zurückhaltung beim Thema Menschenrechtsverletzungen erkauft – ein Punkt, den Müller durchaus etwas stärker hätte betonen können.

Eine kurzzeitige Ausnahme von der Regel stellten, drittens, Polen und die 1980 entstandene Reform-Gewerkschaft Solidarność dar. Nicht zuletzt auf Druck der Gewerkschaftsbasis legte der DGB zu Jahresbeginn 1981 (im Gegensatz zur Bundesregierung) seine außenpolitische Zurückhaltung gegenüber der Solidarność ab und unterstützte die polnische Gewerkschaft auch materiell. Mit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 aber schwenkte der DGB wieder auf Nichteinmischung um und reduzierte seine Unterstützung deutlich.

Der Blick auf die westdeutschen Gewerkschaften zeigt, wie eng staatliche und nicht-staatliche Akteure im Zeitalter der Détente miteinander verflochten waren. Damit greift Müllers Studie auch neuere Entwicklungen in der internationalen Geschichte auf, die sich nicht mehr exklusiv auf Beziehungen zwischen Staaten konzentriert, sondern auch andere Akteure einbezieht. Allerdings hätte die Arbeit deutlich an Gewicht gewonnen, wenn sich Müller intensiver mit jüngeren Forschungsdiskussionen zum Kalten Krieg und zur Détente auseinandergesetzt hätte. So wird die binäre Logik des Ost-West-Konflikts schon seit längerer Zeit durch die Betrachtung vermeintlich peripherer Regionalkonflikte und deren Wechselverhältnis zum Ost-West-Konflikt aufgebrochen. Vor diesem Hintergrund vermag der ausschließliche Blick auf die westdeutsche Ost- und Deutschlandpolitik keine neuen Erkenntnisse über spezifische gewerkschaftsgeschichtliche Fragen hinaus zu liefern. In diesem Zusammenhang ist es auch bedauerlich, dass die in der Einleitung angekündigte transnationale Perspektive (siehe S. 26) nur in Ansätzen fruchtbar gemacht wird.

Dabei muss die Beschränkung auf deutsche Quellen, auf die sich Müller ausschließlich stützt, nicht zwangsläufig ein Manko sein. So hätte eine Einordnung der Ostkontakte in die Weltbeziehungen der westdeutschen Gewerkschaften helfen können, deren Stellenwert sowie dahinter liegende Motive genauer zu vermessen. Welche Rolle spielten etwa außenwirtschaftliche Fragen vor dem Hintergrund der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrisen in Westdeutschland seit den 1970er-Jahren? Und wie ist es zu erklären, dass die Gewerkschaften sich gegenüber anderen Diktaturen außerhalb des „Ostblocks“ keineswegs zum Erfüllungsgehilfen der außenpolitischen Zurückhaltung der Bundesrepublik machten? Gern mehr erfahren hätte man zudem über die Konstruktion von Nähe und Distanz im direkten Austausch, aber auch über mögliche Eigendynamiken regionaler und Fachdelegationen (z.B. Frauengruppen), auf die der Autor nur am Rande eingeht. Genderperspektiven hätten hier durchaus gewinnbringend integriert werden können. Und schließlich vermisst man vor dem Hintergrund aktueller Debatten über den Zäsurcharakter von 1989/90 den Blick über den Zusammenbruch der DDR und des „Ostblocks“ hinaus. Dabei existierte etwa die deutsch-deutsche Arbeitsgruppe des DGB, welche die Kontakte zum FDGB organisierte, nach dem Mauerfall weiter und koordinierte federführend die von Widersprüchen geprägte Zusammenarbeit mit den nunmehr autonomen ostdeutschen Gewerkschaften.

Ein letztes, aber leider lästiges Manko betrifft die sprachliche Gestaltung, die an vielen Stellen etwas trocken gerät. Das ist zum einen dem Charakter der Studie als Qualifikationsschrift zuzuschreiben, aber zum anderen auch der formelhaften Quellensprache, die sich der Autor leider allzu oft zu eigen macht. Auch dies wird dem Buch wohl über den Kreis von Gewerkschaftshistoriker/innen hinaus Leser/innen kosten.

Alles in allem liegt mit Müllers Arbeit eine solide, material- und detailreiche Studie vor, die eine bislang unerforschte Facette gewerkschaftlichen Handelns in der Zeitgeschichte nach 1945 beleuchtet, jedoch noch einigen Raum für weiterführende Forschungen und Perspektiven lässt.

Anmerkung:
1 Vor allem seit der Finanzkrise von 2007/08 kommt den Gewerkschaften wieder stärkere Aufmerksamkeit in der Zeitgeschichte zu. Vgl. den Forschungsüberblick von Sebastian Voigt, Kapital und Arbeit in Bewegung. Zu einigen Neuerscheinungen über die Geschichte des Kapitalismus, der Arbeit(-swelt), der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften, in: Neue Politische Literatur 65 (2020), Heft 1, S. 45–76.

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