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Titel
Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik


Autor(en)
Harms, Antje
Reihe
Geschichte und Geschlechter 76
Erschienen
Frankfurt a.M. 2020: Campus Verlag
Anzahl Seiten
580 S.
Preis
€ 49,00 (D)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Raasch, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Als eminenter Ausfluss einer wegweisenden Übergangsepoche ist die in den 1890er-Jahren entstandene (bürgerliche) Jugendbewegung vielfach beforscht worden. Dass sie freilich vor allem in ihrer mittleren Phase zwischen 1913 und 1923 ein breites weltanschauliches Spektrum aufwies, linksradikale und deutschvölkische Positionen vereinte und diese politischen Flügel einige Wirkungsmacht entfalten konnten, hat bisher wenig Beachtung gefunden. Zugleich mangelt es an lebensweltlichen Studien, welche die allgegenwärtige Veränderungsdynamik am Beginn des 20. Jahrhunderts akteur:innenzentriert ausleuchten, mit den Auswirkungen von Erstem Weltkrieg und Revolution korrelieren und dabei ausdrücklich nach generationellen Erfahrungen fragen. Insbesondere die Zusammenhänge zwischen jugendlicher Politisierung und familialen, schulischen, klassenspezifischen und nicht zuletzt geschlechtlichen Prägungen liegen weithin im Dunkeln. An dieser Stelle setzt Antje Harms mit ihrer in Freiburg entstandenen Dissertation an. Sie untersucht „linke“ und „rechte“ Kräfte der Jugendbewegung systematisch im Zusammenhang, kennzeichnet die jeweiligen politischen Ideenfelder und Organisationsstrukturen und unterzieht kollektivbiografisch sowohl Sozialisationsprozesse als auch Kriegs- und Nachkriegserfahrungen von 100 Akteur:innen der Jugendbewegung (49 „Rechte“ und 51 „Linke“, darunter dem Namen nach 28 Frauen) einer eingehenden Betrachtung. Ihre Quellengrundlage ist entsprechend breit gefächert und besteht u. a. aus einschlägigen Periodika sowie Briefen, Tagebüchern und Erinnerungen.

Das Bemühen, eine politische Sozialgeschichte der Jugendbewegung in kulturwissenschaftlicher Erweiterung zu schreiben, zeitigt interessante Einsichten. So wird im ersten Teil des Buches den politischen Lagern Kontur verliehen: Die Flügel formierten sich im Zuge der Gründung der „Freideutschen Jugend“ – die selbsternannte „Linke“ aus der Jugendkulturbewegung, die „Rechte“ aus mehreren völkischen Zusammenschlüssen, nicht zuletzt dem „Wandervogel“. Ihre Periodika und Gruppen waren zahlenmäßig klein, die Arbeit der Dachorganisation prägten sie jedoch offenbar nachhaltig – personell wie inhaltlich. Dies erscheint umso bemerkenswerter, als die Jugendkulturbewegung bereits 1914 aus der „Freideutschen Jugend“ ausgeschlossen wurde und ihre organisatorische Reintegration erst ab 1917 gelang. Der Auflösung der Dachorganisation im Jahre 1923 kam daher einschneidende Bedeutung zu, weil sich die völkischen Kräfte fortan der stärker hierarchisch und paramilitärisch geprägten bündischen Jugend zuwandten und die vormals „linken“ Jugendbewegten ihr Engagement auf kommunistische Parteien bzw. sozialistische Bildungs- und Siedlungsprojekte konzentrierten. Der zweite Teil des Buches erhellt die Eigentümlichkeiten einer politischen Sozialisation im wilhelminischen Kaiserreich – einer „janusköpfigen Zeitheimat“ (Barbara Stambolis), die im Zeichen der Tradition wie des Aufbruchs stand. So lassen sich die von den Jugendbewegten erlebten Erziehungspraktiken kaum pauschalisieren. Sowohl Eltern-Kind-Beziehungen wie auch Schulverhältnisse konnten bisweilen von Autorität und Härte, bisweilen von Fürsorge und Zuwendung getragen sein. Manche Elternhäuser waren (evangelisch) kirchentreu, manche säkular. Etliche standen dem politischen Konservativismus nahe, nicht wenige aber auch fortschrittlichen Reformbewegungen. Bis auf die Zentrumspartei waren alle politischen Lager vertreten und die Kinder übernahmen größtenteils die parteipolitischen Präferenzen ihrer Eltern. Gleichwohl sind Konflikte und Entfremdungstendenzen evident, welche die untersuchten Jugendbewegten, die fast alle aus privilegierten Verhältnissen stammten, bevorzugt mit habituellen Differenzen, also als generationellen Gegensatz zwischen „Alt“ und „Jung“ deuteten. Es ging ihnen folglich einerseits um eine in Sprache, Kleidung, Ernährung, Freizeitverhalten oder Sexualmoral distinktive Haltung von „Jugendlichkeit“, die konsequenterweise nicht nur Jugendliche, sondern selbst verheiratete, berufstätige Erwachsene einnehmen konnten. Andererseits resultierten aus der Erhebung von „Jugend“ zum generationellen Kampfbegriff konkrete gesellschaftspolitische Forderungen, etwa in Sachen Wirtschaftsorganisation, (Hoch-)Schulreform oder Stellung der Frau, die teilweise auf großen Widerstand stießen und gerade deshalb für die Bewegung identitätsstiftende Bedeutung besaßen. Die untersuchten Personen waren demnach in besonderer Weise politisiert, wobei die Sozialisation durch Elternhaus und Jugendbewegung vor allem nach 1914 in einem Wechselverhältnis mit dem Einfluss von politischen Mentor:innen, Gruppen und Parteien stand. Der dritte Teil des Buches nimmt schließlich Kriegs- und Revolutionserfahrungen von Jugendbewegten in Augenschein. Er zeigt die besondere Prägekraft des Volksgemeinschaftsgedankens, die entsprechend weitgehende Begeisterung über seine vermeintliche Realisierung im August 1914 und die rasche Desillusionierung der jugendbewegten Soldaten. Zugleich werden die Unterschiede herausgearbeitet: „Rechte“ Jugendbewegte reagierten eher mit Durchhalteparolen und flüchteten sich in Heldennarrative, „linke“ sprachen offener über ihre Belastungen und Sorgen. Im Ganzen beschleunigte der Erste Weltkrieg Politisierungsprozesse: Während allgemein die Organisationsarbeit in der „Heimat“ gemacht wurde, insbesondere von zusehends selbstbewussteren Frauen, entwickelten sich die Vertreter:innen der jugendbewegten „Linken“ in wachsendem Maße zu Kriegsgegner:innen. Anders als viele „Rechte“, die bis zuletzt an eine Überwindung der „Alten Welt“ durch den Krieg glaubten, diente ihnen dabei gerade die Gefährdung der Jugend als ein zentrales Motiv. Die Revolution erweiterte die politischen Handlungsräume dann enorm – vor allem, aber nicht nur bei den „Linken“. So begannen die meisten „Rechten“ erst nach 1918 außerhalb der Jugendbewegung politisch aktiv zu werden. Die Hoffnungen auf grundlegende gesellschaftliche Reformen, etwa bei der Sozialisierung der Großindustrie oder der Schulpolitik, zerstoben jedoch recht schnell.

Die Arbeit gewinnt sowohl durch das konsequente Aufzeigen von Forschungskontexten als auch ihre auf akribischer Quellenarbeit fußende Anschaulichkeit. Insbesondere die unterschiedlichen Faktoren politischer Sozialisation sind eindrücklich aus den aufwendig recherchierten Selbstzeugnissen destilliert und geschickt mit der einschlägigen gesellschaftshistorischen Literatur verwoben. Gerade durch ihre Sensibilität für „die feinen Unterschiede“ macht Antje Harms die Substanz der Flügelbildung innerhalb der Jugendbewegung sichtbar. Zugleich wird schön deutlich, wie sich in ihr sowohl die Pluralisierung von Lebensperspektiven als auch die mannigfaltigen Bindungen zwischen den unterschiedlichen Lagern spiegeln. So einten die Emanzipationshoffnungen „Linke“ wie „Rechte“, während beispielsweise alternative Männlichkeitsmodelle vornehmlich im „linken“ Flügel, Keuschheitspostulate bei den „Rechten“ verbreitet waren. Antisemitismus fungierte als ideologisches Schmiermittel des „rechten“ Lagers, war den „Linken“ aber nicht fremd und wichtige Persönlichkeiten des „rechten Flügels“ waren nach 1918 in „linken“ Parteiorganisationen aktiv. So gewinnbringend sich jedoch der theoretisch-methodische Ansatz der Arbeit ausnimmt, das Bemühen um Begriffsbildung hätte noch ausgeprägter sein können. Zentrale Termini wie „Feminismus“, „Bürgertum“, „Liberalismus“, „völkisch“ bzw. „Volksgemeinschaft“ und nicht zuletzt „Nationalismus“ werden kaum reflektiert. Dies wirkt sich insbesondere im ersten Teil des Buches negativ aus, so dass dieser zwar eine verdienstvolle Übersicht über die Gruppen und Institutionen der politischen Flügel innerhalb der Jugendbewegung bietet, deren ideengeschichtliche Kontexte jedoch oberflächlich bleiben, mitunter hinter Schlagwörtern verschwinden. Auch die (kritische) Vorstellung der Quellen gerät zu kurz (S. 40 f. bzw. S. 192-195), zumal im Buch lediglich sporadisch zwischen dem Erkenntniswert von zeitgenössischen und Ex-Post-Betrachtungen differenziert wird und wiederholt private und publizistische Äußerungen in eins gesetzt werden. Für größere Irritationen sorgt die Gliederung der Arbeit, die zu etlichen Wiederholungen und Unstimmigkeiten führt. So thematisiert der erste Buchteil bereits die Jahre nach 1923. Schon hier werden – wie im dritten Teil – einschlägige politische Verbindungen und Verhaltensweisen in Krieg- und Revolutionszeit ins Blickfeld genommen. Auch die gesellschaftspolitischen Forderungen der Jugendbewegung tauchen prominent in Teil 1 und Teil 3 auf. In Teil 2 geht es immer wieder auch um Kriegserfahrungen und es bleibt unverständlich, warum die Prägungen durch das Elternhaus am Beginn und dann wieder am Ende Gegenstand der Betrachtung sind. Schließlich hätte Antje Harms die Erkenntnisgrenzen ihrer Arbeit stärker markieren und/oder reflektieren müssen. Dies betrifft zunächst den nicht immer nachvollziehbaren Verzicht auf sprachliche Distanzierungen, z. B. durch abschwächende Modalwörter oder indirekte Rede – ob bei der Rekonstruktion subjektiver Erfahrungen (z. B. S. 247 f.) oder bei der Bildung von nach eigener Aussage (S. 256) umstrittenen Thesen zu Generationskonflikten (S. 263). Nicht zuletzt hätte die Exemplarität der Untersuchungsgruppe noch deutlicher hinterfragt werden müssen. Denn immerhin besitzt diese in ihren ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitalien elitären und kaum repräsentativen Charakter für die „Jugend“ ihrer Zeit. Antje Harms kommt aber z. B. zu generalisierenden Aussagen über „proletarische“ Jugendliche, die aufgrund des Quellensamples kaum belastbar sind (S. 396). Im konzisen, aber verhältnismäßig knappen „Fazit“ wird die Problematik der Untersuchungsgruppe gar nicht mehr aufgegriffen.

Eine zentrale These der Arbeit wird künftige Forschungen vermutlich stark beeinflussen. So relativiert Antje Harms die Bedeutung des Ersten Weltkrieges. Nachvollziehbar macht sie deutlich, dass die Stilisierung des Fronterlebnisses zum entscheidenden Generationsmerkmal nur bedingt trägt. Denn auf der einen Seite zeugt dies von einer androzentrischen Sichtverengung, auf der anderen Seite ist in Rechnung zu stellen, dass fast ein Drittel der „rechten“ und knapp zwei Drittel der „linken“ jugendbewegten Männer nicht im Kampfeinsatz standen. Ob allerdings der Zäsurcharakter des Krieges tatsächlich bisher überbetont worden ist, muss weiter diskutiert werden. Immerhin führt Antje Harms selbst vor, wie stark die Erfahrungen der Kriegszeit politisierten, in welchem Ausmaß der Krieg die Jugendbewegung einte und zugleich ihre Spaltung vorbereitete. Es ist auch zu prüfen, ob die Ereignisgeschichte wirklich außen vor bleiben sollte und z. B. die Geschehnisse des Jahres 1917 im Allgemeinen und die Auswirkungen der Russischen Revolution(en) im Besonderen nicht stärker berücksichtigt werden müssen. „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ mag eine fragwürdige Zuschreibung sein (S. 516), so einfach wird die Geschichtswissenschaft sie aber nicht los.

Im Ganzen hat Antje Harms also eine wichtige Arbeit verfasst. Sie kann nicht durchgehend überzeugen, ist aber sehr gut recherchiert, bietet instruktive Einsichten, regt zu Diskussionen an und weist der Forschung künftige Wege.

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