C. Brüll u.a. (Hrsg.): Belgisch-deutsche Kontakträume in Rheinland und Westfalen

Cover
Titel
Belgisch-deutsche Kontakträume in Rheinland und Westfalen, 1945–1995.


Herausgeber
Brüll, Christoph; Henrich-Franke, Christian; Hiepel, Claudia; Thiemeyer, Guido
Reihe
Historische Dimensionen Europäischer Integration 31
Erschienen
Baden-Baden 2020: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
221 S., mit SW-Abb.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Quadflieg, Stadtarchiv Wiesbaden

Wenn Belgier bis in die 1990er-Jahre von der „zehnten belgischen Provinz“ sprachen, meinten sie damit nicht den 1960 in die Unabhängigkeit entlassenen Kongo, sondern die in der Bundesrepublik Deutschland stationierten Truppen des 1. Belgischen Armeekorps, in dem hunderttausende Landsleute von 1951 bis Anfang der 1990er-Jahre ihren Wehrdienst ableisteten. Das Korps hatte in den 1950er-Jahren eine Sollstärke von 40.000 Mann; zum Ende des Ost-West-Konflikts waren noch 25.000 Soldaten und deren Familienangehörige auf die Truppenstandorte im Rheinland und in Westfalen, zeitweise auch in Nordhessen verteilt. Im Falle eines Krieges der NATO gegen den Warschauer Pakt wäre es die Aufgabe der Belgier gewesen, einen rund 30 Kilometer breiten Frontabschnitt zwischen dem Harz und der Stadt Kassel gegen die aus der DDR angreifenden Truppen des Ostblocks zu schützen.

So war zeitweise rund die Hälfte der aktiven belgischen Soldaten in der Bundesrepublik stationiert. Trotz der daraus resultierenden großen Bedeutung der in Westdeutschland liegenden Truppenstandorte für die belgische Armee zwischen 1945 und 2005 – dem Jahr, in dem die allerletzten belgischen Soldaten Deutschland verließen – sowie der nicht zu unterschätzenden ökonomischen, städtebaulichen und sozialen Bedeutung der belgischen Militärpräsenz insbesondere für westfälische Mittelstädte wie Paderborn, Siegen, Soest oder Lüdenscheid, aber auch für rheinische Großstädte wie Aachen und Köln, ist die Geschichte der Belgischen Streitkräfte in Deutschland (BSD) bisher – jenseits von einigen lokalen Studien und Abschlussarbeiten auf Masterniveau – nicht wissenschaftlich erforscht worden. Der nun vorliegende Band, der auf einem Teil der Beiträge einer im April 2018 durchgeführten Tagung beruht1, nähert sich dem Thema auf drei Ebenen.

Nach einer allgemeinen Einordnung von Christoph Brüll, der thesenartig den überschaubaren Forschungsstand zusammenfasst und die außenpolitischen Rahmenbedingungen der belgischen Militärpräsenz in Deutschland nach 1945 erläutert, folgen drei Mikrostudien zu den belgischen Truppenstandorten Soest, Lüdenscheid und Siegen. Der zweite Teil der Beiträge beschäftigt sich mit Einzelaspekten, nämlich dem Waffensystem Panzer und seiner Bedeutung in der Wahrnehmung der BSD, mit der belgisch-deutschen Diskussion um die Öffnung eines Truppenübungsplatzes bei Troisdorf schon während des Kalten Krieges sowie mit den belgischen Militärmedien und der Truppenbetreuung in der Kontaktsphäre zwischen Deutschen und Belgiern. Auf der dritten Ebene bilden zwei längere Zeitzeugeninterviews einen weiteren Zugang zur Fragestellung. Zudem bietet der Band einen Abschnitt mit „Visuellen Eindrücken belgischer Präsenz an den Standorten“. Die zwölf Schwarzweißbilder zeigen Impressionen von Paraden, Kirmesbesuchen oder Manövern belgischer Soldaten in Deutschland; leider sind nicht alle datiert und räumlich verortet.

Die drei ersten thematischen Beiträge des Bandes sind im Sinne einer „Beziehungsgeschichte als Alltagsgeschichte von Verflechtung und/oder Koexistenz über mehrere Jahrzehnte“ zu verstehen (Brüll, S. 19). Sie schildern anhand unterschiedlicher Quellen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten die belgische Garnisonsgeschichte von Soest (Claudia Hiepel), Lüdenscheid (Marc Laplasse) und Siegen (Christian Henrich-Franke), mithin dreier westfälischer Städte – das Rheinland ist an dieser Stelle nicht vertreten. Deutlich wird für alle drei Standorte eine vergleichbare Periodisierung, die zwischen einer konfliktträchtigen Besatzungsphase bis Mitte der 1950er-Jahre, einer Phase der Koexistenz bis Ende der 1960er-Jahre und einer Phase der Annäherung im Kontext der zunehmenden Europäisierung bis zum Ende der belgischen Truppenpräsenz unterscheidet.

Gemeinsame Tendenzen zeigen sich auch bei den Problemen im Garnisonsleben und bei den Versuchen, diese zu lösen. Während der Besatzungszeit bis 1955 bildeten der Konflikt um Wohnraum und der deutsche Neid auf die Truppenversorgung der Besatzungsarmee auf der einen Seite sowie strenge Antifraternisierungsvorschriften und Ressentiments gegenüber den besiegten Deutschen auf der anderen Seite die Basis für die große physische und emotionale Distanz zwischen belgischen Besatzungstruppen und einheimischer Bevölkerung. Mit dem ökonomischen Aufschwung Westdeutschlands im sogenannten Wirtschaftswunder, mit den massiven Bauprogrammen für die Unterbringung der NATO-Streitkräfte in den 1960er-Jahren sowie durch die Integration der Bundesrepublik in das westliche Verteidigungsbündnis ab 1955 wurde das Gegeneinander zu einem parallelen Miteinander. Verstärkt ab den 1970er-Jahren bemühten sich die belgischen Standortkommandeure etwa durch Tage der Offenen Tür, gemeinsame Kultur- und Sportveranstaltungen, militärische Vorführungen und nicht zuletzt durch eine intensivere Vernetzung mit den lokalen politischen Akteuren um gute, partnerschaftliche Beziehungen zu ihren deutschen Garnisonsgemeinden. Die Autoren aller drei Mikrostudien stellen allerdings gleichzeitig heraus, dass der Grad der Annäherung der belgischen Soldaten an die sie umgebende deutsche Mehrheitsgesellschaft letztendlich individuell war und blieb. Er konnte von einem dauerhaften Niederlassen am ehemaligen Stationierungsort mit Einheirat in die lokale Bevölkerung, also der vollständigen Assimilation, bis zu Kindern belgischer Offiziere reichen, die in Westfalen „ohne nennenswerte Kontakte zur deutschen Bevölkerung“ und „ohne die deutsche Sprache zu erlernen“ (Hiepel, S. 45f.) aufwuchsen und mithin Teil einer belgischen Parallelgesellschaft blieben.

Während diese Erkenntnisse sich durchaus mit den Befunden zu anderen NATO-Communities in Deutschland decken, sind die Ergebnisse zur Bedeutung des Sprachgebrauchs der jeweiligen belgischen Einheiten besonders interessant. In Soest und Lüdenscheid war die Kommandosprache Flämisch, in Siegen hingegen die längste Zeit Französisch. Dieser Aspekt legt es nahe, künftig bei der Untersuchung der belgischen Truppenpräsenz in Deutschland zwischen flämischen und französischsprachigen Einheiten zu differenzieren und diese miteinander zu vergleichen. So macht das von Henrich-Franke vorgestellte Beispiel Siegen deutlich, dass die Ablösung flämischer Truppen durch französischsprachige Wallonen im Sommer 1975 entgegen der allgemeinen Beziehungsdynamik und auf Grund der Sprachbarriere zu einer wachsenden Distanz zwischen der Bevölkerung und der Garnison führte. Diese Beobachtung verdient sicherlich eine genauere Untersuchung, die neben den erwiesenermaßen deutlich schlechteren Fremdsprachenkenntnissen der wallonischen Belgier beispielsweise auch die unterschiedliche Besatzungs- und Kollaborationserfahrung während des Zweiten Weltkriegs in den beiden großen belgischen Landesteilen näher in den Blick nehmen könnte.

Die drei folgenden Aufsätze beleuchten jeder für sich interessante Einzelaspekte. Besonders Jonas Krünings Beitrag zur Auseinandersetzung um eine stärkere deutsche Nutzung des Truppenübungsplatzes Wahner Heide gibt einen interessanten Einblick in die Kommunikationspraxis zwischen den belgischen militärischen Stellen und der deutschen Kommunal- und Landesverwaltung. Der Beitrag von Pierre Muller zur Bedeutung des Panzereinsatzes im Beziehungsgeflecht zwischen der BSD und der deutschen Zivilbevölkerung macht zwar einerseits deutlich, dass die regelmäßigen Panzermanöver der Belgier und die dadurch verursachten Flurschäden im Laufe der Jahrzehnte zunehmend im Sinne der deutschen Geschädigten gelöst wurden, bleibt aber bei möglichen positiven Wirkungen des Waffensystems Panzer auf die Wahrnehmung der belgischen Truppen durch die deutsche Zivilbevölkerung schwammig. Seine im Angesicht taktischer nuklearer Gefechtsfeldwaffen etwas simple These, die deutsche Bevölkerung habe die „jungen Männer in ihren Panzern“ als diejenigen gesehen, „die im Falle eines kommunistischen Angriffs ihr Leben in Gefahr bringen würden, um sie [die Deutschen] zu schützen“ (S. 147)2, und habe sich daher den Panzerbesatzungen gegenüber hilfsbereit und freundlich-neugierig gezeigt, verkennt wichtige katalytische Einflussfaktoren, etwa den Stellenwert der Panzerwaffe in der deutschen Propaganda des Zweiten Weltkriegs, den Unterhaltungswert eines passierenden Kampfpanzers im ländlichen Westfalen der Nachkriegszeit oder die Tatsache, dass die Belgier mit dem „Leopard I“ ein deutsches Waffensystem einsetzten. Vitus Sproten untermauert in seiner Darstellung der belgischen Medienangebote für die BSD und deren Truppenunterhaltung seine These, die Aktivitäten der Armee seien darauf ausgelegt gewesen, „die belgischen Soldaten in der Einflusssphäre der Kulturkreise des belgischen Staates zu halten“ (S. 192). Hierzu wären bei vertiefenden Studien freilich ebenfalls die Auswirkungen der kulturellen Differenzen zwischen den großen Sprach- und Kulturgruppen in Belgien für die belgische Armee und speziell für die BSD stärker in den Blick zu nehmen.

Die beiden Interviews mit Victor Neels, einem ehemaligen Soldaten der BSD, und mit Burkhard Schnettler, der sich in Soest für die Verständigung zwischen Einheimischen und belgischen Truppen eingesetzt und eine große private Sammlung zu den BSD aufgebaut hat, sind durchaus lesenswert, hätten aber eine stärkere historische Kommentierung bzw. Einordnung verdient.

Guido Thiemeyer schließt den Band mit einem „Gesamtfazit“ ab, das mit Christoph Brülls Eingangstext eine Klammer bildet. Der Anregung Thiemeyers, die Beziehungsgeschichte zwischen den BSD und der deutschen Bevölkerung entlang von militärischen, politischen und gesellschaftlich-kulturellen inklusive erinnerungskulturellen Analyse-Achsen zu untersuchen, kann – unter Hinzunahme einer ökonomischen Perspektive – voll zugestimmt werden. Besonders die angemahnte kritische militärhistorische Perspektive kommt auch auf Grund des problematischen Archivzugangs zu Armee-Akten in Belgien bisher zu kurz und wird in den Beiträgen des Sammelbandes verständlicher Weise nur angedeutet. Insgesamt gibt der Band jedoch einen facettenreichen Einblick ins Thema und lädt im besten Sinne zu weiteren – möglicherweise auch mit anderen NATO-Truppen in der Bundesrepublik vergleichenden3 – Studien über die Belgischen Streitkräfte in Deutschland ein.

Anmerkungen:
1 Siehe den Tagungsbericht von Vitus Sproten, in: H-Soz-Kult, 15.05.2018, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7696 (15.01.2021).
2 Eigene Übersetzung. Im Text: „En première ligne en cas d’attaque communiste, les Allemands habitant dans les régions occupées par les FBA considèrent que se seront ces jeunes gens et leurs engins qui mettront leurs vies en danger pour les protéger.“
3 Siehe etwa die Rezension von Daniele Toro über die Paderborner Ausstellung „Briten in Westfalen“, in: H-Soz-Kult, 27.01.2018, https://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-300 (15.01.2021).