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Titel
Kleidung zwischen Konjunktur und Krise. Eine Branchengeschichte des deutschen Textileinzelhandels 1914 bis 1961


Autor(en)
Balder, Uwe
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte – Beihefte (252)
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
726 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manuela Rienks, Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, München

Uwe Balders Regensburger Dissertation über die Branchengeschichte des Textileinzelhandels 1914–1961 entstand als Teil eines von der C&A-Inhaberfamilie Brenninkmeyer finanzierten Forschungsprojektes um Mark Spoerer.1 Balder untersucht die Branche als „Sphäre von konkurrierenden Unternehmen, als dynamische[n] Raum für Veränderung durch Markteintritte und Marktaustritte und nicht zuletzt als Ort der Verknüpfung von Vorlieferanten, Unternehmen und deren Kunden“ (S. 21). Aus dieser Herangehensweise folgt die Strukturierung der einzelnen Kapitel: Zunächst steht jeweils die Branchenentwicklung im Vordergrund – rekonstruiert anhand von sieben Fach- und Verbandszeitschriften; daran schließt sich die Untersuchung der Geschichte und Entwicklung einzelner Unternehmen an – von kleinen und mittleren Konfektionsgeschäften wie etwa J. G. Becker, Bamberger & Hertz (später Hirmer) und Hettlage bis hin zu großen Unternehmen wie dem Warenhaus Schocken; darauf folgt die Beschreibung der Verbandsaktivitäten des Textileinzelhandels.

Damit bewegt sich Balder auf echtem Neuland. Weder in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte noch in der Sozial- oder Kulturgeschichte erfuhr der (Textil-) Einzelhandel – vor allem in der Verschränkung all dieser Facetten – eine solche Aufmerksamkeit. Die meisten Studien konzentrierten sich bislang auf den Lebensmitteleinzelhandel, auf einzelne Unternehmen oder einzelne Teilaspekte, insbesondere die „Arisierung“ jüdischen Besitzes.2 Überblicksdarstellungen zur Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts räumen dem Einzelhandel nur geringen Raum ein.

Balder geht chronologisch vor und orientiert sich an bekannten Zäsuren. So geht es im ersten Kapitel um die Grundlagen des Textileinzelhandels Ende des 19. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt geriet der Handel unter Modernisierungsdruck – bedingt durch eine gestiegene und differenzierte Nachfrage in den Städten, die Lockerung des Gewerberechts und intensivierten Wettbewerb sowie einsetzende Rationalisierungsmaßnahmen. Die Branche insgesamt verzeichnete einen Anstieg der Betriebs- und Beschäftigtenzahl. An dieser Stelle stellt Balder auch erstmalig seine Fokusunternehmen, deren Herkunft und frühe Entwicklung vor. Das Verbandswesen im Einzelhandel war noch zersplittert, reichsweite Zusammenschlüsse waren jedoch bereits geplant.

Das zweite Kapitel widmet Balder dem Ersten Weltkrieg. Die Kriegswirtschaft beschleunigte die Entwicklung hin zu großbetrieblichen Strukturen und die Verlagerung von Produktion und Distribution in die Ballungszentren. Dass zu Beginn des Ersten Weltkriegs kein übergreifender Einzelhandelsdachverband existierte, schwächte die Meinungsbildung und Einflussnahme der Branchenakteure auf die staatliche Regulierungspolitik. Diese benachteiligte den Handel im Gegensatz zur Bekleidungsindustrie, da sie den zivilen Bedarf an Kleidung vernachlässigte, während die Reichswehr ihren Bedarf direkt von den Produktionsbetrieben abnahm. Um zu bestehen, mussten die Unternehmen ihre Fixkosten reduzieren, wozu unter anderem verstärkt Frauen eingestellt und schlechter als Männer bezahlt wurden.

Nach Ende des Ersten Weltkriegs war der Handel weiterhin durch das bis 1922 geltende Bezugsscheinsystem geprägt und befand sich im ständigen „Changieren (...) zwischen den Extremen“ (S. 657): Einerseits verharrte die Branche in Bezug auf Verbandsstrukturen, Umsätzen und Geschäftslage im Krisenmodus, andererseits gingen von der neuen Demokratie Modernisierungs- und Rationalisierungstrends aus. 1929 setzt Balder eine neuerliche Zäsur an. Seitdem hätten sich innerhalb der Branche die ideologischen Gräben weiter vertieft und antisemitische Anfeindungen zugenommen. Allerdings sei der Textileinzelhandel als Branche tatsächlich weit weniger durch die aufstrebenden Großbetriebe bedroht gewesen, als propagiert und gemeinhin angenommen wurde. Für innovative Mittelständler waren sie Vorbild, nicht Feindbild. Die Verbandsaktivitäten in der Weimarer Zeit zielten vorwiegend auf die Regulierung des Wettbewerbs und nicht auf die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Unternehmen.

Das mit über 200 Seiten umfangreichste Kapitel widmet Balder der Zeit des Nationalsozialismus. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass er vier Unternehmen detailliert untersucht. Jüngst erschien allein zur NS-Geschichte des Lebensmittelhändlers Tengelmann ein knapp 800-seitiger Sammelband3, der zeigt, dass hier weiterhin Forschungsbedarf besteht. Am Beginn der Entwicklung des Textileinzelhandels unter dem NS-Regime stand die Gleichschaltung der Verbände. Die NS-Propaganda proklamierte Schutz vor Modernisierung und Wettbewerb durch den Ausschluss von Juden und Ausländern, auch etwa in der „Warenhausfrage“, die Balder als „schnell abbrennendes Strohfeuer“ bezeichnet, das sich „gegen prominente (jüdische) Großbetriebe“ (S. 658) richtete. Oberste Ziele der Nationalsozialisten waren Versorgungssicherheit und Preisstabilität. Die Branche war ab 1933 geteilt in die Mehrheit der nicht-jüdischen Textileinzelhändler und in „die große jüdische oder als jüdisch diffamierte Minderheit“ (S. 298). Treffend formuliert Balder, dass es in Bezug auf die „Arisierungen“ bis 1938 zwar gewisse Spielräume gegeben habe, diese aber in umfassendem Ausmaß stattfanden und zudem „von unten und aus der Mitte der Gesellschaft“ (S. 659) heraus verliefen. Dies stellte den größten Strukturbruch in der Geschichte des Textileinzelhandels dar. Die Basis für die NS-Konsumgesellschaft bildeten die größeren Spezialgeschäfte und Großbetriebe des Textileinzelhandels. Trotz der Regulierung durch Kleiderkarten konnten einige Unternehmen während des Krieges gute Geschäfte machen, nicht zuletzt durch die Produktion der Textilien im polnischen Ghetto Litzmannstadt.4

Die Zeit nach 1945 bis zum Beginn der 1960er-Jahre wird im abschließenden Kapitel thematisiert. Die unmittelbare Nachkriegszeit war geprägt von großem Mangel und hemdsärmeliger Selbsthilfe. Erst durch „textile Hilfen“ der Alliierten stabilisierte sich die Lage bis 1947, aber erst nach der Währungsreform 1948 und dem Ende der Punktebewirtschaftung in der Branche im Mai 1949 war wieder an Wachstum zu denken. Nach Sättigung des Nachholbedarfs ging ab den 1950er Jahren der Kampf der verschiedenen Betriebsformen um kaufkräftige Kundschaft in eine neue Runde. Warenhaus und Versandhandel etablierten sich als feste Größen auf dem Massenmarkt und mit der Selbstbedienung setzte eine langsame, aber stetige Transformation im Textileinzelhandel der Bundesrepublik ein. Die unmittelbare Nachkriegsentwicklung in der sowjetischen Besatzungszone, wo die staatliche Regulierung bestehen blieb und auch der Einzelhandel von Demontagen und Verstaatlichung betroffen war, beschreibt Balder anhand der J. G. Becker und Merkur AG.

Uwe Balder leistet wertvolle empirische Grundlagenarbeit. Seine Ergebnisse basieren auf der Auswertung unterschiedlichster Quellenbestände. Gerade seine Untersuchungen zu „Arisierungen“ – auch kleinerer Unternehmen – im Textileinzelhandel sind äußerst verdienstvoll und schließen eine erhebliche Forschungslücke. Störend beim Lesen sind häufige Wortwiederholungen; bisweilen irritieren sprachliche Ausrutscher wie „Als Erfolg darf gelten, dass (...) der textile Heeresbedarf gedeckt werden konnte. Zu verdanken war dies (...) der Beutepolitik im Ausland (...)“ (S. 657) in Bezug auf das Überleben des Textileinzelhandels während des Ersten Weltkriegs oder die skurrile Formulierung „bis hin zum totalen textilen Zusammenbruch“ (S. 25) mit Blick auf das Ende des Textileinzelhandels im Zweiten Weltkrieg.

Zudem fehlt es der Arbeit an klar formulierten Leitfragen und damit auch weitgehend an Thesen, die über das unmittelbare Thema hinausreichen. Wünschenswert wäre etwa eine Einordnung in die Wirtschaftsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen. Es scheint, als habe der Textileinzelhandel zu einer Stabilisierung des NS-Regimes beigetragen – Balder äußerst sich hierzu jedoch nicht. Auch ein Brückenschlag zur Konsumgeschichte des 20. Jahrhunderts wäre sinnvoll gewesen, schließlich bewegt sich Balder in einer Zeit, in der Deutschland zur Konsum- und schließlich Massenkonsumgesellschaft avancierte. Der Zugang zu Kleidung erlebte durch die Expansion der Textileinzelhandelsbranche einerseits eine Demokratisierung, andererseits wurden Unterscheidungsmöglichkeiten etwa über Formen des exklusiven Konsums gewahrt.

Der Befund, dass sich die Branche zwischen Konjunktur und Krise bewegte, ist angesichts zweier Weltkriege, zweier unterschiedlicher Demokratien und einer Diktatur zwar nicht unbedingt verwunderlich. Nichtsdestoweniger ist es Balder gelungen, eine quellengesättigte Arbeit über eine gesamte Branche zu verfassen, in der das große Ganze immer wieder empirisch an die Befunde aus einzelnen Unternehmen rückgekoppelt wird. Seine Arbeit weist viele interessante Details auf und präsentiert manch neue Erkenntnisse, wie etwa das Wirken der Reichsbekleidungsstelle von 1916 bis 1922 oder die Restitutionsgeschichten einzelner Textilunternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg. Viele Themen, die heute in der Einzelhandelsforschung wieder diskutiert werden, besaßen auch schon in Balders Untersuchungszeitraum Relevanz: das Spannungsdreieck zwischen Kundschaft, Liefer- und Handelsbetrieben, der Wettbewerb zwischen großen und kleinen Unternehmen, neue, zunächst skeptisch betrachtete Betriebsformen, „gerechte“ Preise in einer arbeitsteiligen, internationalisierten Textilwirtschaft. Insofern ist diese Dissertation über die historische Entwicklung des Textileinzelhandels in der krisenhaften ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aktuell und informativ zugleich.

Anmerkungen:
1 Weitere Arbeiten des Projekts: Anna Pauli, Die Geschichte des Marketings im Textileinzelhandel 1918 bis 1960 (noch nicht publiziert); Julia Schnaus, Kleidung zieht jeden an. Die deutsche Bekleidungsindustrie 1918 bis 1973, Berlin 2017; Mark Spoerer, C&A. Ein Familienunternehmen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien 1911–1961, München 2016.
2 Lydia Langer, Revolution im Einzelhandel: die Einführung der Selbstbedienung in Lebensmittelgeschäften der Bundesrepublik Deutschland (1949–1973), Köln/Weimar/Wien 2013; Erica Fischer, Simone Ladwig-Winters, Die Wertheims. Geschichte einer Familie, Berlin 2005; Frank Bajohr, „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945, Hamburg 1997.
3 Lutz Niethammer (Hrsg.), Tengelmann im Dritten Reich: Ein Unternehmen des Lebensmittelhandels und der Nationalsozialismus, Essen 2020.
4 Julia Schnaus/Roman P. Smolorz/Mark Spoerer, Die Rolle des Ghetto Litzmannstadt (Łódź) bei der Versorgung der Wehrmacht und der deutschen Privatwirtschaft mit Kleidung (1940 bis 1944), in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 62 (2017), S. 35–56.

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