J. van de Kamp: Übersetzungen von Erbauungsliteratur und die Rolle von Netzwerken am Ende des 17. Jahrhunderts

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Titel
Übersetzungen von Erbauungsliteratur und die Rolle von Netzwerken am Ende des 17. Jahrhunderts.


Autor(en)
Kamp, Jan van de
Reihe
Beiträge zur historischen Theologie 195
Erschienen
Tübingen 2020: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XVIII, 534 S.
Preis
€ 130,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lennart Gard, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Übersetzungen fremdsprachiger Texte sind das Resultat komplexer Selektions- und Interpretationsvorgänge. Die Entscheidungen von Übersetzerinnen und Übersetzern beeinflussen folglich Prozesse kulturellen Austauschs und gesellschaftlichen Wandels. Jan van de Kamps kirchenhistorische Dissertation untersucht anknüpfend an diese Überlegung die Ausdifferenzierung des europäischen Protestantismus im späten 17. Jahrhundert. Die Arbeit wurde bereits 2011 an der theologischen Fakultät der Vrije Universiteit Amsterdam eingereicht und ist vom Autor – mittlerweile ebendort Professor für Kirchengeschichte – für den Druck überarbeitet und an den Forschungsstand bis einschließlich 2014 angepasst worden.

Gefragt wird nach der Bedeutung sozialer Netzwerke für die Produktion, Verbreitung und Rezeption von Übersetzungen glaubenspraktischer Texte, sogenannter Erbauungsliteratur, aus England und den Niederlanden in den protestantischen Territorien des deutschsprachigen Raums von circa 1660 bis 1700. Maßgeblicher Ausgangspunkt ist ein insbesondere in der kirchenhistorischen Forschung einflussreiches Paradigma: So hätten sich protestantische Theologen bis ins späte 16. Jahrhundert im Allgemeinen eher Aspekten der Lehre als Fragen der Glaubenspraxis gewidmet. In Reaktion auf diese Diskrepanz seien im Folgenden mehrere auf eine vertiefte Frömmigkeit zielende Reformbewegungen entstanden: bereits um 1600 der Puritanismus in England und die Nadere Reformatie in den Niederlanden, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dann der deutsche Pietismus. Angesichts dieser Phasenverschiebung ist es das Kernanliegen der Untersuchung, präziser zu bestimmen, inwiefern Letzterer durch übersetztes Schrifttum der beiden zuerst genannten Erscheinungen in seiner Entwicklung beeinflusst wurde.

Der Autor betritt damit ein Feld, das die Historiographie der letzten Jahrzehnte schon ausgiebig vermessen hat: Die hohe Bedeutung übersetzter Erbauungsliteratur aus England für die Pluralisierung des deutschen Protestantismus um 1700 wurde in den letzten Jahrzehnten insbesondere durch die monographischen Studien Edgar C. McKenzies, Udo Sträters und Peter Damraus umfassend belegt1, und auch die insgesamt geringfügigere Ausstrahlung entsprechender Werke aus den Niederlanden ist etwa dank der Beiträge Willem J. op ’t Hofs zumindest in ihren Umrissen bekannt.2 Van de Kamps Veröffentlichung versteht sich nicht als grundlegende Revision der bisherigen Forschung, sondern vielmehr als deren Ergänzung auf Basis eines neuartigen Zugriffs an der Schnittstelle von Biographik, Übersetzungsforschung, Bibliometrie und historischer Netzwerkforschung. Konkret widmet sich das Werk fallstudienartig fünf Übersetzern niederländischer und englischer Erbauungsliteratur (Johannes Duysing, Johann Deusing, Philipp Erberfeld, Johann Christoph Noltenius und Henning Koch). Die Aufmerksamkeit richtet sich auf den historisch-biographischen Kontext wie auch auf die ins Deutsche übertragenen Texte selbst. Diese werden im Hinblick auf Inhalte, Übersetzungstechnik und zeitgenössische Rezeption untersucht. Sämtliche fünf Protagonisten lassen sich im nordwestdeutschen Raum verorten und gehörten mit Ausnahme des Lutheraners Koch der reformierten Konfession an. Teils hatten sie einen theologischen, teils einen juristisch-administrativen Hintergrund. Die übersetzten Texte stammen von Autoren wie Richard Baxter und Joseph Hall für die englische, Willem Teellinck und Guiljelmus Saldenus für die niederländische Frömmigkeitsliteratur.

Nach der Einleitung verortet ein vorbereitendes Kapitel den Untersuchungsgegenstand aufbauend auf der Historiographie in einem breiteren Panorama. Dabei geht es um Quantitatives wie den Anteil übersetzter niederländischer und englischer Erbauungsliteratur an der deutschsprachigen Buchproduktion – den van de Kamp für den Analysezeitraum etwas übergenau auf 0,33 Prozent beziffert (S. 27) – ebenso wie um Periodisierungsfragen und technische Aspekte des frühneuzeitlichen Übersetzungswesens.

Das Herzstück der Untersuchung bilden die fünf anschließenden Kapitel, die jeweils einen der fünf Übersetzer behandeln. Auf einen biographisch orientierten Abschnitt, der sich auf Quellenrecherchen des Autors in zahlreichen Archiven und Bibliotheken (etwa in Berlin, Bremen, Coburg, Duisburg, Halle und Wolfenbüttel) stützt und das soziale Umfeld der Übersetzungstätigkeit klären soll, folgen Zusammenfassungen sowie inhaltlich-stilistische Analysen der einzelnen ins Deutsche übertragenen Texte.

Was den Umfang angeht, unterscheiden sich die fünf Kapitel deutlich voneinander. Dies liegt einerseits an Dichte und Qualität der verfügbaren biographischen Überlieferung. Der Bremer Pfarrer Johannes Duysing etwa ist deutlich besser greifbar als Johann Deusing, bei dem es sich van de Kamp zufolge um einen Kasseler Beamten handelte. Entsprechend hoch ist der Aufwand, den der Autor in Ergänzung eines bereits 2007 publizierten Aufsatzes unternehmen muss, um die beiden Personen überhaupt klar voneinander abzugrenzen (S. 59–75).3 Andererseits hängt die Kapitellänge auch direkt mit dem jeweiligen Ausmaß der übersetzerischen Tätigkeit zusammen: Während etwa Duysing und Noltenius nur je ein Werk ins Deutsche übertrugen, führt die Untersuchung für Deusing allein 22 Übersetzungen auf.

Weitgehend außer Acht bleibt in den fünf zentralen Fallstudien die Ebene der Rezeption. Diese wird in einem anschließenden Kapitel für alle Autoren gemeinsam behandelt. Primär richtet sich die Aufmerksamkeit darauf, welche Privatpersonen konkret Exemplare der einzelnen Übersetzungen erworben haben und wie die Werke von Zeitgenossen beurteilt wurden. Da der jeweilige Erfolg dieser Recherche in hohem Maße von Überlieferungszufällen abhängt, bleibt die Darstellung naturgemäß lückenhaft.

Abschließend reflektiert der Autor seine Untersuchungsergebnisse hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die bisweilen kontroverse Debatte um den Wesensgehalt der Bezeichnung „Pietismus“ (S. 462–466).4 Im Sinne einer differenzierten Terminologie schlägt er vor, auf der Mikroebene an Ausdrücken wie „deutscher lutherischer Pietismus“ und „Puritanismus“ festzuhalten, in Anbetracht struktureller Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen nationalen Phänomenen jedoch auf der Makroebene „Pietismus“ als typologischen Oberbegriff zu verwenden.

Die zentrale Stärke der Untersuchung liegt darin, dass sie die Hintergründe frühneuzeitlicher Übersetzungstätigkeit durch akribische mikrohistorische Analysen transparent macht und den bisherigen Kenntnisstand gerade in Detailfragen substantiell erweitert. Die teils überbordenden biographischen Ausführungen lassen auch die komplexen sozialen Beziehungsgeflechte deutlich werden, in denen sich die Protagonisten der Untersuchung bewegten. Dadurch, dass etwa mögliche Anreger und Förderer der Übersetzungstätigkeit identifiziert werden, bieten sich wertvolle Anhaltspunkte für die weitere inhaltliche Beschäftigung mit den ins Deutsche übertragenen Texten.

Ebenso umfassend wie die biographischen Abschnitte fallen regelmäßig auch die Bemerkungen zu den einzelnen Werken aus. Alle untersuchten Veröffentlichungen werden inhaltlich konzise zusammengefasst sowie hinsichtlich ihrer theologischen Leitgedanken eingeordnet. Positiv zu bewerten ist daneben, dass der Autor Forschungsdaten wie Provenienzangaben und Fingerprints der von ihm untersuchten Werkexemplare in die niederländische Online-Datenbank Pietas übertragen und damit einem potentiell breiteren Publikum zugänglich gemacht hat.5

Nur wenige Anknüpfungspunkte bieten sich möglicherweise für Leserinnen und Leser, die nach grundlegend neuen Erkenntnissen zu frühneuzeitlichen Übersetzungstechniken suchen. Anders als die Darlegungen zu den Ausgangswerken bleiben die Ausführungen dazu, wie die Texte konkret übertragen wurden, oft knapp. Die Analyse beschränkt sich weitgehend darauf, die einzelnen Übersetzungen drei einleitend identifizierten, durch zeitgenössische Stilratgeber vermittelten Übersetzungsmodi zuzuordnen – hierarchisch geordnet von der wortgetreu-formorientierten über die bedeutungsorientierte hin zur stilistisch überlegenen interpretationsorientierten Methode (S. 23f., 43f.). Darüber hinaus werden anhand von Primärzitaten regelmäßig noch einzelne Übertragungsfehler und in den Übersetzungen angepasste „kulturspezifische Elemente“ (zum Beispiel S. 124, 193, 250) präsentiert, wobei jedoch eine tiefergehende Interpretation der Belegstellen im Hinblick auf das Thema der Untersuchung zumeist ausbleibt.

Angesichts des Titels der Studie erstaunlich zurückhaltend fallen auch die netzwerktheoretischen Überlegungen aus. Die einleitenden Bemerkungen (S. 20f.) beschränken sich im Wesentlichen darauf, Netzwerke als über Sozialbeziehungen verbundene Personenkonstellationen zu definieren und einige etablierte Grundbegriffe des Konzepts (zum Beispiel Makler, Multiplikator) zu nennen. Der spezifische heuristische Mehrwert des Ansatzes für die Untersuchung des frühneuzeitlichen Übersetzungswesens bleibt unklar und erschließt sich auch im Hauptteil des Werks nur bedingt. Mitunter listet der Autor minutiös auf, wer alles zu einem bestimmten „Netzwerk“ gehört habe, und spricht dabei synonym auch von einer „Gruppe“ (S. 252). Während dies ein tendenziell zu hohes Maß an Statik und Eindeutigkeit suggeriert, fällt die Analyse gelegentlich auch ins Gegenteil: Bestimmte Netzwerkverbindungen werden dann eher unterstellt als nachgewiesen (zum Beispiel S. 117f., 362).

Insgesamt wird man den Ertrag der Untersuchung also weniger in grundlegend neuen analytischen Perspektiven auf die Religionsgeschichte oder das Übersetzungswesen des 17. Jahrhunderts suchen müssen. Das Werk entfaltet seinen größten Nutzen vielmehr im Kleinen: als Kompendium zu einzelnen Übersetzern und den von ihnen ins Deutsche übertragenen Texten.

Anmerkungen:
1 Edgar C. McKenzie, British Devotional Literature and the Rise of German Pietism, 2 Bde., Diss. masch., University of St. Andrews 1984; ders.: A Catalog of British Devotional and Religious Books in German Translation from the Reformation to 1750, Berlin 1997; Udo Sträter, Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert, Tübingen 1987; Peter Damrau, The Reception of English Puritan Literature in Germany, London 2006.
2 Siehe etwa Willem J. op ’t Hof, Die Nähere Reformation und der niederländische reformierte Pietismus und ihr Verhältnis zum deutschen Pietismus, in: Nederlands archief voor kerkgeschiedenis 78 (1998), S. 161–183, insb. S. 180–182; Jan van der Haar, Internationale ökumenische Beziehungen im 17. und 18. Jahrhundert. Bibliographie von aus dem Englischen, Niederländischen und Französischen ins Deutsche übersetzten theologischen Büchern von 1600–1800, Ederveen 1997.
3 Jan van de Kamp, Johannes Deusing Bremensis. Die Bedeutung zweier Übersetzer für den reformierten und lutherischen Pietismus in Deutschland im 17. Jahrhundert, in: Pietismus und Neuzeit 33 (2007), S. 13–47.
4 Für einen konzisen Überblick siehe etwa Hartmut Lehmann, Pietism in the World of Transatlantic Religious Revivals, in: ders. / Jonathan Strom / James Van Horn Melton (Hrsg.), Pietism in Germany and North America 1680–1820, Farnham 2009, S. 13–22.
5http://www.pietasonline.nl/ (27.01.2021).

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