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Titel
Das Konzept des Messianismus in der polnischen, französischen und deutschen Literatur der Romantik. Eine mehrsprachige Konzeptanalyse


Autor(en)
Mende, Jana-Katharina
Reihe
Schriften des Europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften 9
Erschienen
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michał Mrugalski, Slavisches Seminar, Universität Tübingen

Ungeachtet des Titels ihrer Arbeit, der den Namen Adam Mickiewicz mit keinem Wort erwähnt, verfasste Jana-Katharina Mende die erste deutschsprachige Monografie zu den Vorlesungen des polnischen Dichters am Collège de France (1840–1844) im vergleichenden Kontext. Bis dato lagen lediglich Schlaglichter auf Mickiewicz’ Beziehung zur serbischen1 und tschechischen2 Literatur vor. Mende verbindet in ihrem Buch Mikroanalysen von Mickiewicz’ dreisprachigem Vorlesungstext auf der Ebene des Wortschatzes, indem sie unterschiedliche Konnotationen und Kontexte des Begriffs „Messianismus“ rekonstruiert, mit allgemeinen Überlegungen zu Leitideen der Epoche, wie „Eingebung“, „Volkspoesie“, „Nationalliteratur“ oder „Universalpoesie“. Sie verankert ihre weitgreifenden ideengeschichtlichen Reflexionen in einem – zugegeben polymorphen – konkreten Vorlesungstext. Diese Verankerung verleiht der Arbeit ein hohes Maß an philologischer Zuverlässigkeit sowie eine Überzeugungskraft, die typischen Ideengeschichten oft verwehrt bleibt.

Die Monografie rekonstruiert Mickiewicz’ Ideen und hält zugleich ein Plädoyer für den polnischen Messianismus, zumal sie mit der Rekapitulation einer schwerwiegenden Anklage ansetzt. Diese wurde von niemand anderem erhoben als Maria Janion (1926–2020), der einflussreichsten Romantikspezialistin in Polen und überhaupt einer der wegweisendsten Intellektuellen des Landes: „Der Messianismus, und dabei vor allem seine staatlich-klerikale Version ist ein Fluch, ein Unglück für Polen. Ehrlich gesagt, ich hasse unseren Messianismus“ (zit. S. 11). Auch wenn Mende Janion die ihr gebührende Hochachtung entgegenbringt, läuft deren Messianismuskritik der grundlegenden Intention der Arbeit zuwider. Das Buch zeigt: Die Kritik Janions verkennt den radikalen Unterschied zwischen dem romantischen Messianismus und dem integralen Nationalismus, welcher nach 1848 aus den Trümmern des allgemeineuropäischen Messianismus entstand.3 Mende stellt den Messianismus als Strömung dar, die die Mehrsprachigkeit und die kollaborative, polyphone und übernationale Autorschaft in den Vordergrund rückt: Betreffen die Pariser Vorlesungen überhaupt ihr nominelles Thema, die slavischen Literaturen, dann nur indem sie diese als eine Dichtung begreifen, die in der kollektiven, um eine charismatische Führungspersönlichkeit konzentrierten Befreiungstat aufgeht, welche letztendlich Gerechtigkeit in den Bereich der internationalen Politik einführt.

Wenn diese Arbeit Mängel aufweist, entstammen sie vor allem der Schlichtungseinstellung der Autorin, die in ihrer Arbeit allzu viel unterbringen und möglichst wenig ablehnen möchte. Im Hinblick auf den nationalistischen oder internationalistischen Charakter des Messianismus schreibt sie: „Quantitativ überwiegt in den verschiedenen sprachlichen Fassungen der Vorlesungen der nationale Messianismusbegriff, der jedoch inhaltlich nicht ohne den europäischen Begriff stehen kann […]. Die Dominanz des nationalen Begriffs im Begriffsfeld wirkt sich besonders auf die Rezeption des Messianismus aus: oft wird Messianismus in der Forschung mit der nationalen Dimension gleichgesetzt. Eine genaue Analyse der Texte rechtfertigt diese Lesart nicht, dort wird im Gegenteil sichtbar, dass die Konstruktion des Messianismus widersprüchlich, besonders in Bezug auf die europäische und nationale Zuordnung, ist. Diese Widersprüchlichkeit scheint von den Autoren und Übersetzern absichtlich hergestellt worden zu sein“ (S. 191). Diese Widersprüchlichkeit liegt im Auge des Betrachters, der denjenigen nicht zu widersprechen vermag, die keinen Unterschied zwischen romantischem Messianismus und „realistischem“ integralem Nationalismus ausmachen, auch wenn dieser Unterschied bei der eigenen ausführlichen Analyse auffällt.

Die Arbeit setzt sich zum Ziel, so viele Inhalte abzudecken, dass die Autorin Probleme bekommt, wenn sie sich auf die Dimensionen ihrer eigenen Interdisziplinarität festlegen muss. Dazu operiert sie mit eigentümlichen Begriffen wie „die historisch-semantische Linguistik“ (S. 18, ein einmaliges Hybrid aus der linguistischen Semantik und der historischen Linguistik). Damit ihre „komparatistische Literaturlinguistik“ (S. 26, 29) mit Mickiewicz’ faktualem und prophetischem Text kompatibel wird, lässt sie sich auf ein kaum kontrolliertes Spiel mit literaturwissenschaftlichen Termini ein, das sie dazu verleitet, Mickiewicz’ Vorlesungen für fiktional zu deklarieren, weil sie eine schöne und polyphone Form aufweisen (S. 68).

Trotz eines wackeligen methodischen Gerüsts gewährt das Buch dennoch zahlreiche spannende Einblicke. Sehr instruktiv sind beispielsweise die Überlegungen zum Ungleichgewicht auf dem internationalen literarischen Markt zu nennen, zu dem nicht nur die Durchsetzungskraft unterschiedlicher Kulturen, sondern auch unterschiedliche Positionen der Romantik innerhalb der jeweiligen Kulturen beitragen. Überzeugend fällt die Geschichte des Begriffs „Messianismus“ in unterschiedlichen Kulturen aus, beginnend mit der Einführung des Begriffs durch Józef Maria Hoëné-Wroński. Eine Bereicherung der Mickiewicz-Forschung stellt die Rekonstruktion des mehrschichtigen und mehrsprachigen, entstehungshistorisch bedingten Charakters des Vorlesungstextes dar. Wiktor Weintraub bezeichnete das Fehlen der kritischen französischen Ausgabe von Mickiewicz’ Vorlesungen als ein besonders heikles und peinliches, weil elementares Versäumnis der Mickiewicz-Forschung4; Mende zeigt hingegen, dass keine einheitliche Version dieses Textes möglich wäre, der meistens frei auf Französisch vorgetragen, stenographiert, (oft aus dem Gedächtnis oder durch Eingebung) ins Polnische und anschließend ins Deutsche übersetzt, stellenweise erneut auf Polnisch diktiert und auf Französisch geschrieben, ständig von vielen Personen umgearbeitet wurde, sodass Mickiewicz über den Text sagte: „Cet ouvrage dont je me reconnais auteur bien que je ne l’aie point écrit“ (S. 39). Auf Deutsch spricht er über ein Werk, „dessen Verfasser ich nicht bin, doch aber der Urheber“ (S. 40). Die Darstellung des mehrsprachigen und kollektiven Subjekts und seines Korrelats – des unhintergehbar vielfältigen Textes – gehört zu den großen Leistungen Mendes.

Überzeugend fallen die Close-Reading-Passagen aus, in denen drei Sprachversionen des Textes nebeneinanderlaufen und mit Wörterbüchern sowie anderen Quellen aus der Epoche in Verbindung gebracht werden. Doch birgt dieses Verfahren Risiken, die mit einer allzu nahen Lektüre einhergehen. Wo Mende „die religiösen und politischen Grundlagen des Begriffsfeldes ‚Messianismus‘“ rekonstruiert (S. 111), nennt sie folgende Teilbedeutungen: „allgemeine Führungsaufgabe“, „Glaube an und Warten auf einen Erlöser im Judentum und Christentum“, „Glaube an einen Erlöser in der Politik“. Wegen der Konzentration auf Mickiewicz’ Text verschwindet die allgemeine Eigenschaft des Messianismus, die die Linken (die Linie von Saint-Simon) und die Rechten (Le Maistre) vereinigte, nämlich der mit der offiziellen Lehre der katholischen Kirche unvereinbare Millenarismus, der das Reich Gottes diesseits gründen möchte.5 Dafür aber stellt die Konzentration auf eine charismatische Führungspersönlichkeit eine Marotte Mickiewicz’ selbst dar und eben nicht des Messianismus als solchem. Andererseits fehlen wichtige Komponenten, die das Wesen des Vorlesungen-Messianismus ausmachten, wie etwa die polnisch-russische Versöhnung und die gemeinsame Tat mit Frankreich für die Einleitung einer neuen Epoche. Die charismatische Führung und das slavisch-französische Bündnis verschränken sich in der ins Religiöse gesteigerten Auffassung des Napoleon Bonaparte, der Mickiewicz, Hoëné-Wroński und einer nicht beim Namen genannten jüdischen Sekte in Polen zufolge als eine Inkarnation Jesu anzusehen ist. Der endgültige Messias soll übrigens der Anführer der Sekte „Kreis der Sache Gottes“, Andrzej Towiański, sein, dem Mickiewicz seit 1841 anhing. Mende demonstriert – wie früher Weintraub6 –, wie Mickiewicz seine eigene Dichtung falsch in die französische Prosa übersetzt, um Towiańskis Begrifflichkeiten in einen „prophetischen“ Text einzuflechten, dessen Entstehung dem Treffen mit dem Meister fast eine Dekade voranging. Die polnischen Versionen des Textes beinhalten diese Selbstfälschung nicht, da sie das Fragment der Dichtung im Original zitieren; eine mehrsprachige Lektüre lohnt.

Bei den Übungen in der „historischer Semantik“ kommt besonders die nicht immer bekömmliche Abneigung gegenüber der Selektion und Negation zum Tragen. Die Rekonstruktion aller möglichen Sinne des Wortes hätte vor allem Sinn, wenn sie auch zum Aussortieren der Konnotationen führen würde, die nicht berücksichtigt werden. Ein solcher Weg der „bestimmten Negation“ verband die osteuropäische Sprach- mit der Literaturwissenschaft bei Baudouin de Courtenay, Šklovskij, Hopensztand, Karcevskij, Mukařovský, Jakobson. Infolge der mangelnden Kraft der Negation – in der Analyse, nicht bei Mickiewicz – kann die Autorin, den derzeitigen Stereotypen anheimfallend, feststellen: „Die polnische Version enthält mehr antijüdische Konnotationen als die französische und die deutsche Fassung“ (S. 153). Nicht die Fassungen des Vorlesungstextes enthalten antisemitische Konnotationen, sondern Wörterbücher aus der Epoche, wobei der Unterschied zwischen den Sprachen nicht allzu groß ist. Zu den in Littré aufgezählten Bedeutungen des Wortes „juif“ – „Celui qui prête à usure ou qui vent exorbitamment cher, et, en général, quiconque cherche à gagner de l’argent avec âpreté“ (S. 114), fügt das Wörterbuch der polnischen Sprache „Auswurf“ und „Geizhals“ hinzu (S. 115). Aber Mickiewicz musste diese Konnotationen abgelehnt haben, um die Juden das „geistvollste unter allen Völkern […], wohl fähig zu begreifen, was das Erhabenste in der Menschheit ist“, nennen zu können (S. 117). Wahrscheinlich gibt es keine in höherem Maße philosemitische Literaturströmung als die polnische Romantik, wobei diese Qualität erst vor dem Hintergrund der Allgemeinsprache, die voll von negativen Konnotationen ist, wirklich auffällt. Mit der Adaptation der Negation für die Forschung öffnet sich ein geeigneter Bereich für eine vergleichende „Literaturlinguistik“, die auch einen Anschluss an die Soziolinguistik fände.

Das Buch empfiehlt sich für diejenigen, die Interesse an Mickiewicz, der Romantik, dem Postsäkularismus und der Literaturtheorie haben. Als Beitrag zur „Literaturlinguistik“ überzeugt es zur Überwindung der fatalen Trennung von Literatur- und Sprachwissenschaft.

Anmerkungen:
1 Alois Hermann, Die serbische Volksdichtung in den „Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände“ von Adam Mickiewicz, in: Zeitschrift für Slawistik 23 (1978), S. 151–157.
2 Christian Garstka, Adam Mickiewiczs Blick auf die tschechische Literatur in seinen „Vorlesungen über slawische Literatur und Zustände“. Vortrag gehalten auf dem Heidelberger Forschungskolloquium „Slavische Wechselbeziehungen im 19. Jahrhundert“, 1999, https://doi.org/10.11588/heidok.00007218 (19.05.2021).
3 Andrzej Walicki, Mesjanizm Adama Mickiewicza w perspektywie porównawczej, Warschau 2006, S. 38.
4 Wiktor Weintraub, Prelekcje paryskie – ale jakie?, in: Pamiętnik Literacki 67/2 (1976), S. 27–44, hier S. 28.
5 Andrzej Walicki, Millenaryzm i mesjanizm religijny a romantyczny mesjanizm polski. Zarys problematyki, in: Pamiętnik Literacki 62/4 (1971), S. 23–46.
6 Weintraub, Prelekcje, S. 34–36. Ich bedanke mich bei Michał Kuziak für den Hinweis.

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