H. Wentker: Die Deutschen und Gorbatschow

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Title
Die Deutschen und Gorbatschow. Der Gorbatschow-Diskurs im doppelten Deutschland 1985–1991


Author(s)
Wentker, Hermann
Published
Berlin 2020: Metropol Verlag
Extent
669 S.
Price
€ 29,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Matthias Uhl, Deutsches Historisches Institut Moskau

Im heutigen Russland muss der letzte sowjetische Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow als wohl einer der meistgehassten Politiker des Landes gelten. Durch Glasnost und Perestroika habe er nicht nur den Zerfall der Sowjetunion herbeigeführt, in dem der heutige russische Staatspräsident Wladimir Putin „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sieht. Gorbatschow ist in den Augen vieler Russen auch dafür verantwortlich, dass das sowjetische Imperium nach 1989 zusammenbrach und die NATO jetzt an den Landesgrenzen steht. Untrennbar ist sein Name zudem für zahlreiche russische Staatsbürger mit dem traumatischen wirtschaftlichen Niedergang des Landes in den 1990er-Jahren verbunden, der für viele Menschen einen ungeahnten sozialen und materiellen Abstieg bedeutete und von dem sich Russland bis heute kaum erholt hat. In Deutschland ist der Friedensnobelpreisträger Gorbatschow jedoch ein bewunderter und gefeierter Politiker, der hierzulande eine ungeheure Wertschätzung genießt und für den man in Dessau zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit sogar ein Denkmal enthüllt hat.

In seinem Buch „Die Deutschen und Gorbatschow“ zeigt Hermann Wentker, wie sich das Gorbatschow-Bild der Deutschen in West und Ost zwischen 1985 und 1991 entwickelte. Wentker untersucht hierfür die entsprechenden Perzeptionsprozesse und die dabei konstruierten Bilder des zweitjüngsten Generalsekretärs des Zentralsekretariats der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und seiner Politik, aber auch die Begegnungen und Beziehungen von Ost- und Westdeutschen mit dem neuen Führer der Supermacht UdSSR. Hierfür wertete er zahllose offizielle Dokumente beider deutschen Staaten, von Parteien, aber auch Geheimdiensten aus, untersuchte die Memoiren zahlreicher Politiker, die Ergebnisse von Meinungsumfragen und vor allem das Echo, das Gorbatschow und sein politisches Wirken in der westdeutschen Presselandschaft erzeugte.

Als der 54-Jährige im März 1985 das höchste politische Amt der Sowjetunion antrat, erkannten westdeutsche Experten und die Medien der Bundesrepublik zwar die Energie des neuen Generalsekretärs, doch wurden bei seiner Beurteilung zumeist Vokabeln bemüht, die verdeutlichten sollten, dass er „die Sowjetunion zwar modernisieren wolle, aber kein ‚Reformer‘, schon gar kein ‚Liberaler‘ sei“ (S. 33). Im Gegensatz zur Presse reagierte die SPD-Führung nach ersten Gesprächen mit Gorbatschow geradezu euphorisch, Egon Bahr sprach sogar von „Sympathie auf den ersten Blick“ (S. 43) und lobte die Vitalität und geistige Beweglichkeit des neuen Kreml-Chefs. Wesentlich reservierter zeigten sich Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl, vor allem der Bundeskanzler hielt die Reformbereitschaft und Reformfähigkeit Gorbatschows „für sehr, sehr fraglich“ (S. 53). Wohl auch deshalb ließ sich Kohl im Herbst 1986 bei einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Newsweek dazu hinreißen, Gorbatschow als kommunistischen Führer zu charakterisieren, der „etwas von PR“ verstehe und ergänzte dann mehr als unglücklich „Goebbels verstand auch etwas von PR“ (S. 153). Im Verhältnis zwischen Bonn und Moskau entstand nun der Eindruck einer „Vereisung des deutsch-sowjetischen Klimas“.

Die SED-Führung in Ost-Berlin hatte hingegen bereits frühzeitig erkannt, welche bahnbrechenden Veränderungen Gorbatschow anstrebte und wie fatal sich diese für die weitere politische Entwicklung der DDR auswirken würden. Nach dem XXVII. Parteitag der KPdSU ließ Erich Honecker deshalb im Frühjahr 1986 folgendes festhalten: „Der nächste Parteitag der KPdSU wird 1991 stattfinden. Angesichts ihrer Entwicklung hier sollten wir unseren Parteitag schon 1990 durchführen. Dann brauchen wir in unseren Materialien nicht aufnehmen, was die Russen vorher auf ihrem Parteitag beschlossen haben. Und wir lassen uns dann alle noch mal wählen!“ (S. 97) Noch besorgter zeigte sich der SED-Chef im Winter 1987, als er dem neu ernannten DDR-Botschafter in Moskau, Gerd König, mit auf dem Weg gab, dass „durch diese unkontrollierten Entwicklungen in der Sowjetunion bereits Erschütterungen in der DDR aufgetreten wären“, zumal man hier „immer von der Sowjetunion gelernt und die Menschen in diesem Sinne erzogen“ (S. 193) habe. Die Ablehnung der Ideen Gorbatschows durch die DDR-Führung gipfelte schließlich in der Aussage des für Kultur zuständigen ZK-Sekretärs Kurt Hager am 9. April 1987 gegenüber dem Stern: „wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, [würden sie] sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ (S. 202) Die DDR-Bevölkerung sprach sich hingegen, wie Umfragen von Infratest unter ostdeutschen Besuchern in der Bundesrepublik belegten, mit breiter Mehrheit für die Reformpolitik Gorbatschows aus.

Als der sowjetische Parteiführer im Dezember 1987 in Washington zusammen mit Ronald Reagan den INF-Vertrag unterzeichnete, der erstmals die Vernichtung aller sowjetischen und amerikanischen Mittelstreckenwaffen zwischen 500 bis 5500 Kilometern Reichweite festlegte, bezeichnete die bundesdeutsche Presse dieses Ereignis als sensationell. In der Folge wurden nicht nur die USA, sondern vor allem auch Deutschland in West und Ost endgültig von der „Gorby-Mania“ ergriffen. Ende 1987 hatten bereits 73 Prozent der Bundesbürger eine gute Meinung von Gorbatschow, der damit innerhalb von nur anderthalb Jahren seine Popularität in Westdeutschland mehr als verdoppeln konnte. Über seine Präsenz in den Medien war der sowjetische Parteichef damit endgültig zu einem Faktor der westdeutschen Politik geworden. Gleichwohl konnte Kohl sein Misstrauen gegenüber dem Kreml-Chef selbst 1987 immer noch nicht überwinden. Bundesaußenminister Genscher ging hingegen davon aus, dass Gorbatschow in der Deutschland-Politik Bewegungsmöglichkeiten erkennen lasse und damit die deutsche Frage im Prinzip wieder offen sei.

In der DDR sorgte im Herbst 1988 das Verbot der sowjetischen Zeitschrift Sputnik zu einer neuen Sympathiewelle für Gorbatschow und seine Reformen. Zudem veranlasste diese Maßnahme der SED-Führung viele DDR-Bewohner zur Reflektion der Gegensätze zwischen der reformfreudigen Sowjetunion und dem verkrusteten ostdeutschen Staat. Ein Stimmungsbericht des Ministeriums für Staatssicherheit sprach sogar davon, dass „damit erstmals eine Entscheidung getroffen [wurde], die in offener Konfrontation zur Politik der UdSSR stehe“ (S. 353). Gorbatschow wurde damit in der DDR immer mehr zur Chiffre für Reformforderungen in dem ostdeutschen Staat. Spätestens als bei den Jubelfeiern zum 40. Jahrestag der DDR tausendfach der Ruf „Gorbi! Hilf!“ erschallte, schien auch für den letzten klar zu sein, dass die Perestroika und Glasnost des Kreml-Chefs die DDR bis ins Mark erschüttert hatten. Das Ende der SED-Diktatur stand nun unmittelbar bevor, oder wie es Gorbatschow selbst ausgedrückt hatte: „Wer zurückbleibt, den bestraft das Leben sofort.“ (S. 543)

Vier Monate zuvor hatte Gorbatschow in Bonn das Eis in der Beziehung zu Bundeskanzler Kohl endgültig gebrochen und ein neues Kapitel der deutsch-sowjetischen Beziehungen aufgeschlagen. Dass dies nicht nur leere Worte waren, zeigten wenig später der Zusammenbruch des SED-Regimes und der Fall der Mauer. Die für lange Zeit als nicht lösbar geltende deutsche Frage, wurde innerhalb weniger Monate entschieden und damit der Weg zur Wiedervereinigung frei gemacht. Gorbatschow selbst konnte jedoch innenpolitisch von seiner weltbewegenden Außenpolitik nicht profitieren und scheiterte im Machtkampf gegen den Radikalreformer Boris Jelzin, der die Idee einer sozialistischen Sowjetunion gegen ein kapitalistisches Russland tauschte.

Wentker zeigt in seinem Buch aber eindrucksvoll, dass die Niederlage Gorbatschows als Reformer für dessen Bild im doppelten Deutschland nur eine untergeordnete Rolle spielte. Wichtiger für die Deutschen waren dessen politische Phantasien, die bewiesen, dass sich der Lauf der Geschichte nicht einhegen lässt und immer wieder überraschende Wendungen nimmt. In seiner Gestalt bündelten sich zudem die Hoffnungen der Westdeutschen als Friedensbringer, während er in Ostdeutschland als geachteter Reformer galt. Mit seiner gewichtigen, anregenden, tiefgehenden und umfassenden Arbeit trägt der Autor in ganz erheblichem Maße dazu bei, neuen Generationen dieses einmalige Sonderverhältnis der Deutschen zu einem eigentlich gescheiterten sowjetischen Politiker deutlich zu machen.

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