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Titel
Anti-Jewish Violence in Poland, 1914–1920.


Autor(en)
Hagen, William W.
Erschienen
Anzahl Seiten
xxiii, 541 S.
Preis
£ 24.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Struve, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

In den Jahren 1918 bis 1920, als Polen die staatliche Unabhängigkeit wiedererlangte, gab es eine große Zahl von Ausschreitungen und anderen Gewalttaten gegen Juden von Seiten der nichtjüdischen Bevölkerung. Pogromartige Ausschreitungen hatten sich in den polnischen Gebieten wie in vielen anderen Teilen Europas auch schon im 19. Jahrhundert ereignet.1 In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gab es sie allerdings in größerer Zahl und mit beträchtlich mehr Todesopfern. Die Studie berücksichtigt knapp ebenfalls die vorhergehenden Jahre des Weltkriegs. Hier ging die Gewalt jedoch im Wesentlichen von russischen Militäreinheiten aus, die zeitweise Teile des österreichischen Galiziens besetzt hatten (S. 67–86).

Der Verfasser stellt seiner Untersuchung eine längere methodische und theoretische Einleitung voran. Darin entwickelt er, vor allem gestützt auf Arbeiten von Alina Cała und Joanna Tokarska-Bakir, die These eines engen Zusammenhangs zwischen dem Bild der Juden in der christlich geprägten Volkskultur und den Pogromen.2 Auf dieser Basis sowie unter Rückgriff auf das Konzept der „moral economy“ von Edward P. Thompson und auf Forschungen zu karnevalesken Strafritualen in der Vormoderne deutet er die Pogrome als Handlungen, die eine gerechte, aus Sicht der Täter von den Juden verletzte Ordnung wiederherstellen sollten.

Wie Hagens Studie eindrücklich zeigt, wurden Juden in der Zeit zwischen 1918 und 1920 in drei wesentlichen Kontexten zum Ziel von Gewaltakten. Dies war zum einen die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit Polens. In diesem Kontext stand der Pogrom in Lemberg zwischen dem 22. und 24. November 1918, der mit ungefähr 150 Toten, wie Hagen annimmt, das größte einzelne Gewaltereignis dieser Art im betrachteten Zeitraum war. Er fand im Anschluss an dreiwöchige Kämpfe polnischer und ukrainischer Militäreinheiten um die Stadt statt, nachdem die polnischen Truppen die ukrainischen Einheiten vertrieben hatten. Vertreter der Juden hatten sich in diesem Konflikt für neutral erklärt und eine eigene Miliz zum Schutz eines vorwiegend von Juden bewohnten Teils der Stadt aufgestellt. Dieses Verhalten erschien angesichts des aus polnischer Sicht zutiefst polnischen Charakters der Stadt offenbar als Verrat. Hier und auch an anderen Orten war die oft unter zionistischem Einfluss stehende, selbstbewusste Artikulation eigener Forderungen seitens der Juden für viele Polen überraschend und unvereinbar mit ihrem Bild der Juden als einer in der Gesellschaft untergeordneten Gruppe. In Lemberg führte dies dazu, dass die Feier des Sieges über die Ukrainer mit Ausschreitungen gegenüber Juden einherging. Eine zentrale Rolle spielten dabei Angehörige der polnischen Militäreinheiten, deren Beteiligung auch für die hohe Opferzahl verantwortlich war. Ausschreitungen im Zusammenhang der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit gab es im November 1918 aber auch an anderen Orten, ohne dass es dort jedoch eine größere Zahl von Toten gab.

Der zweite Kontext bestand in Hungerprotesten und sozialrevolutionären Bewegungen. Daraus gingen im November 1918 und im Frühjahr 1919 eine Reihe von Ausschreitungen in kleineren Städten Westgaliziens hervor, die sich vorwiegend gegen jüdische Händler richteten. Gleichzeitig teilten Bauern aber auch Gutsland und das Inventar von Gutshöfen unter sich auf. In der „Republik von Tarnobrzeg“ östlich von Krakau zeigten sich solche Tendenzen am stärksten. Bei den antijüdischen Gewalttaten in dieser Region spielten aber auch desertierte Soldaten eine Rolle, die sich in größerer Zahl in Wäldern verborgen hielten. Dass es nun, anders als bei einer Pogromwelle im Jahr 1898 in der gleichen Region, auch Todesopfer gab, dürfte in erster Linie auf die Beteiligung solcher ehemaligen Soldaten, die über Schusswaffen verfügten, zurückzuführen sein.

Der dritte Kontext bestand im polnisch-sowjetischen Krieg 1919/20, in dessen Verlauf die stereotype Sicht auf Juden als vermeintliche Unterstützer der Sowjets Auftrieb bekam. Die Täter stammten auch hier in erster Linie aus polnischen Militäreinheiten. Angesichts dessen gab es in diesem Kontext die meisten Todesopfer. Große, auch internationale Aufmerksamkeit erregten neben dem Pogrom in Lemberg im November 1918 Ausschreitungen im Frühjahr 1919 in Wilna, Lida und Pinsk mit jeweils mehreren Dutzend Todesopfern. Eine hohe Zahl antijüdischer Gewalttaten in diesem Kontext ereignete sich allerdings vor allem im Spätsommer und Herbst 1920 im Zuge der Rückeroberung von Gebieten, die während des Vorstoßes sowjetischer Truppen im August 1920 bis vor Warschau zeitweise von diesen besetzt gewesen waren.

Hagen zählt insgesamt 279 „anti-Jewish riots or pogroms“ in den polnischen Gebieten. Die Zahl der insgesamt dokumentierten Todesopfer lag dabei zwischen 400 und 532. Er nimmt allerdings an, dass die tatsächliche Zahl um einige hundert höher war, da insbesondere die Gewalttaten während des polnisch-sowjetischen Kriegs nur unvollständig in den Quellen erfasst sein dürften (S. 512).

Der Umfang der antijüdischen Gewalt war in diesen Jahren in Polen damit deutlich geringer als in den weiter östlich gelegenen Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten des ehemaligen Russländischen Reiches. So fielen allein in der Ukraine vermutlich mindestens 60.000 Juden Pogromen zum Opfer, die meisten von ihnen im Jahr 1919. Die tödliche Gewalt ging auch hier vor allem von unterschiedlichen Armeen und anderen bewaffneten Gruppierungen aus, deren Herrschaft vielerorts in rascher Abfolge wechselte.3 Die vorliegende Studie eröffnet ebenfalls einen Blick in diese Welt der Gewalt, in die zeitweise auch die östlichen Grenzregionen in Weißrussland und Wolhynien einbezogen waren. Detailliert dokumentiert Hagen hier vor allem Verbrechen, die von Truppen des mit Polen verbündeten Generals Stanisław Bułak-Baranowicz verübt wurden, nachdem dieser sich nach der Niederlage der Weißen Nordarmee im Frühjahr 1920 mit seinen Truppen in die zwischen Polen und Sowjetrussland umkämpften weißrussischen Gebiete abgesetzt hatte.

Die sehr quellennah geschriebene Studie stützt sich vorwiegend auf Berichte, die von polnischen Regierungskommissionen, der jüdischen Sejm-Fraktion und von jüdischen Organisationen in Polen gesammelt wurden und die sich im Archiwum Akt Nowych in Warschau und dem Central Zionist Archive in Jerusalem befinden. Darüber hinaus hat William Hagen für die Gewalttaten im Zusammenhang des polnisch-sowjetischen Kriegs Berichte im Polnischen Militärarchiv sowie, vor allem für die Ausschreitungen in Galizien 1918 und 1919, auch Ermittlungs- und Gerichtsverfahren der polnischen Justiz herangezogen.

Aus Sicht des Rezensenten wäre an manchen Stellen eine stärkere Einbettung der Quellenanalyse in die sozial- und politikgeschichtliche Forschungsliteratur wünschenswert gewesen. So bleibt beispielsweise der politische Zusammenhang der Angriffe auf Juden in dem sozialrevolutionären Kontext in Galizien etwas unterbelichtet und wird nicht immer klar vom nationalen Kontext der Erlangung der Unabhängigkeit unterschieden (vgl. z.B. S. 134f., 144, 262f.). Außerdem benutzt Hagen an verschiedenen Stellen einen übermäßig ausgedehnten Kosakenbegriff. Tatsächliche Kosaken dürften nur an Pogromen der russischen Besatzungstruppen in Galizien während des Ersten Weltkriegs beteiligt gewesen sein, auch wenn sich manche ukrainische und andere Einheiten nach 1918 einer kosakischen Symbolik bedienten (S. 467f., 506; vgl. auch S. 78).

Insgesamt hat William Hagen jedoch eine beeindruckende, grundlegende Studie zu diesem lange umstrittenen Thema vorgelegt. Über die bisher einzige umfassende Behandlung in Frank Golczewskis 1981 publizierter Habilitationsschrift4 geht Hagens Buch nun deutlich hinaus. Es bezieht zahlreiche zusätzliche Quellen und lokale Geschehnisse ein, insbesondere während des polnisch-sowjetischen Kriegs 1920, und entwickelt einen innovativen Deutungsansatz, der auch bei Forschungen zu antijüdischer Gewalt in anderen Zeiten und Regionen Berücksichtigung finden sollte.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu nun den umfassenden Überblick bei Werner Bergmann, Tumulte – Excesse – Pogrome. Kollektive Gewalt gegen Juden in Europa 1789–1900, Göttingen 2020.
2 Alina Cała, The Image of the Jew in Polish Folk Culture, Jerusalem 1995; Joanna Tokarska-Bakir, Legendy o krwi. Antropologia przesądu [Legenden über Blut. Anthropologie eines Vorurteils], Warszawa 2008.
3 Vgl. Henry Abramson, A Prayer for the Government: Ukrainians and Jews in Revolutionary Times, 1917 – 1920, Cambridge, Mass 1999, S. 109–140; Oleg Budnitskii, Russian Jews between the Reds and the Whites, 1917–1920. Jewish Culture and Contexts, Philadelphia 2012, S. 216–274.
4 Frank Golczewski, Polnisch-jüdische Beziehungen 1881–1922. Eine Studie zur Geschichte des Antisemitismus in Osteuropa, Wiesbaden 1981, S. 181–283.

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