Das französische Bürgertum hatte Angst. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts fürchtete es um den Fortbestand der eigenen Nation, die angesichts des Geburtenrückgangs und der vermeintlich überproportionalen Vermehrung „Minderwertiger“ gefährdet schien. Zugleich sah man die eigene politische Führungsrolle in der Dritten Republik durch Sozialisten und Gewerkschaftler herausgefordert. Die Angst war aber auch eine ganz konkrete: In den Vororten der Großstädte, und des Nachts eigentlich überall – so verkündete es vor allem die Pariser Massenpresse – lauerten kriminelle Jugendbanden, die dem anständigen Bürger nach Geldbörse, Leib oder gar Leben trachteten: die so genannten „Apachen“, moderne Indianer als Produkt der Urbanisierung.
Bettina Schmidt nimmt diese „Apachen“ in ihrer Freiburger Dissertation zum Ausgangspunkt, das Phänomen der Jugenddelinquenz ebenso wie die daran anschließenden Redeweisen kritisch zu untersuchen. Sie beschränkt sich dabei auf das Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, als der Begriff des „Apachen“ aufkam, popularisiert und politisch instrumentalisiert wurde. Die Autorin verfolgt eine doppelte Zielsetzung: Zum einen will sie aufzeigen, welche Diskursstränge mit dem Thema der Jugendkriminalität verbunden wurden, um ordnungspolitische oder sozialintervenistische Vorhaben zu legitimieren. Zum anderen untersucht sie die Lebenswirklichkeit der kriminellen Jugendlichen, fragt nach Sozialisation, Lebensentwürfen und Arbeitserfahrungen. Methodisch orientiert sich Schmidt an der historischen Diskursanalyse, die sie um sozialgeschichtliche Fallstudien ergänzt.
In Schmidts Argumentation ist der Begriff der „Krise“ zentral. Vor allem die Pariser Zeitungen hätten zu einer Kultur der „Massenverunsicherung“ (S. 9, 23) beigetragen, indem sie gesellschaftliche Probleme aus wirtschaftlichem Kalkül dramatisierten und damit die Politiker in ihrer Entscheidungsfreiheit einengten. Das Ergebnis war eine „moderne Kriminalpolitik“, die ihre mangelnde fachliche Kompetenz durch aggressive Forderungen zu überspielen suchte – auf Kosten der angeblich angestrebten gesellschaftlichen Einheit. Tatsächlich vertiefte sich die Spaltung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft und trug zu einem Vertrauensverlust in das politische System der Dritten Republik maßgeblich bei, ganz im Gegensatz zum später gepflegten Zerrbild der „harmonischen“ Belle Époque.
Schmidts Untersuchung verarbeitet eine sehr umfangreiche Menge von Quellen und Sekundärliteratur. Die Autorin wertet zeitgenössische Publikationen ebenso aus wie Justiz- und Polizeiakten, Tageszeitungen und Romane. Die französischsprachige Forschung wird umfassend rezipiert. Schmidt ist die erste, die das Phänomen des „Apachismus“ ins Zentrum einer Monografie stellt, auch wenn sie sich auf Vorarbeiten einiger französischer und amerikanischer Historiker stützen kann. Egal ob Pressediskurs, Medizingeschichte oder politische Entwicklung – der Autorin gelingt es, komplexe Sachverhalte im Hinblick auf ihre Fragestellung gewinnbringend zu analysieren.
Der „Apachismus“, das wird deutlich, war ein „Konstrukt“, das sich auf zahlreichen gesellschaftlich-sozialen und politischen Feldern auswirkte, sei es in Diskussionen über den Strafvollzug Jugendlicher, sei es bei den Parlamentsdebatten um die Abschaffung der Todesstrafe. Allerdings stehen Quellenzitate und Analyse zuweilen in einem unausgewogenen Verhältnis. An manchen Stellen ist die Arbeit sehr deskriptiv und reiht zeitgenössische Aussage an Aussage, während die Analyse sowohl der Zitate als auch die Einbettung in den zeithistorischen Kontext knapp ausfällt. So erwähnt Schmidt mehr en passant den bemerkenswerten Umstand, dass die Furcht vor dem „Apachismus“ mit dem Ersten Weltkrieg schlagartig vorbei war und auch in den zwanziger Jahren nicht mehr, oder höchstens als schwacher Abglanz früherer Zeiten, wiederkehrte. Hier hätte man gerne mehr gewusst, denn schließlich wurde – wie Schmidt selbst ausführt – über die Integrationskraft und „Erziehungsleistung“ des Militärs schon vor dem Krieg kritisch geurteilt. Auch der Blick über nationale Grenzen hinweg kommt zu kurz.
Eine stärkere Raffung des Textes hätte manchen Kapiteln gut getan, ebenso wie ein gründliches Lektorat. Unvollständige Sätze (S. 44, 49), eigenwillige Auflistungen mitten im Satz (S. 71) und umgangssprachliche Wertungen schmälern den ersten guten Eindruck. Auch wenn Zwischenfälle zu einem Faits divers „befördert werden“ (S. 111), ist das sprachliche Bild schief. Der ausgiebig gebrauchte Pluralis auctoris ist zumindest Geschmackssache.
Inhaltlich fällt auf, dass einige Aussagen der Autorin im Widerspruch zu den erkenntnistheoretischen Postulaten, wie sie Schmidt in ihrer umfangreichen Einleitung dargelegt hat, stehen. Welche Kriterien der massenmediale Diskurs erfüllen musste, um den Kriterien der „Wirklichkeitsangemessenheit“ (S. 50) zu genügen, bleibt beispielsweise vage. Auch aufs Ganze gesehen besteht eine unaufgelöste Spannung zwischen dem methodischen Ansatz und dem empirischen Vorgehen, die Fragen aufwirft. So zeigt Schmidt in ihrem zweiten Kapitel zunächst überzeugend, in welchem Maße die „Apachenfurcht“ der massenmedialen Dramatisierung geschuldet war, scheint diese Zuschreibung beziehungsweise Konstruktion des massenmedialen Diskurses dann aber ihrem dritten und vierten Kapitel zu Grunde zu legen, wenn sie untersucht, wie sich die massenmedial thematisierten Verbrecher „tatsächlich“ verhielten. Ihre Untersuchungen über Sozialisation, die Schul- und Berufsausbildung französischer Arbeiterkinder, ihr Freizeit- und Konsumverhalten sind als Einzelstudien aufschlussreich, tragen aber wenig zur Erklärung des Apachen-Phänomens bei.
Zugespitzt gesagt: Der „Apachen-Diskurs“ verrät viel über Ängste und Vorurteile des bürgerlichen Frankreichs, aber wenig bis gar nichts über das Leben derjenigen Gesellschaftsschichten, aus denen sich die „Apachen“ vermeintlich rekrutierten. Diese Lesart legen auch viele der Ego-Dokumente nahe, die die Autorin untersucht. „Wir haben nur in der Presse Bandennamen gefunden“, schreibt Schmidt selbst (S. 364), ohne jedoch Konsequenzen aus diesem Umstand zu ziehen. In ihrer Schlussbetrachtung postuliert sie, dass der „Eigen-Sinn von ,apacherie‘“ nicht in „Großtheorien“, sondern in der „praktischen Logik ihrer unterschichtigen Lebens- und Erlebniswelt” zu finden sei (S. 544). Nach der Lektüre von Schmidts Arbeit ist der Rezensent jedoch vom Gegenteil überzeugt.
Alles in allem hat Bettina Schmidt eine verdienstvolle Arbeit vorgelegt, die einige zentrale Debatten um Jugend, Kriminalität und den Schutz des „Volkskörpers“ in der Dritten französischen Republik für eine deutsche Leserschaft aufbereitet und verknüpft. Ihre Ergebnisse verdeutlichen, wie stark in der damaligen französischen Gesellschaft der Wunsch bestand, die vermeintlich Schuldigen für gesellschaftliche Probleme auszugrenzen, ohne die Ursachen dieser Probleme von Grund auf zu bekämpfen. Eine aggressive Säuberungsrhetorik war Alltag. Schmidts Thema ist auch heute noch aktuell – Kontinuitäten zum Umgang mit den jugendlichen Krawallmachern in den französischen Vorstädten der letzten Jahre deutet die Autorin an.