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Titel
Zeitgärten. Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit


Autor(en)
Hölscher, Lucian
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sina Steglich, German Historical Institute London

Geschichte ist immer Zeit. So ließe sich mitunter in einer geschichtswissenschaftlichen Einführungsvorlesung eine definitorische Abkürzung nehmen. Dass eine derartige Ab- oder besser: Verkürzung jedoch mehr Fragen aufwirft als sie zu beantworten vermag, wird jeder und jedem schnell klar, die oder der lesend auf Kapitelüberschriften etwa namens „Kontinuitäten und Brüche“ stößt, der eine Klausur zum Thema „Das Zeitalter der Revolutionen“ vorzubereiten hat oder in einer Seminararbeit „das moderne Fortschrittsnarrativ“ zu analysieren sucht. Geschichte ist Zeit. Das aber ist nicht Erklärung oder gar Lösung, darin artikuliert sich vielmehr ein Problem: Welcher Art ist diese Zeit, wo manifestiert(e) sie sich, wie lässt sie sich historisch fassen?

Mit „Zeitgärten“ hat Lucian Hölscher nicht seinen ersten Band zum Thema der Zeiten in der Geschichte vorgelegt, und es ist auch nicht der umfangreichste1, aber – so viel sei bereits vorweggenommen – es ist eine besonders luzide Auseinandersetzung mit einer sehr grundsätzlichen Frage beziehungsweise kognitiven Zumutung historiographischen Arbeitens: Wie lässt sich Zeit im Rahmen der Annahme eines einheitlichen historischen Zeitverlaufs nuanciert – und das meint plural – denken und historisieren? Die titelgebende, auf den französischen Bischof Jacques Bénigne Bossuet und seinen Discours sur l’histoire universelle (1681) zurückgehende Metapher verweist auf das Programm, dem Hölscher folgt, wenn er unterschiedliche Zeitfiguren aufspüren möchte und „nach dem Raum, dem ‚Garten‘, in dem die Zeitfiguren miteinander leben“, fragt (S. 16). Denn um ein derartiges Abstraktum wie die Zeit, zumal wenn sie sich durch ihre historische Distanz gewissermaßen im doppelten Sinne eines direkten Zugriffs entzieht, analytisch in den Griff zu bekommen, bedürfe es ihrer „Verkörperung“, ohne die sie „schlichtweg nicht existent“ wäre (S. 17).

Der besondere Reiz von Hölschers Ausführungen liegt just darin, dass er diese geschichtstheoretische Fragestellung anhand eines historiographiegeschichtlichen Panoramas erörtert und dadurch die Relevanz, den Formenreichtum und die Unabgeschlossenheit dominanter Zeitfiguren konkret am Beispiel geschichtswissenschaftlicher Praxis der Neuzeit nachvollzieht. Die Reflexion von Zeit(en) in der Geschichte ist dieser Darstellung zufolge schlicht kein entbehrliches Addendum einer irgendwie gearteten „realen“ Geschichte, „kein von außen an die Abfolge der einzelnen Ereignisse herangetragenes Interpretament“, sondern die Darstellung, Erinnerung und Einbettung dieser in das, was so erst zu Geschichte gerinnt, bildet jeweils einen (oder mehrere benachbarte) „Zeitgärten“ aus (S. 279).

Nach einem Auftakt über die philosophisch-theologische Erörterung der Natur der Zeit seit der Aufklärung und ihrem Verhältnis zum Raum widmet sich die Darstellung so 24 exemplarischen, mehrheitlich deutschen Geschichtswerken vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, von August Ludwig Schlözer über Lucien Febvre bis hin zu Eric Hobsbawm und Willibald Steinmetz .Die jeweils auftauchenden Zeitfiguren werden extrahiert und nach deren Rolle für die Darstellung gefragt. Der bunte Reigen, der abschließend noch einmal systematisch diskutiert wird, umfasst annalistisch-systematisierende ebenso wie chronologisch-verlaufsorientierte Zeitfiguren, solche, die ein spezifisches Epochen- oder Zeitalterkonzept konfigurieren, und andere, die zyklisch, wellenförmig, geschichtet, retrospektiv-abschließend wie prospektiv-zukunftsoffen angelegt sind, wieder andere Zeitfiguren können die Distanz zwischen einer deutenden Gegenwart und einer fremden Vergangenheit akzentuieren oder genau umgekehrt eine diachrone Gleichzeitigkeit gegenwärtiger und vergangener Gegenwarten konstatieren oder aber besonders prominent in Gestalt von Brüchen, von Utopien, apokalyptischen Szenarien oder gar dem Zeitenende als einem Ende der Geschichte auftreten. Erachtet man all diese Formen nicht als schlichte, bedeutungslose „Zeithülsen“ oder gar banale Datierungsvehikel, werden sie zu plastischen „Zeitkörpern“, die den Reichtum historischer Narrative widerspiegeln (S. 229). Auf diese Weise stellen Zeitfiguren gewissermaßen einen Schlüssel dar, mit dem Vergangenheit für ein Erkennen und Verstehen aufgeschlossen wird und deren Deutungsvarianzen sichtbar werden lässt.

Um bei all der Pluralität und Widerläufigkeit derartiger Präsenz von Zeit in Geschichte und Geschichten nicht den erdenden Grund, den allen „Zeitgärten“ gemeinsamen Acker, aus dem Blick zu verlieren, hält Hölscher an den zwei Grundkonzepten der „leeren“ und der „verkörperten“ Zeit (zu denen schließlich alle betrachteten Zeitfiguren zu zählen sind) fest, da neuzeitliche Geschichtsschreibung immer auf beiden fuße und sie die „Bauprinzipien historischer Diskurse zu erkennen“ hälfen (S. 37). Man muss also keineswegs eine universalistische gegen eine konstruktivistische Auffassung von Geschichte und Zeit gegeneinander ausspielen, wenn man mit Hölscher Zeitfiguren als Körper auffasst, die einander im Raum der „leeren Zeit“ begegnen, Relationen eingehen und so beides – temporale Individualität und Vielfalt wie temporale Universalität – zu denken erlauben. Denn die „leere Zeit“ im Singular kann eben „unterschiedliche Zeiten [im Plural] in sich beherbergen“ (S. 284). Obwohl der Verfasser schließlich doch die Pluralität nicht ganz wertfrei Pluralität sein lässt, sondern konstatiert, dass „die Zahl der Zeitfiguren im Laufe der Zeit“ zugenommen habe und damit durch die Hintertür der Zeitgartenkolonie die Zeitfigur des Fortschritts wieder als strukturgebend hineinlässt, besticht dieser Ansatz gerade ob seines Angebots, temporale Vielfalt in Einheit zu denken (S. 217).

Das zentrale Monitum ist so kein konzeptionelles, sondern eines, das sich an die Auswahl der berücksichtigten Geschichtsdarstellungen richtet: Wie es schon anderen Zeitenhistoriker/innen, prominent etwa Reinhart Koselleck, vorgehalten wurde, ließe sich die Konzentration auf deutschsprachige Werke kritisieren – was der Verfasser selbst thematisiert. Irritierender aber noch ist das gänzliche Fehlen weiblicher Stimmen. Bildeten Frauen keine Zeitfiguren aus, da ihnen lange Zeit das Feld der Geschichtsschreibung verwehrt blieb, da sie Werke vermeintlich ahistorischer, belletristischer Couleur hervorbrachten oder doch vor allem da sie weitaus seltener derartige große Überblickswerke verfassten, die hier im Fokus stehen? Ob das Argument nicht doch bereichert und um Zeitfiguren mitunter gar hätte ergänzt werden können durch die Berücksichtigung just solcher Stimmen, kann daher nur vermutet werden. Obwohl dies bedauerlich ist, schmälert es nicht den Mehrwert von Hölschers Präsentation der „Zeitfiguren in der Geschichte der Neuzeit“. Sie ist für gerade erst in die „Zeitgärten“ der Geschichte aufbrechende Studierende ebenso wie für zeitenhistorisch Versierte eine konzise, verständliche und elegant verfasste Lektüre, die den Nexus von Zeit und Geschichte nicht als End-, sondern als Ausgangspunkt von Fragen nimmt und verdeutlicht, dass dieser – oft implizit, seltener explizit – in den vergangenen 200 Jahren unverzichtbare Grundlage historiographischer Praxis und nicht etwa ein theoretisches Amuse-Gueule war.

Insofern ist das Sinnbild der „Zeitgärten“ mehr als Wortspielerei. Denn in dem, was wir tun, legen wir alle Gärten der Zeit an, ziehen in diese Sichtachsen und Perspektiven ein, ordnen sie durch die Herstellung von Entfernungen und Nachbarschaften, grenzen einzelne Räume gegeneinander ab oder stellen Verbindungen zwischen ihnen her. Und: Wir bewegen uns schließlich durch sie, um unseren Standort zu wechseln und bislang ungeahnte Felder des Gartens zu entdecken. Der Band mag die einen darauf aufmerksam machen, die anderen daran erinnern, dass wir alle Gärtner im Raum der Zeit sind und so zuallererst die „innere Ordnung“ von Geschichtsdarstellungen stiften (S. 216). Und wir vermögen sie auch zu erkennen, wenn wir uns Hölscher beim Gang durch diese Gärten anschließen und Zeitfiguren sehen und reflektieren lernen.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, 2., erweiterte Aufl., Göttingen 2016 (1. Aufl. 1999); ders., Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte (=Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft, Bd. 17), Göttingen 2003.

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