Cover
Titel
Russlands Traum von Amerika. Die Alaska-Kolonisten, Russland und die USA, 1733–1867


Autor(en)
Kropp, Henner
Reihe
Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa 15
Erschienen
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
204 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Diana Ordubadi, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Das Buch „Russlands Traum von Amerika“ ist aus der Dissertation des Autors Henner Kropp entstanden, mit der er 2018 an der Universität Regensburg promoviert wurde. Die wissenschaftliche Studie zu einem in der Forschung bis jetzt zu Unrecht unterbelichteten Thema erschien in der von Martin Schulze Wessel und Ulf Brunnbauer herausgebenden Reihe „Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa“ als Produkt der Graduiertenschule an den Universitäten München und Regensburg. Passend zum Grundsatz der Reihe widmet sich das Buch den transnationalen Verflechtungsprozessen im sogenannten Russisch-Amerika seit dem späten 18. Jahrhundert bis zum Jahr 1867, als Alaska vom Russischen Reich an die USA verkauft wurde.

Umfassend beleuchtet wird die Geschichte der Expansion des Russländischen Reiches auf den nordamerikanischen Kontinent, wobei „die unmittelbaren Träger dieses Prozesses – die russländischen Kolonisten in Alaska“ (S. 11) eine besondere Beachtung in der Analyse finden. Als gleich wichtig werden die Positionen der russischen und US-amerikanischen Regierung in Bezug auf Alaska in die Studie integriert. In der Frage, inwiefern sich das Selbstverständnis und die Interessen dieser drei ausgesuchten Akteursgruppen – das heißt Kolonisten vor Ort, die russische und US-amerikanische Regierung in St. Petersburg und Washington – voneinander unterschieden, sieht Henner Kropp das primäre Erkenntnisinteresse seines Buches. Methodisch knüpft er dabei stark an das Konzept von Imperium sowie an den Zentrum-Peripherie-Ansatz an.

Das Phänomen „Imperium“ verwendet Kropp als einen zentralen „Hintergrund, vor dem Akteure, Verflechtungen und Prozesse (neu)interpretiert werden“ (S. 12). Während die Anwendung des Begriffes „Imperium“ auf das Russländische Reich problemlos ist, erweist sich diese in Bezug auf die USA komplizierter. Da die USA aber seit ihrer Gründung expansionistisch-imperialistische Züge aufwies, entschied sich Kropp für den Imperialismus-Begriff, um den damit „verbundenen dynamischen Herrschaftsstrukturen“ Rechnung zu tragen (vgl. S. 12). Ausgehend von der Systematik Jürgen Osterhammels wird Russisch-Amerika aus postkolonialer Perspektive als „Stützpunktkolonie“ betrachtet (vgl. S. 14). Die Studie selbst knüpft nach der eigenen Aussage von Kropp an die These des Historikers Ilya Vinkovetsky an, dass „die russische Kolonie nicht nur in geographischer Hinsicht außergewöhnlich gewesen sei (…), sondern auch politisch“ (S. 22). Auf diese Weise wird die in der Forschung durch Dominic Lieven vertretene These (vgl. S. 20), Russisch-Amerika sei im kolonialen und wirtschaftlichen Kontext irrelevant gewesen, zurecht kritisch überprüft und durch die vorgelegte gründliche Studie widerlegt.

In den ersten zwei Kapiteln nähert sich die Analyse der Region von Alaska vergleichend aus russländischer und US-amerikanischer Perspektive. Zu Beginn werden die Motive und Akteure russländischer Kolonialpolitik als Vorgeschichte von Russisch-Amerika eingängig erläutert. Anschließend erfolgt eine übersichtliche Schilderung der Eroberung des Kontinents von Washington aus. US-amerikanisch-russische Verflechtungsgeschichte wird differenziert erörtert und auf die Komplexität dieser Beziehung zurecht hingewiesen, die keineswegs der vereinfachten Logik der Sowjethistoriografie „Freund“ – „Feind“ folgen darf (vgl. S. 60). Den beiden Machtzentren – St. Petersburg und Washington – attestiert Kropp schließlich eine in ihren Tendenzen ähnliche „doppelbödige Strategie“ (S. 51, 77) in Bezug auf die neue Kolonie. Das Russländische Reich demonstrierte einerseits aktiv das Interesse an Russisch-Amerika, um die Hegemonialrechte in Alaska zu rechtfertigen und sich gleichzeitig unter die westlichen Kolonialimperien einzureihen. Andererseits aber blieb Alaska aufgrund seiner Entfernung an der Peripherie selten im Mittelpunkt des politischen Interesses der Zaren. Auch von Washington aus wurden zwar die Kolonialansprüche auf ganz Amerika verkündet, bei der Frage ihrer Durchsetzung zeigte man sich eher zögerlich, zumal das tatsächliche Interesse an Alaska relativ gering ausfiel (vgl. S. 77).

Im dritten Kapitel schildert Kropp auf eine stichwortartige Weise verschiedene Wege, auf welchen der Okzident im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts Alaska für sich entdeckte: russisches Vorstoßen durch Sibirien, europäische Weltumsegelungen sowie die wirtschaftliche Erschließung von Boston aus und der Handel im Nordpazifik. Nach einer solchen umfassenden Beschäftigung mit der Region und ihrer Wahrnehmung aus unterschiedlichen Außenperspektiven, gewährt der vierte Kapitel „Russisches Leben im kolonialen Alaska“ einen Blick auf den nordamerikanischen Raum selbst, seine Natur und seine Bevölkerung, sowohl die indigene als auch die allochthone. In den Mittelpunkt der Betrachtung geraten unter anderem die Tätigkeit der Russisch-Amerikanischen Kompanie (RAK) und des RAK-Gouverneurs in Novoarchangel’sk Ferdinand von Wrangel. Besonders wertvoll gestalten sich die Ausführungen von Kropp zum Verhältnis von Russen zu Autochthonen und Allochthonen. Leider werden russisch-koloniale Herrschaftstechniken etwas pauschal geschildert. Postuliert wird ein eindeutiger Zivilisierungsauftrag seitens der Kolonisten, wobei die starken Unterschiede in den Intentionen verschiedener Akteursgruppen – wie die imperialistisch denkende russische Regierung in St. Petersburg, wirtschaftlich problemorientierte, aber auch humanistisch eingestellte Gouverneure vor Ort und nicht zuletzt die Missionare der russisch-orthodoxen Kirche – nicht separiert betont werden. Das ideelle Konzept von „Russisch-Amerika“ wird dagegen unter Berücksichtigung der imperialen Erschließung von Alaska eingängig erläutert.

Das letzte Kapitel widmet sich schließlich den „russischen Ambitionen und Aktivitäten im amerikanischen Raum über Alaska“ (S. 149) hinaus. In den Fokus geraten drei spannende und wenig bekannte Episoden über die missratenen Annäherungsversuche der RAK an das spanische Kalifornien, an Hawaii und zudem an den Columbia River an der amerikanischen Pazifikküste. Die Darstellung dieser drei Expansionsversuche knüpft an die Analyse aus den vorigen Kapiteln an und veranschaulicht die bereits vorher erkannte fatale Diskrepanz zwischen den kolonialen Erwartungen aus St. Petersburg und den lokalen Gegebenheiten an der Peripherie des Reiches, die schließlich zur Aufgabe und dem Verkauf von Russisch-Amerika an die USA 1867 führte.

Henner Kropp liefert eine gut strukturierte, übersichtliche und angenehm lesbare Studie ab. Die Monografie stützt sich vor allem auf russische und englischsprachige Forschungsliteratur, berücksichtigt leider auf inhaltlicher Ebene kaum die einschlägigen deutschsprachigen Publikationen.1 Das Buch profitiert dagegen von gründlichen Recherchen Kropps in allen für das Thema relevanten Archiven nicht nur in St. Petersburg, Washington und Boston, sondern auch in Tartu. Mit der multiperspektivischen Intention gliedert sich die Publikation in den bestehenden kolonialgeschichtlichen Diskurs ein. Russisch-Amerika wird nicht nur an sich verdientermaßen in den Fokus der Untersuchung genommen, sondern bietet zudem eine ergiebige Projektionsfläche für viele in der Imperialgeschichte untersuchte Aspekte.

Anmerkung:
1 Wie zum Beispiel: Boris Barth / Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005; Dittmar Dahlmann, Sibirien vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2009; Diana Ordubadi, Die Billings-Saryčev-Expedition 1785–1795. Eine Forschungsreise im Kontext der wissenschaftlichen Erschließung Sibiriens und des Fernen Ostens, Göttingen 2016; Matthias Winterschladen u.a. (Hrsg.), Auf den Spuren der modernen Sozial- und Kulturanthropologie. Die Jesup North Pacific Expedition (1897–1902) im Nordosten Sibiriens, Norderstedt 2016.

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