Cover
Title
Hermes und die Bürger. Der Hermeskult in den griechischen Poleis


Author(s)
Kuhle, Antje
Series
Hermes – Zeitschrift für klassische Philologie (119)
Published
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Extent
437 S.
Price
€ 78,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Tabea Meurer, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Mit der zu besprechenden Monographie hat Antje Kuhle die erste systematische Studie zum Hermeskult in den griechischen Stadtstaaten vorgelegt.1 Ihr Anspruch ist es einerseits, die Rollen und Funktionen der Gottheit Hermes für die Polis, ihre Bürger und Institutionen zu ergründen. Andererseits versteht die Autorin „Hermes und die Bürger“ als institutionengeschichtlichen Beitrag zur Diskussion um das Verhältnis von Polis und Religion.2 Damit schließt Kuhles Untersuchung, eine überarbeitete Fassung ihrer Göttinger Dissertation, gleich in mehrfacher Hinsicht an aktuelle Fachdebatten – sowohl innerhalb der Neueren Institutionengeschichte als auch im Bereich der griechischen Religionsgeschichte – an.3

Um Hermes als Gott der Polis, verstanden als rechtliche, soziale und territoriale Einheit (siehe S. 20–22), vorzustellen, entwirft Kuhle einen originellen Gliederungsansatz: Die Studie ist so konzipiert, dass der Hauptteil den „fiktiven Weg eines antiken Menschen in eine ideal[typisch]e Stadt nachzeichnet“ (S. 27). Auf diese Weise ließen sich nicht nur die Omnipräsenz der Kultaktivitäten, sondern auch deren integrativer Charakter trefflich demonstrieren: Hermes habe Chora und Asty ebenso wie öffentliche und private Räume verbunden. Passenderweise prangt ein Bildnis des Gottes auf dem Cover des Bandes, der (ausgerechnet) in der Reihe „Hermes-Einzelschriften“ erschienen ist, so dass Hermes auch in dieser Hinsicht die Lektüre begleitet. Thesen und Aufbau der Studie fügen sich so zu einem kohärenten Ganzen; dies ist angesichts des zugrundeliegenden disparaten, mehrere Jahrhunderte umspannenden literarischen und v.a. epigraphischen Quellenmaterials durchaus zu begrüßen. Auf eine knapp gehaltene Einführung in den Forschungsstand, die Methodik und zentrale Begrifflichkeiten (S. 11–28) folgt daher ein umfangreicher Hauptteil (2 „Der Hermeskult in den griechischen Poleis“, S. 29–339), der sich wiederum in mehrere Teilkapitel zu den einzelnen Polis-Räumen, in denen Kultaktivitäten für Hermes vollzogen wurden, untergliedert. Wiederkehrende Kapitel zu hermesbezogenen Festen (2.1.4, 2.3.3, 2.4.3 und 2.5.4) illustrieren zudem, wie religiöse Praktiken sämtliche Bereiche des Lebens in der Polis durchdrangen.

Entsprechend dem obigen Prinzip beginnt Kuhles fiktiver Rundgang an den Rändern des Polis-Territoriums (2.1 „Von den Eschatia zu den Bürgerhäusern“). Hier lernen Leserinnen und Leser Hermes als Gott der Grenzen kennen, dessen Präsenz gerade an Grenzheiligtümern, den sogenannten Hermaia, territoriale Ansprüche der Poleis bekräftigen sollte. Der (erfolgreichen) Grenzsicherung diente auch die Verehrung des Hermes Hegemónios durch Strategen, deren Weihgeschenke nach Ablauf der Amtszeit vor allem für Athen belegt sind. Damit widerspricht Kuhle zugleich einer weitverbreiteten älteren Auffassung, Hermes sei ein Gott der „einfachen Leute“ gewesen; schließlich bewachte Hermes als Torgottheit Eigenes und trennte es vom Fremden. Ähnliche Funktionen lassen sich zudem für innerstädtische Grenzen, z.B. zur Markierung von Marktplätzen, Gymnasia oder Heiligtümern, aber auch für Bürgerhäuser beobachten. Auch hier dienten Hermen dazu, unterschiedliche Rechtsräume abzugrenzen und Besucher willkommen zu heißen. Die folgende Analyse sogenannter „Ventilfeste“ (S. 109) zeigt, dass auch rituelle Grenzgänge bzw. -überschreitungen unter Hermes’ Schutz gestellt wurden. Diese Funktion finde sich zwar im Mythos – man denke nur an den Rinderdiebstahl des neugeborenen Gottes – vorgezeichnet, dennoch greife es zu kurz, sich allein auf Hermes als „Herrn der Diebe“ zu kaprizieren. Kuhle plädiert vielmehr dafür, Hermes als „Helfer an den Schwellensituationen des Lebens“ (S. 107) einzustufen, da der Gott selbst häufig als Jugendlicher vorgestellt werde und somit eine Schutzfunktion gerade für junge Bürgersöhne (und -töchter, siehe das Kapitel zu den Hochzeitsprozessionen 2.3.3.2) übernommen habe. Im Fest-Kontext lernten jene, wie sie sich durch regelkonformes Verhalten in die Polis-Gemeinschaft eingliedern konnten. Insofern garantiere Hermes den Fortbestand der Polis in „personaler“, sozialer und rechtlicher Hinsicht.

In den nächsten beiden Teilkapiteln (2.2 „Chora I“, 2.3 „Chora II“) stellt uns die Autorin den Hermeskult als „Bindeglied“ (S. 27) zwischen Zentrum und Peripherie griechischer Stadtstaaten vor. In Form von Hermen war Hermes nicht nur in außerstädtischen Heiligtümern präsent, sondern auch – spätestens seit Hipparchos – an Straßen und Wegen, wo er durch Lebensmittelgaben oder Libationen von Reisenden verehrt wurde. Diese Rolle als Wegbegleiter baue wiederum auf mythischen Vorstellungen von Hermes als mobilem Gott auf, dem „Hirten, Handeltreibende und Reisende“ (S. 178) auf ihrem Weg begegnen könnten. Gleichwohl wäre es ein Trugschluss, wie Kuhle im folgenden Kapitel 2.4 „Proastion I“ ausführt, Hermes’ Schutzfunktion für Reisende vorbehaltlos auf das Jenseits zu übertragen. Zwar sei die Vorstellung, Hermes habe die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt geleitet, in der Forschungsliteratur häufig anzutreffen, doch handele es sich bei Hermes Psychopompós um ein rein „literarisches Phänomen“ (S. 228) aus späterer Zeit, das auf die Odyssee-Rezeption gründe.4 Dem ständen zahlreiche Belege für Hermes Chthónios gegenüber. Indes gelte es, die Doppelbedeutung dieses Beinamens zu bedenken. Damit sei eben nicht nur die Unterwelt, sondern Erde im Allgemeinen bezeichnet, weshalb auch Bitten um Fruchtbarkeit an Hermes unter dieser Adoration überliefert seien. Ebenso wenig ließen sich Belege für Hermen an Grabbegrenzungen finden. Wenn Hermes daher in Grabkontexten auftauche, stehe häufig eher die Beziehung zwischen Gottheit und den Lebenden im Mittelpunkt, beispielsweise, indem die Verdienste eines Verstorbenen im Bereich der Agonistik gewürdigt würden.

So ergibt sich die Überleitung zum nächsten Teilkapitel 2.5, das Leserinnen und Leser auf ihrem fiktiven Rundgang zur „Station“ der Gymnasia führt. Dass Hermes sich zum Gott des Gymnasion entwickelt habe, erklärt Kuhle dabei mit seiner Rolle in der Bildung und Erziehung junger Bürger, die wiederum seit dem 4. Jahrhundert in der Ephebie institutionalisiert worden sei. Als Hermes [En]Agónios wachte der Gott zudem über die Wettkämpfe bzw. die Sportstätten selbst. Folglich gipfelten die Festkalender der Gymnasia in mehrtägigen Hermesfesten, die vor allem der kollektiven Selbstvergewisserung dienten. Von der sogenannten „zweiten Agora“ (S. 230) in den Poleis hellenistischer Zeit führt der Weg nunmehr ins städtische Zentrum (2.6 „Asty“). Als Hüter des Rechts war Hermes dort, z.B. durch Weihgeschenke von Magistraten, Marktaufsehern und -teilnehmern, so allgegenwärtig, dass Hermen in manchen griechischen Poleis einen topographischen Fixpunkt auf den Agorai bildeten. Mit Bezug auf die Kultpraxis mahnt Kuhle jedoch dazu, zwischen unterschiedlichen Sphären des Hermes Agoraíos, v.a. Politik und Handel, zu differenzieren, die sie wiederum zeitlich staffelt: Während die politische Bedeutung als Gott der Polis- und Marktordnung mindestens bis ins 5. Jahrhundert zurückreiche, gewinne der merkantile Aspekt ab dem späten 4. Jahrhundert an Bedeutung. Darüber hinaus verweist die Autorin auf die integrierende Wirkung des Hermeskultes im Bereich der Agora: Einerseits habe die Übernahme lokaler Beinamen für Hermes-Heiligtümer eine regionale Identitätsstiftung ermöglicht, insbesondere an Orten in Arkadien oder der östlichen Peloponnes, deren Gründungsgeschichten eng mit Hermes-Mythen verbunden waren. Andererseits eigneten sich Synchronisierungen von Opfern für Hermes auf zentralen und dezentralen Marktplätzen, um Zentrum und Peripherie zu verknüpfen.

Gerade im letzten Kapitel der Studie zeigt sich, dass Kuhle zwei zentrale Herausforderungen, die ihr Ansatz mit sich bringt, weitgehend meistert: Zum einen gelingt es ihr, die Entwicklung des Hermeskults auch aus diachroner Perspektive zu beleuchten, obwohl sie ihre Leserinnen und Leser durch eine gleichsam „zeitlose“, eben idealtypische Polis führt. Insbesondere ihre Beobachtungen zur Entwicklung des Hermeskults in hellenistischer Zeit regen zur weiteren Beschäftigung an. Zum anderen hebt Kuhle an zentralen Stellen innerhalb ihrer Untersuchung regionale Spezifika, gerade auch in Arkadien bzw. der östlichen Peloponnes, hervor. Mit Blick auf aktuelle Tendenzen, griechische Religion verstärkt auf lokaler Ebene oder jenseits der Polis zu untersuchen5, ergeben sich hier ebenfalls Anknüpfungspunkte für Folgestudien.

Kuhles Mahnung, „nicht von […] der ‚Polis-Religion‘ und ‚personal religion‘“ (S. 349) als „Gegenpolen“ (ebd.) zu sprechen, kann die Rezensentin nur beipflichten. Alles in allem steht der Mehrwert dieser institutionengeschichtlich fundierten Fallstudie zur Erforschung griechischer Religionsgeschichte außer Frage. Dem Buch ist eine breite Rezeption zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Nur eine Sektion zum Thema enthält John F. Miller / Jenny Strauss Clay (Hrsg.), Tracking Hermes, Pursuing Mercury, Oxford 2019.
2 Kuhle legt offenkundig ein doppeltes Institutionenverständnis zugrunde, das sowohl „harte“ gesellschaftliche Einrichtungen als auch habitualisierte Akte umfasst, siehe Kuhle, Hermes und die Bürger, 23.
3 Vgl. Julia Kindt, Polis Religion – A Critical Appreciation, in: Kernos 22 (2009), S. 9–34; Jan B. Meister / Gunnar Seelentag, Konkurrenz und Institutionalisierung. Neue Perspektiven auf die griechische Archaik, in: Jan B. Meister / Gunnar Seelentag (Hrsg.), Konkurrenz und Institutionalisierung in der griechischen Archaik, Stuttgart 2020, S. 11–38, hier S. 21–25.
4 Vgl. v.a. Hom. Od. 24,1–14.
5 Vgl. Hans Beck, Localism and the Ancient Greek City-State, Chicago 2020; Irene S. Lemos / Athéna Tsingarida (Hrsg.), Beyond the Polis. Rituals, Rites and Cults in Early and Archaic Greece (12th-6th centuries BC), Brüssel 2019 (Études d'archéologie, 15).

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