J. Picard u.a. (Hrsg.): Jüdischer Kulturraum Aargau

Cover
Titel
Jüdischer Kulturraum Aargau.


Herausgeber
Jacques Picard; Angela Bhend
Anzahl Seiten
528
Preis
CHF 59.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gerald Lamprecht, Centrum für Jüdische Studien, Karl-Franzens-Universität Graz

Im Jahr 1991 veröffentliche Monika Richarz den Text „Luftaufnahme – oder die Schwierigkeiten der Heimatforscher mit der jüdischen Geschichte“.1 Darin konstatierte sie, dass die erinnerungspolitische Wende der späten 1980er-Jahre im deutschsprachigen Raum zu einem erhöhten Interesse von Regional- und Lokalhistoriker:innen ebenso wie von Vertreter:innen einer engagierten Zivilgesellschaft an der jeweiligen jüdischen Lokalgeschichte geführt hat. Das Ergebnis dieses erwachten Interesses waren die Gründung von Vereinen, die sich um die baulichen Überreste der zerstörten jüdischen Gemeinden (meist Friedhöfe und Synagogen) ebenso bemühten, wie um die Publikation von Studien zur Geschichte einzelner jüdischer Gemeinden, respektive der jüdischen Geschichte von Städten und Regionen. Viele dieser mittlerweile in großer Zahl entstandenen Studien in Deutschland und Österreich erforschten auf Basis von meist bürokratischen Quellen aus den staatlichen Archiven akribisch die Spuren, die Jüdinnen und Juden in den einzelnen Quellen hinterlassen haben. Ein Charakteristikum dieser vor allem auch erinnerungspolitisch verdienstvollen Arbeiten ist damit häufig der Blick auf die jüdische Geschichte aus einer quellenbedingten nichtjüdischen Perspektive. Diese hatte jedoch immer wieder eine Externalisierung aus der allgemeinen Geschichte zur Folge, die auch durch das Bemühen eines „Beitragsnarratives“, das die positiven meist wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen von Jüdinnen und Juden für die Gesellschaft betont, nicht überwunden werden kann. Weiter neigen viele derart konzipierte Studien dazu, Jüdinnen und Juden zu einer über Jahrhunderte hinweg homogenen Gruppe zu machen, womit der Vielfalt jüdischer Lebenswelten und Selbstbilder nicht Rechnung getragen wird. Schließlich lassen viele dieser Arbeiten eine Einbettung der lokalen und regionalen Geschichte in größere geographische und ideengeschichtliche Zusammenhänge vermissen. Sie stellen ihren Untersuchungsgegenstand meist isoliert dar.

All diesen Schwierigkeiten und Fallstricken jüdischer Regionalgeschichte begegnen die Herausgeber Jacques Picard und Angela Bhend durch ihre konzeptionellen Überlegungen ebenso wie die Zusammenstellung der AutorInnen des über 500 Seiten starken Sammelwerkes „Jüdischer Kulturraum Aargau“. Der Gegenstand ihrer Untersuchung ist dabei die vielfältige translokale jüdische Geschichte des sprachlich-kulturellen Raums des Kantons Aargau, der in seiner heutigen territorialen Ausformung ein Produkt des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist und dem mit dem Surbtal und den beiden Gemeinden Lengnau und Endingen große historische Bedeutung für die schweizerische jüdische Geschichte seit dem Ende des 16. Jahrhunderts zukommt. Dabei werden jedoch nicht nur die jüdischen Lebenswelten im Kanton selbst, sondern auch die Beziehungen nach außen in den Blick genommen. Es geht um jüdische SchweizerInnen aus und im Aargau.

Eine Grundprämisse des Buches ist die Beschreibung des Jüdischen als Teil der Schweizer Kultur und Geschichte, wobei statt einer Homogenität des Jüdischen, David Biale folgend „Cultures of the Jews“2 beschrieben, Geschichten von Judentümern vom Mittelalter bis in die Gegenwart erzählt werden. Die einzelnen, meist nur wenige Seiten langen Beiträge widmen sich den vielfältigen Lebensentwürfen von Menschen ebenso wie den Geschichten von Dingen und Bauten und geben Einblick in die „reichhaltige Mehrteiligkeit des Jüdischen“ (S. 15). Diese Multiperspektivität wird auch durch die unterschiedlichen Zugänge der einzelnen AutorInnen gestützt. So versammelt das Buch Beiträge von 55 Autor:innen mit unterschiedlichen disziplinären und beruflichen Hintergründen: Kulturanthropolog:in, Historiker:in, Judaist:in, Religionswissenschaftler:in, Chronist:in, Musiker:in, Kulturaktivist:in, Gesellschafts- und Kulturwissenschaftler:in, Germanist:in oder Journalist:in finden sich als Professionsbezeichnung bei den biographischen Angaben im Anhang und spiegeln auch den konsequent interdisziplinären Zugang des Bandes. Damit diese Vielfalt der Beiträge und Zugänge jedoch nicht zur Beliebigkeit einzelner Geschichten führt, schaffen historische, kontextualisierende Beiträge eine ordnende Rahmung.

Der Band selbst unterteilt sich in acht Kapitel. In den einleitenden Texten legen zunächst Jacques Picard und Angela Bhend ihre konzeptionellen Überlegungen dar und verorten das Buch in gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Debatten. Thomas Pauli-Gabi wiederum setzt das gesamte Projekt in den Kontext einer seit etwas mehr als einem Jahrzehnt andauernden kulturpolitischen Hinwendung des Kantons Aargau zur Vergangenheit, die identitätsstiftende Ziele ebenso verfolgt wie touristische. Susanne Bennewitz geht in ihrem Beitrag der Lokalisierung des Aargau in der jüdischen Gedächtnislandschaft des 19. und 20. Jahrhunderts nach, während Stefanie Mahrer die jüdische Geschichte des Aargau in der größeren Tradition und Geschichte des alemannischen Landjudentums des Elsass, Südbadens und der Schweiz verortet. Zusammen bereiten diese einleitenden Texte den Boden für die Lektüre der weiteren Texte des Bandes, die sich auf folgende Kapitel aufteilen: Aus dem Aargau, in den Aargau. Gestalter und Zeugen in vielschichtiger Zeit; Spuren aus Antike und Mittelalter. Juden in einem mehrteiligen Aargau; Wege in die Neuzeit und das Wagnis der Moderne; Konvivenzen und Konflikte in der bürgerlichen Gesellschaft; Aus dem Aargau, in den Aargau. Stimmen und Stimmungen des Wandels; Bewegte Zeiten. Im Zeichen von Krieg, Verfolgung und neuer Aufbruchstimmung; Minhag Suisse. Kulturelle Erbschaften und Reaktualisierungen. In diesen Kapiteln finden sich biographische Skizzen (z.B. Fritz Kerr. Erneurer des Fussballs im Aargau) neben Texten über einzelne Gegenstände (z.B. Wickelgeschichten. Die Lengauer Tora-Wimpel) ebenso wie Texte zu historischen (z.B. Juden im mittelalterlichen Aargau), kulturellen oder literarischen Themen (z.B. Golem im Emmental. Zur Comicfigur des Mendel aus Endingen). Dank weniger Querverweise ist jeder einzelne Text für sich alleine les- und rezipierbar, und es werden spannende und teils unerwartet Einblicke in den jüdischen Kulturraum Aargau gewährt.

Der vorliegende Sammelband ist eine überaus gelungene jüdische Regionalgeschichte, die den LeserInnen die Vielgestaltigkeit jüdischer Geschichte und Lebensentwürfe des Kantons Aargau in der Geschichte und Gegenwart näher bringt. Dabei wird jüdische Geschichte stets innerhalb der allgemeinen Geschichte erzählt und in die großen kulturellen, ökonomischen, politischen und ideengeschichtlichen Entwicklungen Europas und darüber hinaus eingebettet. Die theoretisch reflektierte Konzeption des Bandes sowie die multiperspektivische und interdisziplinäre Umsetzung kann somit sicherlich als Vorbild für ähnlich gelagerte Vorhaben dienen.

Anmerkungen:
1 Monika Richarz, Luftaufnahme – oder die Schwierigkeiten der Heimatforscher mit der jüdischen Geschichte, in: Babylon 8 (1991), S. 27–33.
2 David Biale (Hrsg.), Cultures of the Jews. A New History, New York 2002.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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