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Titel
Humanisierung oder Rationalisierung?. Arbeiter als Akteure im Bundesprogramm "Humanisierung des Arbeitslebens" bei der VW AG


Autor(en)
Fuhrich, Gina
Reihe
Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte 8
Erschienen
Stuttgart 2020: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Neuheiser, Department of History, University of California San Diego

Dass die deutsche Geschichtswissenschaft und insbesondere die zeithistorische Forschung sich wieder für die Geschichte der Arbeit interessiert, ist keine große Neuigkeit mehr. Bereits seit einigen Jahren forschen wieder vor allem jüngere Historikerinnen und Historiker zu Fragen der Arbeitswelt, und der Trend zu einer „Neuen Geschichte der Arbeit“, die weniger auf die Organisationen der Arbeiterbewegung fokussiert und stattdessen betriebliche Beziehungen und den gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit thematisiert, hat auch institutionellen Niederschlag gefunden, etwa in Form eines breit aufgestellten Graduiertenkollegs der Hans-Böckler-Stiftung zum Wandel der Arbeitswelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das überregional am ZZF in Potsdam, am IfZ in München und am ISB in Bochum angegliedert ist.1 Größere Aufmerksamkeit erfuhr zuletzt Lutz Raphaels Versuch, die Gesellschaftsgeschichte Westeuropas „nach dem Boom“ über die genaue transnationale Vermessung des von ihm und Anselm Doering-Manteuffel bereits 2008 konstatierten „Strukturbruchs“ und nicht zuletzt des weitgehenden Verschwindens der klassischen Industriearbeiterschaft zu fassen.2 Ganz offensichtlich hat sich die Arbeitswelt im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts dramatisch verändert und das geschichtswissenschaftliche Äquivalent zu politischen Debatten über die Zukunft der Arbeit ist die Diskussion darüber, wie weit sich der neue, zunehmend globale und digitale „Finanzmarktkapitalismus“ des 21. Jahrhunderts von den Strukturen traditioneller westlicher Industrienationen entfernt hat, wie also das Verhältnis von Kontinuität und Bruch im Wandel zu bestimmen ist.

Gina Fuhrichs gelungene Heidelberger Dissertation zu betrieblichen Projekten des Anfang der 1970er-Jahre von der sozialliberalen Koalition aufgelegten Bundesprogramms „Humanisierung des Arbeitslebens“ (HdA) muss in diesen Zusammenhang gestellt werden. Das Programm war der Versuch, am Beginn einer sich abzeichnenden Krise der Industriegesellschaft durch politisches Eingreifen die Arbeitsbedingungen breiter Teile der westdeutschen Arbeitnehmer zu verbessern. Es ging um Arbeitsschutz und Mitbestimmung, letztlich aber um nichts weniger als die Modernisierung der westdeutschen Industriegesellschaft insgesamt, die gleichzeitig menschlicher und effizienter werden sollte. Weniger Fließbandarbeit, mehr kooperative Produktionsverfahren, insbesondere die Einführung moderner Formen der industriellen Gruppenarbeit wurden gefördert, nicht zuletzt um die Arbeitsmotivation jüngerer Industriearbeiter zu heben, um deren Arbeitsethos und grundsätzliche Zustimmung zur Sozialen Marktwirtschaft nach 1968 und im Zuge des bald konstatierten „Wertewandels“ breite Debatten entbrannten. Unter Federführung des SPD-geführten Bundesforschungsministeriums wurden erhebliche Mittel investiert und das Programm wurde ab 1974 mehrfach verlängert, bis es ab 1989 in mehrere Folgeprojekte umgewandelt wurde.3 Ungeachtet der Weiterführung durch die Kohl-Regierung war es ein Kernelement sozialdemokratischen Gestaltungswillens, was sich nicht zuletzt darin widerspiegelt, dass knapp zwei Drittel des finanziellen Gesamtvolumens, etwa 690 Millionen DM, bis 1981 aufgebracht wurden. Trotzdem wurde das Programm im Rückblick auch von gewerkschaftlicher Seite eher kritisch eingeschätzt – statt der erhofften Erhöhung der Lebensqualität sei vor allem eine Technologieförderung erfolgt, die zwar zur Rationalisierung und Modernisierung der westdeutschen Industrie beitgetragen habe, aber mit Blick auf eine menschlichere Arbeitsgestaltung kaum Erfolge aufweisen konnte.

Entsprechend stellt Fuhrich zunächst die Frage nach Erfolg oder Scheitern der beabsichtigten „Humanisierung“ in den Mittelpunkt ihrer Studie und beantwortet sie in einer detaillierten Analyse dreier größerer Projekte des Programms, die von 1975 bis 1982 in verschiedenen Werken des Volkswagen-Konzerns durchgeführt wurden. Dabei handelt es sich zum einen um ein prestigeträchtiges Projekt zur Einführung der Gruppenarbeit als Alternative zur Fließbandarbeit in der Motorenproduktion im VW-Werk Salzgitter, zum anderen um zwei Projekte zur Einführung von Industrierobotern in den VW-Werken in Wolfsburg und Hannover, die durch die Automatisierung Arbeitsentlastung und menschengerechtere Arbeitsplätze fördern sollten. Insgesamt waren rund 200 Beschäftigte beteiligt, die in unterschiedlicher Intensität in die Abläufe involviert waren oder von begleitenden Sozialwissenschaftlern zu den Auswirkungen der Projekte auf den Arbeitsalltag ausführlich interviewt wurden. Während die Arbeiter (und wenigen Arbeiterinnen) die Auswirkungen der Projekte insgesamt eher negativ beurteilten und von einem weitgehenden Scheitern der Humanisierungsbemühungen sprachen, beurteilt Fuhrich die Wirkungen des Projekts differenzierter. Zwar seien wesentliche Teilziele der Projekte, insbesondere die erweiterte Mitbestimmung und die Förderung von Selbstverantwortung und Weiterqualifikation, tatsächlich gescheitert. Insgesamt habe das Projekt aber die innerbetriebliche Kooperation zwischen allen Beteiligten und insbesondere die Stabilität der industriellen Beziehungen im Volkswagenwerk entscheidend gefördert. So führt sie etwa die bekanntlich geringe Streikquote in der Bundesrepublik auf die grundsätzliche Neigung zur Kooperation zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zurück und sieht das HdA-Programm neben der Konzertierten Aktion und anderen arbeits- und betriebsrechtlichen Reformen der sozialliberalen Regierung als Grundlage für die erfolgreiche Integration weiter Teile der Industriearbeiterschaft in die bundesdeutsche Gesellschaft.

Diese knappe Skizze der Ergebnisse wird freilich der eigentlichen Leistung der Arbeit nicht gerecht. Fuhrichs Buch gelingt es in ungewöhnlicher Weise, die Arbeiter bei Volkswagen selbst zum Sprechen zu bringen und ihre konkreten Handlungsspielräume in den Projekten genau auszuloten. Ihre Hauptquellen sind Tonbandaufnahmen und schriftliche Gesprächsprotokolle von Gruppensitzungen und Befragungen, die in großem Umfang von Sozialwissenschaftlern dokumentiert wurden. Hier kommen Menschen zu Wort, über deren konkrete Vorstellungen und Wahrnehmungen die Geschichtswissenschaft in der Regel wenig aussagen kann, weil es kaum schriftliche Überreste der alltäglichen Arbeitskommunikation gibt. Fuhrich kann deshalb z. B. Konflikte um konkrete Arbeitsabläufe genau nachzeichnen, was ihr weitgehende Rückschlüsse auf die Motivation und Weltbilder aller Beteiligten sowie die betrieblichen Machtstrukturen erlaubt. Immer wieder zeigt sie etwa, wie die Arbeiter sowohl untereinander, mit ihren Vorgesetzten und auch mit ihren eigentlichen Interessenvertretern, den Vertrauensleuten, Betriebsräten und Gewerkschaftsführern, in heftige Konflikte gerieten, in denen sich persönlicher Ehrgeiz, kurzfristige und langfristige Ziele und überkommende Vorstellungen von „denen da oben“ oder „den Arbeitern“ als hartnäckig erwiesen.

So entsteht eine spannende Analyse des Mikrokosmos Großunternehmen, die weit über eine immer noch gängige Vorstellung vom schlichten Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital hinausgeht. Frauen und migrantische Arbeiter kommen zu Wort, aber auch Vorgesetzte auf unterschiedlichen Hierarchiestufen sowie die Wissenschaftler, die sich an den Projekten nicht nur als passive Beobachter beteiligten. En detail wird sichtbar, wie und warum Gewerkschaftsvertreter wiederholt in schwere Konflikte mit den „eigentlichen“ Arbeitern gerieten, weil die Wahrnehmung der Interessenvertreter oft nicht zu den Erwartungen der Beschäftigten passen wollten. Ein Schlüsselergebnis der Arbeit ist entsprechend, dass ungeachtet aller Humanisierungsbemühungen und trotz erweiterter Mitbestimmungsrechte die traditionell hierarchisch-autoritäre Führungsstruktur bei Volkswagen auch in den siebziger Jahren nicht verändert wurde. Das erlaubt Rückschlüsse auf den Strukturbruch und den Wandel von Managementsvorstellungen – vom Ende des Fordismus und einer fundamentalen Veränderung betrieblicher Abläufe ist in Fuhrichs Studie wenig zu finden. Der „neue Kapitalismus“ sieht dem alten sehr ähnlich, trotz der gewaltigen Verschiebung im begleitenden Diskurs.

Als etwas problematisch erweist sich allerdings die Gliederung des Buchs. Fuhrich teilt ihre Arbeit in drei Kapitel ein, die zunächst nach der aktiven Beteiligung von Arbeitern an Innovationsbemühungen fragen und sie dann erst als Kooperations-, schließlich Konfliktpartner betrachten. In mancher Hinsicht ist dies sicher sinnvoll, weil sich so eine strukturelle Analyse unterschiedlicher Handungslogiken durchführen und fragen lässt, wie Vertrauen und erfolgreiche Zusammenarbeit entsteht, was Misstrauen und Konflikt befördert. Der Nachteil ist, dass Fuhrich alle drei HdA-Projekte in jedem Kapitel schildern muss, was zu etlichen kleinen Wiederholungen führt, vor allem aber das Spannungsverhältnis zwischen Kooperation und Konflikt, die eben tagtäglich nebeneinander bestanden, nicht immer richtig erfasst. So schildern die ersten beiden Kapitel der Arbeit vor allem gelungene Beispiele von Zusammenarbeit, die aktive Einbindung von Arbeitern in Innovationsbemühungen und neue Spielräume in den Projekten, während das längere dritte Kapitel das Fortbestehen von erstarrten Machtstrukturen, Enttäuschung und Misstrauen sowie heftige Auseinandersetzungen thematisiert, die letztlich zum Scheitern der Projekte führten. Fuhrich führt das recht schlicht so zusammen: Mehr Partizipation begünstigte Zusammenarbeit, fehlender Informationsfluss und mangelnde Einbindung in Planungs- und Umsetzungsverhandlungen erzeugten Blockaden.

Am Ende bleibt der Eindruck einer gelungenen Arbeit, die neue Quellengruppen erschließt und eindrücklich zeigt, wie komplex und eigensinnig Arbeiterverhalten auch in den 1970er-Jahren noch war. Fuhrich schließt immer wieder an die Arbeiten von Alf Lüdtke zur Arbeiterschaft im frühen 20. Jahrhundert an und zeigt zum einen, wie sehr sich betriebliche Strategien von Akteuren im Betrieb in langfristiger Perspektive ähneln. Zum anderen wird deutlich, wie differenziert man betriebliche Konflikte betrachten muss, um wirklich zu verstehen, wie und warum „die Arbeiter“ operierten.

Anmerkungen:
1 Siehe die Projekthomepage: <https://wandel-der-arbeit.de/promotionskolleg/> (abgerufen 16.7.21).
2 Vgl. dazu Hartmut Berghoff, Rezension zu: Lutz Raphael, Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom, Berlin 2019, in: H-Soz-Kult, 28.01.2020, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28222>.
3 Vgl. Nina Kleinöder / Stefan Müller / Karsten Uhl (Hrsg.), „Humanisierung der Arbeit“. Aufbrüche und Konflikte in der rationalisierten Arbeitswelt des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2019.

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