Cover
Titel
Places of Contested Power. Conflict and Rebellion in England and France, 830–1150


Autor(en)
Lavelle, Ryan
Erschienen
Woodbridge 2020: Boydell & Brewer
Anzahl Seiten
402 S.
Preis
£ 60.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Haack, Sonderforschungsbereich 923 "Bedrohte Ordnungen", Universität Tübingen

Ryan Lavelle ist Professor für frühmittelalterliche Geschichte an der Universität Winchester und bisher vor allem als Experte für angelsächsischen Geschichte, besonders die Zeit Alfreds des Großen (König von Wessex 871–899) und die Wikinger in England, in Erscheinung getreten. Mit dem vorliegenden Buch will Lavelle diese bisherigen Forschungsgrenzen überschreiten: „This book is in part a product of my longstanding desire to be more than an ‘Anglo-Saxonist‘“ (s. xiii). Ausgehend von diesem Anspruch betrachtet Lavelle mit dem heutigen England und Frankreich einen weit gespannten Raum. Den ebenso weiten zeitlichen Rahmen bilden zwei prominente Unruhephasen, die Rebellionen gegen den fränkischen Kaiser Ludwig den Frommen (ab 830) und die Herrschaftszeit des englischen Königs Stephen von Blois (1135–1154) (S. 29), klassischerweise als Zeit der „anarchy“ bezeichnet (so auch das Register S. 355).

Gerichtet ist die Untersuchung auf das Phänomen der „Rebellion“, die Lavelle als „in-group conflict“ definiert, bei dem ein deutliches Legitimationsgefälle zwischen den Konfliktparteien besteht und der offen ausgetragen wird (also nicht etwa allein in der Ermordung eines Herrschers besteht) (S. 2, S. 46). Den Ursprung des Interesses Ryan Lavelles an diesem Thema bildet der Fall des „Ætheling Æthelwold“, eines Sohns des Königs Æthelred I. von Wessex, der in der Thronfolge zugunsten seines Onkels, Alfred „dem Großen“, übergangen wurde und der nach dessen Tod 899 einen Versuch unternahm, die Herrschaft zu ergreifen. Einen zweiten Referenzfall, der die Erweiterung des Untersuchungsraumes ermöglicht, bildet der normannische Graf Wilhelm von Arques, ein Onkel Wilhelms des Eroberers, der 1054 gegen seinen Neffen rebellierte (S. xiii–xiv). Diese in der Einleitung genannten Kernbeispiele weisen bereits auf eine praktische Verengung des Untersuchungsraumes hin, der sich faktisch neben England ganz wesentlich auf die karolingischen Kerngebiete in Nord-Ost-Frankreich und für die spätere Zeit auf die Normandie beschränkt (S. 25, S. 325).

Angesichts des dennoch beeindruckenden Untersuchungs-Zeit-Raums zeichnet Ryan Lavelle zunächst die großen ereignisgeschichtlichen Linien nach (Ch. 1, hier S. 30-43), um anschließend mehrere – nicht stets ganz überzeugend gebildete und vergleichbare – Typen der Rebellion zu diskutieren (besprochen werden etwa Rebellionen durch Mitglieder königlicher Familien, durch Magnaten, oder das „othering“ rebellischer Gruppen in der Historiographie) (Ch. 2, S. 53-74). Die übrigen Kapitel 3–8 stellen themenbezogene Detailstudien dar (vgl. S. 21–22), zu Themen wie „Landbesitz und Rebellion“ (Ch. 4), „Burgen als Widerstandsorte“ (Ch. 5) oder „Unruhe in Städten“ (Ch. 6). Diese Themen korrespondieren dabei nicht mit den zuvor bestimmten Typen von Rebellionen.

Lavelles Grundthese lautet: Der Blick auf die Orte, an denen rebellische Konflikte öffentlich gemacht (das heißt oft: ausgetragen) wurden, zeige, welche Motive hinter einer Rebellion lagen (S. 1). Das heißt, Lavelles Interesse ist im Kern auf die Frage nach der (politischen) Organisation früh- bis hochmittelalterlicher Gemeinwesen gerichtet (S. 1, 44, 110–112), und der invertierte Blick, der solche Herrschaftsansprüche in Augenschein nimmt, die von den Quellenautoren als nicht-legitim beschrieben wurden, bietet hier einen neuen und fruchtbaren Ansatzpunkt. Allerdings changiert die Arbeit zwischen der so adressierten Analyse früh-hoch-mittelalterlichen Formen politischer Ordnung und dem angesprochenen Versuch, überzeitlich gültige Typen der Rebellion zu definieren, sodass sie keinem der beiden Aspekte vollkommen gerecht wird. Die Ergebnisse zu beiden Punkten sind oft unstrukturiert formuliert, vor allem in dem Sinne, dass meist nicht klar gekennzeichnet ist, zu welchem Aspekt ein Textteil jeweils beitragen soll. So bleibt das Fazit der Arbeit auf die eingangs formulierte These sehr vage: „if particular perceptions of places mattered, can we demonstrate intention in their use? To an extent, yes“ – „but to know precisely what the intentions of political actors were is impossible“ (S. 325).

Neben solch vagen Ergebnisformulierungen liegt eine weitere Schwachstelle der Arbeit im Aufbau, wie Ryan Lavelle selbst anmerkt (S. 22): Das typisierende, thematische, nicht-chronologische Interesse der Arbeit bedeutet eine Zusammenstellung zahlreicher Fallbeispiele aus sehr unterschiedlichen Zeiten und Räumen und gleichzeitig eine thematische Zerteilung einzelner Fälle auf verschieden Kapitel. Diese Schwäche wird weiter verstärkt durch das an sich sehr begrüßenswerte Anliegen, klassische Fachgrenzen zu überschreiten: Es dürfte kaum Lesende geben, denen alle der zahllosen Einzelepisoden, die Lavelle aus der angelsächsischen und kontinentalen Geschichte zwischen 830–1150 anführt, ereignisgeschichtlich vertraut sind und die so die Argumentation stets ohne Weiteres nachvollziehen können. Dies gilt umso mehr, als auch Querverweise nicht flächendeckend gegeben werden und das Register nicht vollständig ist.

Die Schwierigkeiten, die sich aus dem beschriebenen Aufbau für die Lesbarkeit ergeben, verdeutlicht das Ausgangsbeispiel des „Ætheling Æthelwold“, dessen Geschichte an keiner Stelle umfassend und zusammenhängend geschildert wird, das aber immer wieder als Referenz dient.1 Die Zusammenstellung erfordert einige Eigenarbeit und auch buchexterne Recherche. Verständnisschwierigkeiten beginnen hier für alle jene, die nicht sehr vertraut sind mit der Geschichte des Königreiches Wessex, schon auf niedriger Ebene. So fällt es beim Lesen nicht immer leicht, die Personen Æthelwolds, seines Vaters Æthelred I. († 871), seines Bruders Æthelhelm († 899) und seines Großvaters Æthelwulf († 858) auseinanderzuhalten, wenn diese Namen an verschiedenen Stellen im Buch eingestreut sind. Erst wer die vollständige Geschichte aus vielen Einzelstellen des Buches rekonstruiert, kann sie als Referenzfall nachvollziehen und verstehen, wie sie das Interesse Ryan Lavelles an „places of contested power“ geweckt hat. Dann bietet der Fall ein sehr interessantes und einleuchtendes Beispiel, das sich etwa folgendermaßen darstellt:

Æthelwold war beim Tod seines Vaters Æthelred 871 (vermutlich) zu jung, um als Thronfolger in Frage zu kommen. Allerdings hatte der Vater ihm und seinem Bruder (wohl) Land zugewiesen, das der Nachfolger, Alfred der Große, ihnen übertragen sollte. Darunter war unter anderem der Ort Steyning, an dem Æthelreds und Alfreds Vater, Æthelwulf begraben war (S. 163-167) und der mithin einen wichtigen Zentral- und Erinnerungsort der Königsfamilie von Wessex bildete (S. 119–120, 130–131, 166–167, 265). Alfred, so Lavelle, hielt nun zwar sein Versprechen und übergab Steyning an die Söhne seines Bruders, überführte aber zugleich den Sarg Æthelwulfs nach Winchester. Er beraubte also Steyning genau jener Bedeutung, die den Grund für die Übergabe an die Söhne Æthelreds gebildet hatte (S. 167). Als nun Æthelwold beim Tod Alfreds 899 einen Versuch unternahm, die Herrschaft an sich zu bringen, bestand eine seiner ersten Akte der Rebellion darin, den Ort Wimborne zu besetzen (S. 289–298), wo sein Vater, Æthelred, begraben war (S. 170). Ryan Lavelles deutet dies als Reklamation des eigentlich zugedachten Erbes und damit als Teil einer bewussten Legitimationsstrategie, die als Proklamation einer alternativen Königslinie zu verstehen sei (S. 30, 114, 171). Diese Interpretation ist zwar durchaus weit gestreckt, aber auf der beschriebenen Grundlage doch plausibel und diskutabel. Sie ist jedoch im Buch nur äußerst mühsam nachzuvollziehen.

Ähnliche Bezüge zum „Ort“ als Analysekategorie, wie ihn der Fall des Æthelwold deutlich macht, fehlen zudem in weiten Teilen der Arbeit vollständig, sodass tatsächlich der Untertitel „Conflict and Rebellion in England and France“ den Inhalt des Buches weit treffender umreißt als der Obertitel. Insgesamt bleibt so ein Buch, das eine beeindruckende und oft überwältigende Vielzahl hoch interessanter Fallbeispiele zu den im Titel benannten Themenfeldern liefert, doch schwer zu lesen ist und in seiner Grundthese nicht gänzlich überzeugt (wobei größere Teile des Buches zu dieser These gar keinen Bezug haben). Zugleich kann die Arbeit als thematische Sammlung mit oft neuen und anregenden Interpretationen zahlloser Beispielsfälle für all diejenigen, die im Rahmen von untersuchtem Zeit-Raum des Werkes arbeiten, für einen bedeutenden Teil aller Früh- und HochmittelalterhistorikerInnen, viele hoch interessante Beispielsfälle liefern.

Anmerkung:
1 Eine umfassende Diskussion der Rebellion Æthelwolds bietet Ryan Lavelle in: Ryan Lavelle, The Politics of Rebellion. The Aetheling Aethelwold and West Saxon Royal Succession 899–902, in: Patricia Skinner (Hrsg.), Challenging the Boundaries of Medieval History. The Legacy of Timothy Reuter, Turnhout 2009, S. 51–80.

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