Erinnern und Vergessen sind die Bezüge, in denen Menschen unheilvoller Geschichte begegnen. Die Schrecken der Vergangenheit lassen sich verdrängen oder vergegenwärtigen, bewältigen oder negieren – nicht selten in heilsamer Kombination. Um die Einheit und Stabilität einer Ordnung, die der Gewalt erwachsen ist, nicht zu gefährden, erinnern und vergessen Gesellschaften selektiv, was sie unmittelbar zuvor erlitten haben. Das an Exzessen reiche 20. Jahrhundert zeitigte unterschiedliche Varianten dieses auf Befriedung der Gegenwart und nicht auf Aufarbeitung der Vergangenheit zielenden Umgangs mit Geschichte: Die prominentesten NS-Täter wurden 1946 in Nürnberg abgeurteilt, während eine umfassende Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erst Jahrzehnte später einsetzte. In der Sowjetunion bekannte Nikita Chruschtschow rund drei Jahre nach Stalins Tod dessen Verbrechen, ohne indes ein uneingeschränktes Sprechen über den bolschewistischen Terror einzuläuten. Und auch in China musste die Kommunistische Partei (KPCh) eine Antwort darauf finden, wie dem Erbe maoistischen Unrechts zu begegnen war: Allein die Kulturrevolution (1966–1976), so quantifizierte sie intern, habe über 100 Millionen direkte und indirekte Opfer hervorgebracht.
Als Mao Zedong im September 1976 starb, sah sich die chinesische Parteiführung vor einer diffusen Herausforderung: Wie ließ sich eine Geschichte erinnern, die keine klare Trennung zwischen Opfern und Tätern, Recht und Willkür, gar Gegenwart und Vergangenheit kannte? Dieser parteistaatlichen Neubewertung widmet Daniel Leese eine Studie, die in vielerlei Hinsicht beeindruckt. „Maos langer Schatten“ ist gleichermaßen Politik- wie Rechtsgeschichte, zeichnet der Autor doch die diskursive und juristische Vergangenheitsarbeit der KPCh in ihrer Verschränkung nach, fragt nach der Neubestimmung von Recht und Unrecht in der Diktatur und kommt in beiden Erzählsträngen zu erfrischenden Einsichten. Denn der Sinologe greift auf Dokumente aus über 60 chinesischen Archiven zurück, die über Antiquariate und Flohmärkte nach Freiburg gelangten. Tausende dieser Quellen, die in China nicht zugänglich sind, veröffentlichte Leeses Arbeitsgruppe in einer kuratierten Datenbank.1 Diese Zeugnisse offenbaren die Perspektive der Parteielite, das Handeln lokaler Kader wie das Schicksal der Betroffenen selbst, deren Fallakten zeigen, wie die politische Deutung ihres vermeintlichen Fehlverhaltens mehrfach revidiert wurde. Und nicht zuletzt durch abgrenzende Verweise auf die sowjetische Entstalinisierung und die Einbettung in chinesische Traditionslinien der kommunistischen Staatsbildung und kaiserzeitlichen Rechtsvorstellungen besticht die Darstellung.
Die „Reform- und Öffnungspolitik“ Deng Xiaopings, die gemeinhin mit der 1978 einsetzenden Abwendung von spätmaoistischen Wirtschafts- und Politikmodellen assoziiert wird, wurde in der Forschung vor allem an der ökonomischen Liberalisierung der 1980er-Jahre gemessen. Nach Maos Tod sei zunächst ein Machtkampf entbrannt, infolge dessen erst Reformen möglich wurden. Demgegenüber stehen neuere Forschungen, die etwa am Beispiel der postmaoistischen Agrarpolitik veranschaulichen, dass die selektive Abkehr von maoistischen Idealen bereits unmittelbar nach dem Tod Mao Zedongs einsetzte.2 Diese Deutung aufgreifend erschließt Daniel Leese das Feld der postmaoistischen Rechtsgeschichte, für das bislang keine systematische Studie vorlag. Wie sich kommunistische Diktaturen durch juristische Revision vergangenen Unrechts „selbst disziplinieren“ können, zeigte am sowjetischen Beispiel jüngst Immo Rebitschek. Während Rebitschek das Doppelstaats-Theorem Ernst Fraenkels für die Sowjetunion verwirft und auf die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen totalitärer Rechtsaushöhlung in NS-Deutschland und der Sowjetunion verweist3, versucht Leese, die Fragen Fraenkels für das Verhältnis von Politik und Recht in China produktiv zu machen. Auch dort, so Leeses These, konkurrierte ein Maßnahmenstaat, der Justiz als instrumentelles Machtmittel gebrauchte, mit einem Normenstaat, der auf Verrechtlichung politischer Herrschaft setzte – anders als in Deutschland habe der Maßnahmenstaat indes keinen vorhandenen Normenstaat überformt, sondern letzterer entwickelte sich in China „gewissermaßen auf umgekehrte und nicht intendierte Weise“ (S. 119) parallel zu ersterem.
Mit „Maos langem Schatten“ unternimmt Daniel Leese drei wegweisende Interventionen in die China-Historiographie: Erstens revidiert er die Anschauung von der Kulturrevolution als einer außerordentlichen, aus der chinesischen Geschichte gefallenen Epoche. Die letzten zehn Jahre maoistischer Herrschaft seien keineswegs jene durch harte Brüche geprägte Katastrophe, als die Parteihistoriker sie darzustellen wussten. Im Gegenteil: Was vermeintlich so plötzlich über China hereinbrach, wie es verschwand, fügt sich in ein zyklisches Gewaltkontinuum ein. Bereits die kommunistische Staatsbildung sei von einer Dialektik aus Exzess und Korrektur durchdrungen gewesen, die sich in immer neuen Wellen bis in die Kulturrevolution ergoss. Und nicht selten gab der Verweis auf die vermeintliche Korrektur vergangen Unrechts Anlass zu erneuter Eskalation. Umgekehrt war die Kulturrevolution, so argumentiert Leese, kein „Zustand der Rechtlosigkeit“ (S. 34). Seit 1969 sei die allgegenwärtige Suche nach Feinden in Umfang und Qualität begrenzt und „entpolitisiert“ worden. Für die Kontinuitäten, die über Maos Tod hinaus wirkten, war besonders bedeutsam, dass kulturrevolutionäre Kapitalverbrechen bereits ab 1969 sanktioniert wurden und spätere Fallrevisionen diese Strafen auf die nach 1976 korrigierten und zumeist erhöhten Strafmaße der Täter anrechneten.
Zweitens unterzieht Leese die Vergangenheitspolitik Hua Guofengs einer grundlegenden Neubewertung. Galt der von Mao als Nachfolger auserkorene Hua in der Forschung lange Zeit als reformunwillig und selbst dem Personenkult verfallen, so beschreibt Leese ihn als treibende Kraft hinter der Verhaftung der Viererbande, die er zur Kritik an kulturrevolutionärem Unrecht zu nutzten wusste. Hua, der nach Maos Tod den Vorsitz in Partei, Regierung und Militär auf sich vereinte, legte mit seiner Kampagne „Entlarven, Kritisieren, Überprüfen“ (jie pi cha) den Grundstein für die weitere Beschäftigung mit der Vergangenheit: Verbrechen sollten öffentlich thematisiert, Opfer rehabilitiert, Täter intern überprüft werden. Hua Guofeng und Deng Xiaoping standen einander mithin nicht in der Frage gegenüber, ob vergangenes Unrecht aufgearbeitet werden sollte, sondern waren uneins, in welchem Umfang dies erfolgen solle. Keiner von beiden wollte eine „Entmaoisierung“ im Stile der Chruschtschow’schen Abrechnung mit Stalin. Doch der kulturrevolutionäre Aufsteiger Hua Guofeng konnte auch ob seiner eigenen Biografie keinen Bruch mit der unheilvollen Vergangenheit vertreten. Deng Xiaoping hingegen, der von Mao mehrfach entmachtet worden war, zog auf dem Dritten Plenum des Elften Zentralkomitees im Dezember 1978 einen zum Neubeginn stilisierten Schlussstrich, der selektives Erinnern und Vergessen ermöglichte.
Schließlich argumentiert Leese, dass es „wohl kaum einen Staat“ gab, der sich direkt im Anschluss an den Tod der langjährigen Führerfigur „intensiver und großflächiger mit Fragen historischen Unrechts beschäftigt hat als die Volksrepublik China zwischen 1976 und 1987“ (S. 483). Aber auch dieses sich Abarbeiten an der eigenen Geschichte musste selektiv bleiben. Denn der Anspruch der Parteiführer bestand nicht in einer allumfassenden Aufarbeitung. Vielmehr sollte die Vergangenheitspolitik die Legitimität der kommunistischen Ordnung wiederherstellen, die Systemstabilität für Wirtschaftsreformen sicherstellen und die sozialen Verwerfungen kurieren. Die Resultate waren gleichwohl beachtlich: Alle Strafrechtsfälle der Kulturrevolution wurden in der Kampagne zur „Revision ungerechter, falscher und fehlerhafter Fälle“ (pinfan yuan jia cuo an) überprüft. Von 980.000 nicht-politischen Strafurteilen wurden ca. 10 Prozent revidiert, von den 280.000 politischen Verdikten wurden 70 bis 80 Prozent in Einzelfallprüfung zurückgenommen (S. 243). Zudem rehabilitierte die Partei jene Gruppen, die der Massenlinie zum Opfer gefallen waren. Die Täterverfolgung, die bereits vor 1976 eingesetzt hatte, intensivierte sie ab 1982 durch eine Säuberungskampagne. Und Fürsorgeleistungen wie der Ausgleich entfallenen Lohns und die Vermittlung von Arbeitsstellen schufen soziale Abhilfe. Insgesamt hätten Menschen „im unteren zweistelligen Millionenbereich“, so schätzt Leese, „symbolische oder materielle Wiedergutmachungsleistungen“ erhalten – indes als Gunst der Partei und ohne jeden Rechtsanspruch (S. 246f.).
Mit eingängiger Sprache und klaren Thesen spricht „Maos langer Schatten“ eine breite Leserschaft und die akademische Geschichtswissenschaft gleichermaßen an. Daniel Leese gelingt es auf umsichtige Weise, die zwei Erzählungen von politischer Transformation und juristischer Selbstdisziplinierung zu verschränken, ohne dabei eine lineare Erfüllungsgeschichte zu schreiben, die vom Dunklen ins Helle führt. Denn „Maos langer Schatten“ ist sensibel für die Ambivalenzen der chinesischen Vergangenheitspolitik, für die Verschiedenheit individueller Schicksale, für die konkurrierenden Zielvorstellungen der Akteure, für die Begrenztheit ihrer Ansprüche und die Offenheit des Wandels. Die Nominierung für den Deutschen Sachbuchpreis 2021 ist mehr als verdient.
Anmerkungen:
1 The Maoist Legacy Database, <https://www.maoistlegacy.de/about/about.html> (04.05.2021).
2 Frederick C. Teiwes / Warren Sun, Paradoxes of Post-Mao Rural Reform. Initial Steps Toward a New Chinese Countryside, 1976–1981, London 2016, S. xv-xviii.
3 Immo Rebitschek, Die disziplinierte Diktatur. Stalinismus und Justiz in der sowjetischen Provinz, 1938 bis 1956, Wien 2018, S. 32. Vgl. Ernst Fraenkel, The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York 1941.