L. Seegers (Hrsg.): 1968. Gesellschaftliche Nachwirkungen auf dem Lande

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Titel
1968. Gesellschaftliche Nachwirkungen auf dem Lande


Herausgeber
Seegers, Lu
Reihe
Kulturlandschaft Schaumburg (23)
Erschienen
Göttingen 2020: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
341 S., 16 Abb.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Kraus, Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation der Stadt Wolfsburg

Der gesellschaftliche und kulturelle Wandel, der die Bundesrepublik in den 1960er-Jahren erfasste, blieb nicht auf die Großstädte beschränkt. Dennoch gelten (nur) diese gemeinhin als Zentren des Protests und der Veränderung. Dass Christina von Hodenbergs Buch „Das andere Achtundsechzig“ im Jubiläumsjahr 2018 eine breite Rezeption erfuhr, lag auch daran, dass die Autorin den Blick auf die alte Universitätsstadt Bonn richtete – schon das eine kleine Horizontverschiebung in der öffentlichen Wahrnehmung.1 Noch viel seltener ist die historische Forschung jenen Veränderungen im ländlich-kleinstädtischen Raum nachgegangen.2 Umso wertvoller erscheint daher der von Lu Seegers herausgegebene Band, der verspricht, die „gesellschaftliche[n] Nachwirkungen auf dem Lande“ zu untersuchen. Die Ergebnisse einer gleichnamigen Tagung bündelnd,3 soll mit diesem Buch der Blick geweitet werden: Es gelte das Vorurteil von der statischen Provinz zu hinterfragen, in der „die Uhren des kulturellen Wandels deutlich langsamer zu ticken schienen“ (S. 9). Denn die vermeintliche Provinz habe „eigene Formen der politischen und kulturellen Mobilisierung hervor[gebracht], abhängig von den jeweiligen lokalen Konstellationen und in einem spezifischen Rhythmus“ (S. 15), wie die Herausgeberin in ihrer Einführung darlegt. Das Besondere, so argumentiert Seegers, sei denn auch gewesen, dass sich Konflikte wie Aushandlungsprozesse hier in einem „sozialen Nahraum“ abspielten, in dem Akteurinnen und Akteure einander kannten.

So spannend der gewählte Ansatz, so unverständlich ist dagegen die begriffliche Engführung, unter der die einzelnen Beiträge im Band präsentiert werden. Denn der so klar gezeichnete gesellschaftliche Raum wird mit dem titelgebenden Fokus auf die „Nachwirkungen“ von Achtundsechzig „auf dem Lande“ zu einer bloßen Echokammer reduziert, im besten Falle zu einem Resonanzraum für die Impulse aus den Zentren des Protests. Die Möglichkeit, eigene Triebkräfte des Wandels aufzuspüren, nach bislang unter dem Radar der Forschung gebliebenen Akteurinnen und Akteuren zu fragen, erscheint solcherart zunächst verbaut. Dies ist umso irritierender, als die ersten Beiträge von Gunter Mahlerwein und Detlef Siegfried die titelgebenden „Nachwirkungen“ im Grunde konterkarieren. Ersterer lenkt die Aufmerksamkeit unter den Schlagworten Babyboom und Migration, Suburbanisierung, Mobilisierungen, Bedeutungsverlust des Agrarischen, erweiterte Bildungschancen und Medialisierung bewusst auf das Jahrzehnt vor 1968; er resümiert die Umbrüche und Veränderungsprozesse, von denen Jugendliche und junge Erwachsene auf dem Lande profitierten: Neben einer höheren Mobilität, die ihnen einen größeren Aktionsraum ermöglichte, weg vom Lokalen hin zum Regionalen, standen ihnen nun auch andere Bildungswege offen, während zugleich der Anteil frei verfügbarer Zeit stieg. Die zuvor wie zementiert wirkenden innerfamiliären Machtverhältnisse begannen zu bröckeln. All dies und vieles mehr deutet Mahlerwein als notwendige „Vorbedingungen“ für die spätere „kulturelle und politische Mobilisierung, die zweifelsohne auch in der ländlichen Gesellschaft in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zu beobachten war“ (S. 57). Von diesen Voraussetzungen und ihren spezifischen Ausprägungen auf dem Land ist aber in den übrigen Beiträgen kaum mehr die Rede.

Siegfried wiederum unterstreicht gleich zu Beginn seiner Ausführungen, dass der dörflich, klein- und mittelstädtisch geprägte Raum alles andere als ein bloßer „Nachzügler der Großstadt“ gewesen sei (S. 60): Könne das Land auch mit den für den Wandel so förderlichen städtischen Standortbedingungen nicht konkurrieren – die „räumliche Nähe“ wie auch die „verdichtete Kommunikation“ erleichtere die Formierung der notwendigen „kritischen Masse“ –, so „gab es auch auf dem Lande Jugendliche, die zeitgleich mit diesen Ideen sympathisierten und einen erheblichen Bedarf an Kommunikation in Sachen Nonkonformismus, Provokation und politischem Protest artikulierten“ (S. 61). Die Bewegungen in der Provinz speisten sich, so Siegfrieds Hypothese, eben nicht aus in den Großstädten geformten Aktivisten, die zurück „ins Dorf“ ausschwärmten, sondern wurden von den Akteuren und Akteurinnen vor Ort befeuert, deren Vorstellungen einer anderen Politik und einer anderen Welt sich nur partiell von den Ideen aus den Protestzentren unterschieden. Schon die Lektüre dieser beiden gelungenen Überblicke zeigt die Spannung auf, die sich aus dem Leitbegriff der „Nachwirkungen“ ergibt.

Wo lassen sich die übrigen Beiträge, die im Rahmen einer Rezension nicht alle vorgestellt werden können, in diesem Spannungsfeld einordnen? Claudia Lepp zeichnet in ihrem Text die Resonanz auf basale gesellschaftliche Entwicklungen wie die Frauen-, Jugendzentrums-, „Dritte-Welt-“, Umwelt- und Friedensbewegung in westdeutschen evangelischen Landeskirchen nach, womit sie ihr Untersuchungsfeld von vornherein auf den Widerhall reduziert, ohne nach eigenständigen Impulsen zu fragen. Die Erkenntnis, „dass in diesem längeren Transformationszeitraum in der evangelischen Kirche auf dem Lande durchaus Bewegung war“ (S. 97), die evangelische Kirche an den Wandlungsprozessen partizipiert habe, vermag nicht wirklich zu überraschen. Dies ist insofern schade, als Lepp eingangs konstatiert, ein „religiöser und kirchlicher Wandel“ habe schon vor „1968“ eingesetzt (S. 79), habe jedoch dann mitunter an Tempo und Intensität gewonnen. Es wirkt, als habe die selbstauferlegte Suche nach den titelgebenden „Nachwirkungen“ den Blick für das Eigene verstellt.

Bei Dietmar von Reeken wiederum ist die Ausgangslage eine andere: Er fragt, inwieweit die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungsprozesse auch in der niedersächsischen Heimatbewegung Niederschlag fanden. Aufgrund einer teils schwierigen Quellenlage – vereinsinterne Diskurse, das Denken und Agieren einzelner Vereinsmitglieder seien in den überlieferten Dokumenten nur schwer zu fassen – analysiert er dafür überwiegend Publikationen der Vereine selbst. Doch umgehende Reaktionen auf „1968“ fand der Autor dort nicht: „Die Bewegung verstand sich als Sachverwalter der gleichsam überzeitlich verstandenen Heimat jenseits des politischen Tagesgeschäfts.“ (S. 125) Gleichwohl blieb auch den Heimatvereinen nicht verborgen, dass die für sie so zentralen Begriffe „Heimat“ und „Bewegung“ vom gesellschaftlichen Wandel nicht unberührt blieben. Dessen ungeachtet vermochten die Heimatvereine auf die gesellschaftlichen Veränderungen nur rudimentär zu reagieren – mit der Dynamik von Bürgerinitiativen und neuen Umweltorganisationen konnten sie nicht konkurrieren. Ihre ureigene Trumpfkarte, die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, spielten sie dagegen nicht aus: Die Frage nach der „jüngsten Vergangenheit der Region, insbesondere [der] NS-Zeit“ blieb „eine große Leerstelle im Geschichtsbild der Heimatbewegung“ (S. 135). Von einer Dynamisierung infolge von „1968“ könne daher auch nicht die Rede sein.

Am Beispiel der Schülerproteste am Stadthagener Ratsgymnasium weist Lisa Tanten nach, dass – obgleich meist nur eine kleinere Anzahl von Schülerinnen und Schülern sich aktiv an den Protesten beteiligte, der Großteil unpolitisch blieb – „es den in vielen großen Städten zu beobachtenden Wertewandel der Jugend auch in Kleinstädten wie Stadthagen gab“ (S. 182). Dabei stützt sich die Autorin zunächst mehr auf die Jahresberichte des Schulleiters und die Presseberichte, ehe auch die Akteursperspektive der Schülerinnen und Schüler über die lokale Schülerzeitung in den Blick gerät, für die Tanten im Übrigen schon 1966 eine beginnende Politisierung feststellt. Dies ist ein Beleg mehr für die These von Mathias Rösch, Kurator einer Wanderausstellung zu der bundesweiten Welle an Schülerprotesten in den Jahren 1968 bis 1972 und Leiter des Schulmuseums Nürnberg, der darauf hingewiesen hat, dass es die Studentenproteste ohne die Schülerproteste wohl „eher […] nicht gegeben hätte als umgekehrt. Viele, die Anfang der 60er in der Schule aufmüpfig werden, sozialisieren sich dort und werden später bei den Studentenprotesten aktiv.“4

In einem aufschlussreichen Beitrag betrachtet Birgit Metzger die Umweltbewegung auf dem Land. Schenkten die „68er“ den Umweltfragen noch keinerlei Aufmerksamkeit, war dieses Thema „zehn Jahre später zu einem der zentralen Anliegen der neuen sozialen Bewegungen geworden“ (S. 184). Wenngleich zahlreiche Initiativen aktiv wurden, blieben sie in der Bewegungsforschung laut Metzger bislang noch unter dem Radar. Ob anhand der Anti-Atomkraft-Bewegung, der Debatte über das Waldsterben, der Problematik der Abfallentsorgung oder der Demonstrationen gegen Giftmüll – Metzger zeigt die Vielfalt der Themen, die die Bevölkerung auf dem Land zu politisieren wusste. Doch sei „jenseits der ganz großen Konflikte von revolutionären Träumen wenig zu spüren“ gewesen (S. 204). Die Initiativen wussten zwar mediale Aufmerksamkeit zu generieren, erfuhren indes nur wenig Unterstützung aus den umliegenden Städten – womit ein strukturelles Problem angesprochen ist: „Die beachtlichen Aktivitäten, das mühsame Sammeln von Informationen und die Auseinandersetzung mit den Behörden lagen auf den Schultern von einer verhältnismäßig geringen Zahl an Aktivisten, die weitaus weniger, als es in Großstädten der Fall war, auf eine Infrastruktur und Unterstützung aus dem Alternativmilieu zurückgreifen konnten.“ (S. 205)

Da die meisten Beiträge den norddeutschen Raum, speziell das Schaumburger Land fokussieren, sind zukünftig Vergleiche in den Süden und Westen der Republik zu wünschen. Schon David Templin vermag in seinem Beitrag zur Jugendzentrumsbewegung in der westdeutschen „Provinz“ pointiert nachzuweisen, wie diese Initiativen quer durch das Land die kleinstädtische Öffentlichkeit zu politisieren vermochten und das „Monopol“ der bis dahin dominierenden Jugendverbände sukzessive auflösten (S. 235). Es wäre interessant zu erfahren, ob es im Süden der Republik vergleichbare Entwicklungen gab. Wie hilfreich solche Perspektiven sind, zeigen im Band nicht zuletzt zwei originelle Aufsätze, die die Entwicklungen in der DDR nachzeichnen: Daniela Münkel analysiert die Reaktionen in der DDR-Provinz auf die Ereignisse des Jahres 1968 aus den Berichten der Staatssicherheit. Und in einem Ost-West-Vergleich zeigt Rebecca Menzel schließlich eine überraschende Parallele auf: „Durch die mediale Inszenierung einer ländlichen Lebensweise, die nicht mehr vornehmlich mit harter Arbeit, sondern mit durchaus hedonistischen Formen selbstbestimmten Daseins verbunden war, trugen Alternative in West und Ost zu einem entscheidenden Imagewandel der Provinz bei.“ (S. 307)

Ob die Bewegungen vor Ort tatsächlich als „Nachwirkungen“ von „1968“ zu lesen sind oder infolge der direkten Betroffenheit entstanden, muss offenbleiben. Mag der Titel des Sammelbandes für viele Beiträge eher eine Hypothek darstellen und „1968“ mehr eine Chiffre für mittel- und längerfristige Umbrüche sein, so ist die gewählte Stoßrichtung nur zu begrüßen: Die Beiträge legen Leerstellen wie die regionale Perspektive oder die spezifischen Akteurskonstellationen offen, die zu füllen für ein besseres Verständnis der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse notwendig sind – auch und gerade auf dem Lande.

Anmerkungen:
1 Christina von Hodenberg, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018.
2 Wegweisend noch immer Julia Paulus (Hrsg.), „Bewegte Dörfer“. Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970–1990, Paderborn 2018.
3 Vgl. den Bericht von Susanne Rappe-Weber, in: H-Soz-Kult, 13.07.2018, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-126365 (08.09.2022).
4 „Sie staunen, dass Jugendliche so viel Power haben“ (Interview von Peter Hanack mit Mathias Rösch), in: Frankfurter Rundschau, 23.05.2018, https://www.fr.de/politik/sie-staunen-dass-jugendliche-vielpower-haben-10989196.html (08.09.2022).