D. Langewiesche: Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat

Cover
Titel
Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte


Autor(en)
Langewiesche, Dieter
Reihe
Heidelberger Akademische Bibliothek
Erschienen
Anzahl Seiten
120 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Siegfried Weichlein, Departement Historische Wissenschaften, Universität Freiburg (Schweiz)

Die modernisierungsgeschichtlich arbeitende Geschichtswissenschaft interpretierte die Gründung des Deutschen Kaiserreiches 1871 gerne als nicht zufälliges Ergebnis einer längeren Entwicklung. Darin waren sich mit unterschiedlichen Akzentsetzungen Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler einig. Die Nationalstaatsbildung war so gesehen eine Etappe innerhalb der Modernisierung der Gesellschaft. Sie umfasste nicht nur die Politik, sondern auch die Industrialisierung und die Kultur. Mit einer gewissen Notwendigkeit stellte der Nationalstaat diejenige Organisationsform modernisierter Gesellschaften dar, die am Punkt des politischen take-off zu Konstitutionalisierung, Parlamentarismus und Demokratie angekommen waren. Für größere oder kleinere Nationen ließ sich das differenzieren entlang verschiedener Phasen und Entwicklungsmodelle. Besonders aber eignete sich dieser theoretische Rahmen zum Vergleich zwischen Nationalstaaten, die dann entweder besonders früh oder eher später entstanden. Das Deutsche Reich galt dann gerne als „verspätete Nation“.

Dieter Langewiesche widerspricht dem in seinem konzisen Überblicksbändchen „Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte“ entschieden: „Deutschland war keine verspätete Nation“ (S. 12). Wenn überhaupt, dann war es ein verspäteter Nationalstaat und ein verspäteter Kolonialstaat (Hermann Heimpel). Der Tübinger Historiker kehrt den Blick von der Entwicklung hin zum Nationalstaat um zur langen Geschichte der vielstaatlichen Ordnung des Alten Reiches nach dessen Ende. Was wurde aus dem Alten Reich nach 1806? Dieter Langewiesche interessiert die vergangene Zukunft des vielstaatlichen Alten Reiches. Er verweigert sich – wie andere Historiker auch – einer teleologischen nationalen Erzählung hin auf das Deutsche Reich von 1871. Eine Grundregel des neuen Europa nach 1815 war „Legitimitätsstiftung und Legitimitätsvernichtung“ (S. 59) oder mit dem Baseler Historiker Werner Kaegi gesprochen: das „kleinstaatliche Massensterben“. Das bedeutete indessen nicht, dass „Think Big“ zur politischen Regel oder auch nur zur Handlungsmaxime wurde.

Dieter Langewiesche legt in diesem Buch bündig seinen seit Langem vertretenen Ansatz der Föderativnation dar. Die Reihe „Heidelberger Akademische Bibliothek“, in der dieses Buch als Band 5 erscheint, benutzt die Form des wissenschaftlichen Essays, um die Forschungen eines Akademiemitglieds der gebildeten Öffentlichkeit vorzustellen. Auf 107 Seiten führt Dieter Langewiesche in vier grob chronologisch geordneten Kapiteln in die Praxis und Idee der Föderativnation ein. Abgerundet wird der Band von einem Literaturverzeichnis.

Mit dem Begriff Föderativnation ist gemeint, die eigene staatliche Existenz dadurch zu verteidigen, dass man die Gemeinsamkeiten der deutschen Staaten ausbaut: „Einheit in staatlicher Vielfalt, Einheit in der Rechts- und Wirtschaftsordnung, im Militär, im Verkehrswesen und anderen Bereichen“ (S. 67f.). In den thüringischen Kleinstaaten war diese Haltung besonders stark verbreitet. 1833 erkannte ein Abgeordneter im Weimarer Landtag in dem soeben gegründeten Zollverein ein Jahrhundertereignis, weil er für alle Vorteile böte. Ganz im Sinne dieses klassisch liberalen win-win-Arguments begrüßte er die „vaterländische deutsche Gesinnung“ und „eine größere Einheit der geistigen Interessen“. Die „Gleichheit der Münze, … (die) Gleichheit des Maßes und Gewichtes, (die) Gleichheit der Gesetzgebung, der Innungsverhältnisse, der Militäreinrichtungen etc.“ führten alle zusammen „zu einer größeren organischen Einheit in Deutschland“ (S. 66), nicht aber zu einem Einheits- und Zentralstaat. Gerade in den Kleinstaaten, wo die Liberalen stark waren, begrüßte man 1848/49 den Entwurf eines föderativen Nationalstaats der Frankfurter Paulskirche, weil er das eigene Überleben sicherte nach der Erfahrung des Massensterbens der Kleinstaaten in der napoleonischen Ära.

Die Föderativnation stellte die Einheit in der Vielfalt in den Mittelpunkt. Der Einheitsstaat, der die Einzelstaaten auflöste, war ihr Gegenbild. Daher entdeckt Dieter Langewiesche auch Merkmale der Föderativnation im Deutschen Reich. Gegen die nationalrevolutionäre Gründung des Reiches durch den Ausschluss Österreichs und die Annexionen 1866 und 1871 regte sich unter den Staaten und Parteien Widerstand. „Die föderativnationale Abwehrfront gegen einen großpreußischen Nationalstaat reichte von den Monarchen über Konservative und Liberale bis zu den Demokraten. Sie übergriff auch die Konfessionen.“ (S. 75) Doch besaßen diese unterschiedlichen Kräfte keinen gemeinsamen Bauplan für die Reform ihrer Staaten.

Dieter Langewiesches Argument ist analytisch fruchtbar bis in die Gegenwart und hängt doch an nicht explizierten Voraussetzungen. „Einheit in Vielfalt“ stellte selbst für viele Abgeordnete der extremföderalistischen und radikal antipreußischen bayerischen Patriotenpartei eine argumentative Rückzugslinie dar, als in der Münchener Beitrittsdebatte im Januar 1871 die Möglichkeit aufschien, dass sich die protestantischen Franken und die linksrheinische Pfalz dem Reich annähern könnten. Bayern trat mit erheblicher Unterstützung der Patrioten dem Reich bei. Es blieb intakt und erhalten und die Patrioten vertraten fortan bayerische Interessen im Reichstag. Die Integrität des bayerischen Staatsgebiets ließ sich nur im Reich und nicht gegen es verteidigen (S. 75). Auch Konrad Adenauer hatte auf die Souveränität Westdeutschlands nach 1949 unter der Devise zugearbeitet: „Souveränitätsgewinn durch Souveränitätsverzicht“.1 Alan Milward hat das Argument für die Beitrittswellen zur Europäischen Union unter dem Titel „The rescue of the nation state“ ähnlich formuliert. Der Beitritt zur EG und später zur EU war für viele Staaten Ostmitteleuropas seit den 1990er-Jahren schon deswegen attraktiv, weil sich so ihre Souveränität in Zeiten globaler Märkte und Finanztransfers besser verteidigen ließ als allein außerhalb der EG / EU. Der Beitritt bedeutete nicht den Verzicht auf die eigene Souveränität, sondern sie erlaubte deren Verteidigung.2

Der immer wieder angemahnte Vergleich mit Italien ist erhellend, wirkt aber auch zurück. Italien kannte ebenfalls eine lange Geschichte der Vielstaatlichkeit. Auch hier wurde die Sezession von Österreich durch einen Krieg erzwungen (S. 75f.). Wie Preußen ragte hier Piemont mit seinem Statuto Albertino von 1848 hervor, wie Bismarck war Camillo Benso di Cavour die treibende politische Kraft. Anders jedoch als in Deutschland ging die Nationalstaatsgründung in Italien mit der Vernichtung aller Throne einher und führte in einen nationalen Einheitsstaat. Die Ursache für diesen markanten Unterschied sieht Dieter Langewiesche darin, dass in Italien der Föderalismus keinen Ort im politischen Leben erhalten hatte. Der unitarische Nationalstaat konnte so die vielen kleinen Staaten überwältigen.

Der nordamerikanische Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt fand eine andere Antwort auf die Frage, warum in Italien ein Einheitsstaat, in Deutschland aber ein Bundesstaat entstand. Bei den deutschen und italienischen Teilstaaten war die „infrastructural capacity“ ungleich stark ausgeprägt.3 Damit war die effektive Regierungsfunktion der Teilstaaten gemeint, die sie in die Lage versetzte, als Verhandlungspartner in der Nationalstaatsbildung ernst genommen zu werden und in einem Bundesstaat eine Steuerungsfunktionen zu übernehmen. Diese Merkmale waren in den deutschen Bundesstaaten mehr gegeben als in Italien. Bismarck und die Nationalliberalen in Deutschland fanden ein komplexes und erprobtes Netzwerk von bestehenden Normen und formalen Institutionen vor, die sie zu Zugeständnissen zwangen. In Italien waren die Verhandlungspartner von Cavour weitaus schwächer.

In Deutschland stand dem Einheitsstaat eine robuste Dezentralisierung entgegen: die regional differenzierte politische Öffentlichkeit, die Polyzentralität von Transport und Kommunikation, schließlich auch die konfessionelle Spaltung des Erziehungs- und Bildungswesens. Sobald freilich ein Teilstaat diese effektiven Regierungsfunktionen nicht erbringen konnte, verlor er die Loyalität der eigenen Bevölkerung. 1866 annektierte Preußen zwar Hannover, Hessen-Kassel, Nassau und die Freie Reichsstadt Frankfurt am Main. Reformunwillige Monarchen wie der König von Hannover, der Kurfürst in Kassel oder das Frankfurter Patriziat hatten ihren Kredit bei den eigenen Bürgern jedoch längst verspielt. Bis auf die Welfen trauerte diesen Fürsten kaum jemand hinterher. Nicht zufällig waren die Nationalliberalen bei den demokratischen Reichstagswahlen in denjenigen Gebieten besonders stark, die 1866 von Preußen annektiert worden waren. Dagegen blieb das wirtschaftlich starke, aber militärisch 1866 unterlegene Königreich Sachsen intakt und erhalten. Die Föderativnation als Alternative zum Einheitsstaat war an Voraussetzungen gebunden, die sie immer neu erfüllen musste, sollte sie nicht das Schicksal des Königs von Hannover im Pariser Exil ereilen. So viel Modernisierung musste dann doch sein, damit die Föderativnation existieren konnte.

Dieter Langewiesche ist mit diesem Buch nicht nur ein Überblick über die Prägekraft der Föderativnation im 18. und 19. Jahrhundert gelungen. Er zieht die Linien auch weiter in die Zeit nach 1871 und sogar 1919. Dieser Band ist allen zu empfehlen, die aus den vorgestanzten Dichotomien der Forschung zum Kaiserreich wie Einheit oder Vielfalt, Demokratie oder Föderalismus herauswollen.

Anmerkungen:
1 Corine Defrance / Ulrich Pfeil, Eine Nachkriegsgeschichte in Europa. 1945 bis 1963, Darmstadt 2011, S. 67–83.
2 Alan Steele Milward / George Brennan / Federico Romero, The European Rescue of the Nation-State, London 1992.
3 Daniel Ziblatt, Structuring the State. The Formation of Germany and Italy and the Puzzle of Federalism, Princeton 2006; ders., Rethinking the Origins of Federalism. Puzzle, Theory, and Evidence from Nineteenth Century Europe, in: World Politics 57 (2004), S. 70–98.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch