Cover
Titel
Mitgebracht. Eine Zuwanderungsgeschichte Wolfsburgs


Herausgeber
Kraus, Alexander; Nedelkovski, Aleksandar
Reihe
Texte zur Geschichte Wolfsburgs 40
Erschienen
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Ludwig, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Wolfsburg, 1938 als „Stadt des KdF-Wagens“ gegründet, war als Neue Stadt über Jahrzehnte per se von Zuwanderung geprägt, die in den späten 1940er- und den 1950er-Jahren Migration von deutschen Flüchtlingen und seit den 1960er-Jahren eine starke Zuwanderung ausländischer Arbeitskräfte bedeutete.1 Zwar ist die Zeit des quantitativen Stadtwachstums seit Mitte der 1970er-Jahre vorüber, doch ist die Stadtgesellschaft weiterhin von Migration geprägt. Der statistische Bevölkerungsbericht für das Jahr 2020 verzeichnet einen Anteil der „Bevölkerung mit Zuwanderungsgeschichte“ von knapp 40 Prozent.2 In der archivalischen Überlieferung und der Forschung ist dies jedoch bislang, mit Ausnahme der italienischen Arbeitskräfte für das Volkswagenwerk, nur unzureichend berücksichtigt worden, wie die Herausgeber des Bandes „Mitgebracht“ betonen (S. 15).

Für einen ersten Zugriff auf die Vielfalt der Stadtbevölkerung wurde deshalb kein Archivgut verwendet, sondern ein erinnerungsethnographischer Ansatz gewählt. Das hier besprochene Buch enthält 85 Objekte der Migration (alphabetisch nach Ländern geordnet) und dazu jeweils eine Objektgeschichte, die von Wolfsburgerinnen und Wolfsburgern im Rahmen eines Aufrufs des Instituts für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation als Belege für eine Migration in die Stadt vorgeschlagen und anlässlich des 45. Jahrestages des Bestehens des kommunalen Integrationsreferats 2019 in einer Plakatausstellung gezeigt wurden. Alle Objektgeschichten beruhen auf Erzählungen der LeihgeberInnen, sind also individuelle Interpretationen und Kontextualisierungen des jeweiligen Gegenstands.3

Aus dieser Dingesammlung resultieren verschiedene Fragen: Lassen sich die Objekte über das Einzelstück hinaus kategorisieren? Können spezifische erzählerische Motive und Perspektiven in den begleitenden Objektgeschichten ausgemacht werden? Können die Objekte Migrationsgeschichte auf spezifisch lokaler Ebene oder auch generell repräsentieren?

Die ausgewählten Migrationsobjekte sind durchweg, und dies war von den InitiatorInnen geplant, Erinnerungsobjekte. Sie dienen in der Mehrzahl der emotionalen Verbindung mit dem Herkunftsland, repräsentieren also zunächst einmal Vergangenheit. Vertreten sind familien- und freundschaftsbezogene Erinnerungsobjekte wie Geschenke zum Abschied, Kleidung, Schmuck und Gebrauchsobjekte wie Musikinstrumente oder Spiele, touristische Souvenirs, schließlich symbolische Objekte wie Tischwimpel und Fahnen. Als Erinnerungsobjekte haben die Dinge aber immer auch eine Verbindung zur Gegenwart, in der sie betrachtet und anlassbezogen benutzt werden. Sie bieten Trost oder symbolisieren in der Gruppe herkunftszentrierte Gemeinsamkeit. In den einleitenden Beiträgen zum Projekt unterscheiden Aleksandar Nedelkovski und Johanna Speikamp die Funktionen der Migrationsobjekte als materiell gebundene Erinnerung, als Erinnerungs- und Kommunikationsanlass oder auch als symbolische Repräsentanz.

Inwieweit mit den Objekten ein Alltagsgebrauch verbunden ist, lässt sich nicht eindeutig erschließen und variiert von Gegenstand zu Gegenstand. Deutlich wird in den Objektgeschichten jedoch die unterschiedliche Bedeutung für die Bewältigung der Migrationssituation. Die Dinge werden als travelling objects, als Objekte des Trostes und der Identitätsbildung sowie als Übergangsobjekte erkennbar. Über die generell mit ihnen verbundene Funktion der Erinnerung an das Herkunftsland hinaus, und teilweise auf die konkrete Situation bei Migration und mehr noch bei Flucht bezogen, können aus den Geschichten sowohl traumatische Erfahrungen wie Erinnerungen an geliebte Menschen deutlich werden. Es zeigt sich aber auch, dass manche Migrationsobjekte erst nachträglich, etwa bei Besuchen im Herkunftsland, erworben wurden und somit eine Kontinuität der Verbindung zeigen. Obwohl die meisten Objektgeschichten sich auf die ursprüngliche Dingbedeutung in der Herkunftskultur und den Erwerbskontext beschränken, reflektieren einzelne Beiträge auch die Verhältnisse der BesitzerInnen zu den Dingen. So wird beispielsweise vermutet, dass die Beziehung zu einem Gegenstand erst mit der Migration entsteht (S. 177) oder dass Migration auch zirkulär verlaufen kann und Objekte diese Bewegung begleiten (S. 183).

Sind die im Band vorgestellten Objekte und Migrationsgeschichten repräsentativ für eine spezifische städtische Entwicklung, oder können sie auch einen generellen Zugriff auf die zunehmend von Migration geprägte Gesellschaft der Bundesrepublik anbieten? Wolfsburg ist mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall, denn die Stadt ist binnen weniger Jahrzehnte grundsätzlich aus Migration entstanden und hat sich über wenige Generationen von ZuwandererInnen als Stadtgesellschaft konstituiert. Diese Zeitschichten und Herkünfte der Migration sind in den Objekten repräsentiert, wenn auch ungleich gewichtet. So finden sich einige wenige Beispiele aus der frühen Zuwanderungsgeschichte von Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches und aus der DDR. Die Mehrzahl der Beispiele zeigt jedoch Objekte, die mit den aktuellen weltweiten Fluchtbewegungen in Zusammenhang stehen oder mit der seit den 1960er-Jahren andauernden Zuwanderung aufgrund des Industriestandorts. Die Dinge repräsentieren also Exil ebenso wie Chancenwanderung. So zeigt die Wolfsburger Statistik für die 2010er-Jahre eine massive Zunahme der Bevölkerung aus Bürgerkriegsgebieten, aber auch einen anhaltend hohen Anteil an EinwohnerInnen aus dem für Wolfsburg prägenden Zuwanderungsland Italien.4 Die mit der Herkunft aus 151 Nationen repräsentierte Vielfalt der Stadtbevölkerung belegt damit einerseits spezifische Migrationsmuster, andererseits den Umgang der Stadtverwaltung mit Migration als Integrationsleistung. Migration als Indikator für Internationalität? Der vorliegende Band kann durchaus als Teil einer solchen kommunalen Strategie und Interpretation gelesen werden.

Neben der Erinnerungsfunktion der Dinge fällt auf, wie häufig die BesitzerInnen bei der Beschreibung der Objekte betonen, dass sie in der Ankunftsgesellschaft positive Erfahrungen gemacht hätten. Die eigene Stellung innerhalb der Wolfsburger Gesellschaft wird als gelungene Integration präsentiert, obwohl gleichzeitig die Schwierigkeiten der Akkulturierung dargestellt sind. In der Regel werden diese jedoch in der Vergangenheitsform erzählt, etwa beim Spracherwerb oder der Gewöhnung an die Umgebungskultur.

Dies widerspricht in Teilen den Befunden der zwischen den Objektgeschichten platzierten analytischen Beiträge. So beschreibt Michael Siems die kommunale Integrationspolitik der 1970er-Jahre einerseits als einen Lernprozess von Politik und Verwaltung, verweist aber auch auf den Wandel der Position der Migranten von „Gastarbeitern“ zu Stadtbürgern und die mit der anhaltenden Migration verbundenen sozialen Probleme, etwa des Spracherwerbs oder der kulturellen Differenz. Wolfsburg steht mit diesen Problemen nicht allein; das Besondere der monostrukturierten Industriestadt ist aber die Rolle des Volkswagenwerks und seines Betriebsrats, der eine kommunale Auseinandersetzung mit Migration erst eingefordert hat. Der Integration am Arbeitsplatz sollte die Integration im privaten Lebensumfeld folgen. Wolfsburg als Stadt des Volkswagenwerks und wohlhabende Kommune unterscheidet sich hier ganz offenkundig von weniger stark konturierten Gemeinden und erst recht von deindustrialisierten Gebieten in Deutschland mit ihren fragmentierten lokalen Gesellschaften. Zudem zeigt sich eine auffallende Differenz der stadt- und sozialgeschichtlichen Befunde einerseits und der an die Objekte gebundenen Selbsterzählung. Es bedarf deshalb einer Relektüre dieser Erzählungen aus kritischer Perspektive.

Die 85 Objektgeschichten des Buches repräsentieren Vielfalt und bieten Einblicke in die sehr unterschiedlichen Migrationskontexte, selten auch in Lebensbedingungen und Zukunftserwartungen. Gegenwart und Vergangenheit verbinden sich nicht allein in Erinnerungserzählungen und konkretisieren sich in der Wolfsburger Stadtgesellschaft; sie materialisieren sich zugleich in Objekten der Erinnerung. Das Buch wirbt damit einerseits für ein Verständnis der Vielfalt von Biographien in der Migrationsgesellschaft. Andererseits fokussiert es auf Herkunft und Erinnerung, so dass Lebenswirklichkeiten in der gegenwärtigen Gesellschaft nicht explizit thematisiert werden und der Blick auf das „Fremde“ in der eigenen Gesellschaft letztlich verfestigt wird.

Anmerkungen:
1 Zur Geschichte Wolfsburgs vgl. Rosmarie Beier (Hrsg.), aufbau west aufbau ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit. Buch zur Ausstellung des Deutschen Historischen Museums vom 16. Mai bis 12. August 1997, Ostfildern-Ruit 1997; Ortwin Reichold (Hrsg.), … erleben, wie eine Stadt entsteht. Städtebau, Architektur und Wohnen in Wolfsburg 1938–1998. Begleitband zur Ausstellung vom 26. Mai bis 28. August 1998 in der Bürgerhalle des Wolfsburger Rathauses, Braunschweig 1998; Ulfert Herlyn / Wulf Tessin, Faszination Wolfsburg 1938–2000, Opladen 2000; Jörn Eiben, Industriestädte und ihre Krisen. Wilhelmshaven und Wolfsburg in den 1970er und 1980er Jahren, Göttingen 2019; demnächst Alexander Kraus, Stadt ohne Geschichte? Wolfsburg als Demokratielabor der Wirtschaftswunderzeit, Göttingen 2021.
2 Bevölkerungsbericht Stadt Wolfsburg 2020, S. 21, als PDF online verfügbar unter https://www.wolfsburg.de/statistik (11.02.2021).
3 Eine Weiterführung des Projekts mit Oral-History-Interviews zu den Migrationskontexten ist geplant; Auskunft Alexander Kraus per E-Mail vom 08.02.2021.
4 Zu Hause in Wolfsburg. Integrationsbericht der Stadt Wolfsburg. Fortschreibung des Integrationskonzepts „Vielfalt leben“, Wolfsburg 2019, online abrufbar unter https://www.wolfsburg.de/newsroom/2019/06/13/08/51/integrationsbericht-2019 (11.02.2021).