R.B. Birn: Die Sicherheitspolizei in Estland 1941-1944

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Titel
Die Sicherheitspolizei in Estland 1941-1944. Eine Studie zur Kollaboration im Osten


Autor(en)
Birn, Ruth B.
Erschienen
Paderborn u.a. 2006: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Köhler, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster

„Kollaboration“: In diesem Begriff schwingt meistens eine negative und bewusst wertende Konnotation mit, zumal dann, wenn es sich um das Paktieren einheimischer Personen und Institutionen mit dem nationalsozialistischen Regime gehandelt hat. Ruth Bettina Birn möchte in ihrer Studie über die Sicherheitspolizei in Estland zwischen 1941 und 1944 Kollaboration zunächst nüchtern als Zusammenarbeit von estnischer und deutscher Sicherheitspolizei (Sipo) verstanden wissen. Birns betont sachliche Vorgehensweise erweist sich für dieses sensible Thema als genau richtig, zumal ihre Forschungen, die im Kern auf Quellenfunden im Staatsarchiv von Tallin basieren, vor allem in der estnischen Historiographie grundlegende Diskussionen auslösen könnten. In der historischen Analyse bot sich der Autorin ein auf den ersten Blick verblüffendes Bild: Die nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion auch im baltischen Raum tätige deutsche Sicherheitspolizei baute in Estland ein zweigliedriges Verwaltungssystem auf, in dem die estnische Sicherheitspolizei nicht nur rangniedriger und unselbständiger Befehlsempfänger war, sondern durchaus eigenständig Verfolgungsmaßnahmen ausführte und koordinierte. Da Himmler in den Esten einen rassemäßig den Deutschen artverwandten Volksstamm sah und die deutschen Besatzer zahlenmäßig auf einheimische Unterstützer angewiesen waren, entwickelte sich ein aus Sicht des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) pragmatisches wie erfolgsorientiertes Partnerschaftsmodell unter NS-deutscher Führung. Opfer dieser sich gegenseitig radikalisierenden Politik waren in erster Linie Kommunisten, Juden und als „asozial“ stigmatisierte Esten.

Ihre Einleitung nutzt Birn, die bis 2005 Chefhistorikerin der „War Crimes and Crimes against Humanity Section“ des kanadischen Justizministeriums war und in Deutschland in erster Linie durch ihr Buch über die Höheren SS- und Polizeiführer bekannt wurde, für einen historischen Überblick der estnischen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Besonderes Augenmerk legt sie dabei auf die kurz aufeinander folgenden Besetzungen des Landes erst durch die Sowjetunion im Juni 1940 und anschließend durch die des Deutschen Reiches im Juli 1941. In den zwei Hauptkapiteln des Buches nähert sich die Autorin strukturgeschichtlich zunächst der deutschen Sicherheitspolizei unter der Führung des Kommandeurs der Sicherheitspolizei in Reval, umreißt als Kern ihrer Forschungsleistung das deutsch-estnische Strukturmodell, um anschließend nach Opfergruppen getrennt (v.a. Kommunisten, Juden, Zigeuner, „Gewohnheitsverbrecher“) die Handlungsmuster mit Hilfe von Fallbeispielen aus den gefundenen Akten zu schildern und einzuordnen. In ihrem abschließenden Kapitel, das einen deutlich emotionaleren Schreibstil aufweist, blickt Birn über die NS-Herrschaft in Estland zeitlich hinaus und widmet sich der juristischen Aufarbeitung und historiographischen Verarbeitung.

Obwohl die Studie bewusst nicht biographisch und täterorientiert angelegt sein will, bleibt gleichwohl Martin Sandberger, Kommandeur der Sipo und des Sicherheitsdienstes (SD) der SS in Estland, die bestimmende Person, um die sich die historische Analyse aufbaut. Der 1911 in Berlin geborene Jurist machte beim SD und im Reichssicherheitshauptamt Karriere, bevor er im Zweiten Weltkrieg in den besetzten Gebieten eingesetzt wurde. Neben seiner Leitungsposition in Estland war er unter anderem noch als Führer eines Kommandos der SS-Einsatzgruppe A und als Befehlshaber der Sipo und des SD in Italien tätig. 1948 zunächst zum Tode verurteilt, wurde er 1958 aus dem Gefängnis entlassen. Sandberger wird als stets loyaler, von der Rasseslehre überzeugter Nationalsozialist geschildert, der mit intellektuellem Führungsanspruch und Charisma jedwede Radikalisierung der Verfolgungspraxis gegen Juden und Kommunisten nicht nur befehlsmäßig auf Weisung des RSHA mittrug, sondern vor Ort in Estland initiierte und anordnete. So verschärfte er oftmals persönlich das vorgeschlagene Strafmaß der estnischen Sicherheitspolizei von mehrjährigem Lageraufenthalt in Arbeitserziehungslagern (AEL) oder Konzentrationslagern (KL) in Todesstrafe per Exekution durch Angehörige der Sicherheitspolizei. Zudem ließ Sandberger sowohl seine deutsche Dienststelle als auch die estnischen „Kollegen“ weltanschaulich unterweisen und legte großen Wert auf kameradschaftliche Verbundenheit der estnischen und deutschen Kollegen im und außerhalb des Dienstes - nicht zuletzt bei gemeinsamen Trinkgelagen. Zudem verfügte er offensichtlich über sehr pragmatische Fähigkeiten in Aufbau und Kontrolle der sicherheitspolizeilichen Bürokratie, so dass ihm von Berlin aus vertrauensvoll relativ große Spielräume gewährt wurden, die er im Sinne Himmlers in verbrecherischer Weise in die Tat umsetzte. Leider bleiben demgegenüber biographische Angaben, weltanschauliche Motive und alltägliche Handlungsmuster seines Nachfolgers im Amt, Bernhard Baatz, recht blass.

Eine der Stärken der Studie stellt der exemplarische Charakter der Darstellung nach Opfergruppen dar. Birn durchbricht bewusst die Fortsetzung eines chronologischen wie dienstellenorientierten Darstellungsmusters, da sie so gravierende Unterschiede in der Verfolgungspraxis verdeutlichen kann. Vor allem aber treten je nach Verfolgungsgrund Denk- und Handlungsmuster hervor, in denen sich die deutsche wie die estnische Sicherheitspolizei gegenseitig radikalisierten. Die Tragik dieses dynamischen Prozesses liegt in der noch rigoroseren Verfolgung tatsächlicher und stigmatisierter Gegner. Einige Beispiele hierfür: Die antikommunistische Einstellung der estnischen Sicherheitspolizei war bedingt durch die sowjetische Annexion von 1940 äußerst stark ausgeprägt. Der estnische Selbstschutz (Omakaitse) nutzte das temporäre Machtvakuum bis zum Einmarsch der deutschen Truppen im Sommer 1941 zur systematischen Säuberung – also Ermordung – der kommunistischen Funktionselite und ihrer Unterstützer aus. Auch unter deutscher Herrschaft blieb die estnische Sicherheitspolizei bei der Verfolgung von Kommunisten initiativ. Die deutschen Truppen wiederum legten – den rassepolitischen Vorstellungen des NS-Regimes folgend – ihren Verfolgungsschwerpunkt direkt nach Beginn des „Barbarossafeldzuges“ auf die Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Unter Führung der SS-Einsatzgruppe A wurde bereits ein halbes Jahr nach der Eroberung der baltischen Gebiete nach Berlin gemeldet, Estland sei „judenrein“. Von ehemals etwa 4.000 Juden in Estland konnten zwei Drittel zunächst fliehen, die verbleibenden knapp 1.000 Juden wurden ermordet. Forcierten im Rahmen der Parallelstruktur die estnische und deutsche Sicherheitspolizei gegenüber Kommunisten und Juden jeweils eigene besonders stark ausgeprägte Vernichtungsaktivitäten, so bündelten sich in der Verfolgung und Aussonderung so genannter Zigeuner, „Gewohnheitsverbrecher“, „Asozialer“ und Prostituierter die Interessen beider Institutionen. Birn stellt anhand von Einzelschicksalen dar, dass die einzelne in dieses Verfolgungsraster geratene Person sich in der Regel eigenständig nicht mehr befreien konnte. Gesellschaftlich bedingte Vorurteile, rassische Grundprinzipien und zeitaktuelle erbbiologische Maximen radikalisierten sich in Estland zwischen 1941 bis 1944 zu einer bis dato beispiellosen Kooperation und Kollaboration zwischen deutschen Besatzern und estnischen Funktionsträgern. Wer außerhalb der selbsternannten „Volksgemeinschaft“ stand, musste mit der bedingungslosen Ausmerzung rechnen. So notierte Sandberger im Januar 1942 lapidar über ein Opfer, er sei „ein für die Volksgemeinschaft absolut wertloses Subjekt, dessen Exekution hiermit verfügt wird“ (S. 192).

Das letzte Hauptkapitel zur juristischen und historischen Aufarbeitung der deutschen und estnischen Verbrechen hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Ist die Darstellung der Geschichte des KL Vaivara mitsamt Außenlagern zuvor schon im Abgleich mit der konkreten Befehlskompetenz der Sicherheitspolizei vor Ort im Sinne einer überblickartigen Darstellung der nationalsozialistischen Verfolgung in Estland noch nachvollziehbar und vor allem in das sprachlich-nüchterne Konzept Birns eingebettet, so erscheint der an sich sehr spannende Absatz zur juristischen und historiographischen Praxis demgegenüber ungewöhnlich emotional und mit dem sprichwörtlichen moralischen Zeigefinger behaftet. Vielleicht ist dies auf ihre jahrlange verdienstvolle Tätigkeit im kanadischen Justizministerium und die sicherlich zum Teil frustrierenden Erkenntnisse der historischen Analyse juristischer Prozesse zurückzuführen. Ein sehr kluger Satz sei dabei aber in Bezug auf die Arbeitsweise der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ in Ludwigsburg bewusst hervorgehoben: „Einer der großen Mängel beim Aufbau der Zentralen Stelle war, dass sich die Justizministerkonferenz aus Budget-Gründen nie dazu durchringen konnte, Historiker anzustellen“ (S. 239).

Dieser in erster Linie sprachliche Kritikpunkt tritt in der Gesamtanalyse in den Hintergrund. Mit ihrer bahnbrechenden Studie über die deutsche und estnische Sicherheitspolizei zwischen 1941 und 1944 ist Ruth Bettina Birn eine spannende historische Analyse und Lektüre über Weltanschauung, Gewalt und Alltag über Estland in einem Jahrzehnt der Extreme gelungen.

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