J. Schmidt: Brüder, Bürger und Genossen

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Titel
Brüder, Bürger und Genossen. Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Klassenkampf und Bürgergesellschaft 1830–1870


Autor(en)
Schmidt, Jürgen
Reihe
Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts 4
Erschienen
Anzahl Seiten
660 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marco Swiniartzki, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Nachdem sie in den 1990er-Jahren zum Stillstand gekommen zu sein schien, hat die Arbeiterbewegungsforschung in den vergangenen Jahren eine spürbare Belebung erfahren. Dass eine solche Revitalisierung auch an einem der wichtigen Großprojekte der deutschen Geschichtswissenschaft, der „Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“, nicht spurlos vorbeigeht, zeigt der bereits 2018 erschienene Band 4 der Reihe von Jürgen Schmidt, in dem sich der Autor der Initiationsphase der deutschen Arbeiterbewegung zwischen 1830 und der Reichsgründung widmet. Es gelingt ihm dabei sehr gekonnt, weiterhin essentielle Ansätze der Sozial- und Organisationsgeschichte mit kulturgeschichtlichen, transnationalen und genderspezifischen Perspektiven zu verknüpfen. Dass die Darstellung dabei bei Weitem nicht so stark auf die Rolle des Betriebs und der Arbeit verweisen kann wie der wissenschaftliche Diskurs der „Labour History“ insgesamt, liegt einerseits am Sujet selbst – einer politischen Geburt der Arbeiterbewegung in der Vereinskultur und Ideengeschichte des Vormärz und der Revolution –, andererseits aber auch an einem Quellenmangel zur frühen Arbeiterbewegung „von unten“ (S. 487) und implizit auch an der Tatsache, dass sich die Forschung seit ihrem erneuten Aufstieg fast ausschließlich mit dem 20. Jahrhundert befasst hat.

Chronologisch in drei Hauptkapitel untergliedert, die sich mit dem Vormärz, der Revolution 1848/49 sowie der „zweiten Gründungsphase“ in den 1850er- und 1860er-Jahren beschäftigen, möchte Schmidt untersuchen, wo die Ursachen für die Formierung der deutschen Arbeiterbewegung auszumachen sind und wie sich die Bewegung zwischen den Polen des Klassenkampfes und als zivilgesellschaftlicher Akteur zu verorten versuchte (S. 25). Dafür schlägt er vier Kernthesen vor (S. 23–25), die früh den mehrdimensionalen Anspruch des Bandes deutlich machen und in deren konsequenter Umsetzung auch dessen größte Stärke liegt. Organisationssoziologisch informiert geht der Autor davon aus, dass Arbeitergeschichte und Arbeiterbewegungsgeschichte nie deckungsgleich, sondern mit Schnittmengen aber in unterschiedlichen Kontexten abliefen, dass „Politik“ und Erfahrung „von unten“ Wechselseitigkeiten unterlagen, dass die Arbeiterbewegung vielfältige Einflüsse aus der Welt jenseits des sozioökonomischen Gegensatzes verarbeitete und dass sie sich dabei nie als „reine Konfliktgeschichte“ präsentierte, sondern den Dialog genauso beinhaltete.

Diese wichtigen Vorannahmen ermöglichen es ihm, die frühe Geschichte der Arbeiterbewegung entlang einiger zentraler Spannungslinien aufzuziehen: Gesellschaftlich zwischen dem Sehnsuchtsort der liberalen „Bürgergesellschaft“ und einer stärker werdenden klassengesellschaftlichen Aufladung – methodisch zwischen der großen Bedeutung von strukturellen Faktoren wie der Ausbreitung der Lohnarbeit oder der Urbanisierung und dem kultur- und erfahrungsgeschichtlichen Fluidum der lokalen Handlungsebenen – räumlich zwischen den lokalen Wurzeln von Organisationshandeln und transnationaler Verflechtung sowie zwischen Stadt und Land – kulturell zwischen einer persistenten „Volkskultur“ und dem Anspruch der Vereins-/Parteidisziplin – organisationssoziologisch zwischen Inklusion und Exklusivität – sozioökonomisch zwischen handwerklichen Wurzeln und Industrialisierungsfolgen – politisch zwischen konkurrierenden Organisationen und vor dem Hintergrund der nationalen Frage – und nicht zuletzt gendertechnisch zwischen einer männlich codierten Arbeiterbewegungskultur und der lange weiterwirkenden Exklusion von Frauen. Der einleitende Anspruch des Bandes „Struktur, Handeln und Politik zueinander zu bringen“ (S. 25), der sich auch als Wunsch verstehen lässt, das frühere Schisma der Geschichtswissenschaft hinter sich zu lassen, kann aufgrund dieser multiperspektivischen Spannungsverhältnisse als erfüllt gelten – was auch an einer gelungenen Quellenauswahl liegt, die Tagebücher, Lieder und Gedichte genauso umfasst wie behördliche Akten, Zeitungen und aggregierte Daten.

Schmidt versteht die Entwicklung der frühen Arbeiterbewegung als „Erfolgsgeschichte“, aber nicht als „Siegergeschichte“ (S. 17). Er weist darauf hin, dass es wichtig und richtig ist, die Frage nach den Ursachen des späteren Erfolgs zu stellen, möchte sich aber vor jeglichem Determinismus hüten und die Darstellung für querliegende Prozesse offenhalten. Folglich betont er immer wieder die besondere Kontingenz einzelner Phasen ohne diese in eine bestimmte Entwicklungslogik zu pressen, wozu die generell eher abwägend-vorsichtige als zugespitzte Argumentation sehr gut passt. Jedes der drei Hauptkapitel beginnt mit einer ausführlichen Darstellung der vor allem politischen und sozialen Entwicklungen des Zeitabschnitts, um die Grundlagen, unter denen sich die „soziale Bewegung“ (S. 19) herauskristallisieren konnte, einzuordnen. Es entsteht dadurch im Grunde nicht nur eine Arbeit über die frühe Arbeiterbewegung, sondern das Porträt einer Zeit, die zwischen Tradition und Neuerung hin- und hergerissen war. Im Anschluss an diese strukturellen Entwicklungen widmet er sich mit den Gesellenbruderschaften und Zünften sowie den Kongressbewegungen der späten 1840er- und frühen 1860er-Jahren den Vorfeldinstitutionen und Arenen, in denen sich der von ihm adressierte Übergang in klassenspezifische Denkmuster und die langsame Abkehr von bürgerlich-liberalen Interessen vorbereiten konnten. Den dritten Abschnitt eines jeden Hauptkapitels bilden schließlich die ausführlichen Darstellungen zur Organisationsgeschichte der Arbeiterbewegung selbst, wobei programmatische, praxeologische, soziale und institutionelle Aspekte gleichberechtigt nebeneinanderstehen.

Als tragendes Moment und Scharnier begegnet bei Schmidt einerseits immer wieder die „Bewegung“ – nicht nur im älteren Duktus einer politischen Organisationsgeschichte, sondern als Gesellenwandern, Migration, Zirkulation von Ideen und von Interessen, verstanden – als Kern einer Kommunikationsgeschichte sozialer Bewegungen. Es gelingt ihm auf diese Weise, die besondere Dynamik der frühen Arbeiterbewegung, aber auch ihre europäische und programmatische Interdependenz gut abzubilden. Die als Fazit des ersten Kapitels formulierte Frage, inwieweit die deutsche Arbeiterbewegung transnationale Elemente aufwies, hätte dabei auch fruchtbar für die weitere Darstellung sein können. Als zweiter Schwerpunkt fällt andererseits die Herstellung einer Öffentlichkeit auf, indem institutionelle, mediale und ereignisgeschichtliche Aspekte dahingehend befragt werden, ob und wie sie die Anliegen der Träger der frühen Arbeiterbewegung publik machten, verbreiteten und damit werbend wirksam wurden. Ihre Verschmelzung finden beide Schwerpunkte schließlich in der ausgeprägten Würdigung der „Bewegungsunternehmer“ (S. 254), deren Wirkung und konkurrierende Agenda nicht nur maßgeblich an der „Ideologieproduktion“ (S. 457), sondern auch der Entwicklung von der Versammlungs- zur Vereinsdemokratie (S. 265) und schließlich am Übergang von Arbeitervereinen zu Arbeiterparteien (S. 364) beteiligt waren. Als individuelle Handlungsebene bilden sie quasi das praxeologische Gegenstück zur strukturhistorischen Einführung der Kapitel.

Der Autor entwirft eine Emanzipationsgeschichte einer Minderheit der Handwerker und frühen Lohnarbeiter vom politischen Liberalismus, die im Vormärz angelegt war, sich in der Revolution („Geburtsstunde der modernen Arbeiterbewegung“ S. 319) beschleunigte und sich 1862/63 endgültig durchgesetzt hatte. Die Darstellung begleitet diesen Emanzipationsprozess auf Vereins- und Parteiebenen, in der Kongressbewegung, in der langsamen Umdeutung des Wortes „Arbeiter“, auf ideengeschichtlicher Ebene und auch in den individuellen Wirkungsfeldern der bekanntesten Akteure wie Lassalle, Bebel, Marx, Born und Weitling. Dabei wirken jedoch selbst jene Entwicklungen, die lange Problem-Linien in die Geschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik aufwerfen (etwa Ideologielastigkeit, Betriebsferne, fehlende Inklusion ländlicher, weiblicher und unqualifizierter ArbeiterInnen), bei Schmidt nie wie eine historische Einbahnstraße, sondern werden als „Traditionskerne[n], die weiterwirkten“ (S. 323) mit progressiveren Momenten der Bewegung verknüpft. So blieben etwa Sinnbildungsangebote des Bürgertums, Praktiken des Handwerks oder die Metaphorik der Religion trotz des Abnabelungsprozesses der Arbeiterschaft stets von Bedeutung, während Gewerkschaften, Genossenschaften und Streiks als vermeintlich modernere Ansätze in das kontingente Ideen- und Methodenspektrum der frühen Arbeiterbewegung einbezogen werden, ohne das Drei-Säulen-Modell der Arbeiterbewegung des späteren Kaiserreichs vorzuzeichnen. Schicksalhaft und spezifisch deutsch erwies sich für die frühe Arbeiterschaft dabei die Verbindung der sozialen mit der nationalen Frage und damit der Politik, die die Bewegung langfristig spaltete. Auch in dieser Hinsicht erliegt der Autor nicht der Gefahr, aus Sicht des späteren Siegeszuges der sozialistischen Arbeiterbewegung zu denken, sondern verweist auf die anfängliche Überlegenheit katholischer Vereine oder den Organisationsvorsprung der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine (S. 520–528).

So gelingt dem Autor ein ausgewogenes Bild einer entstehenden Bewegung, in der zu Beginn „nicht besonders viel“ proletarisch war (S. 545), sondern die erst in den vielfältigen Wandlungsprozessen zwischen 1830 und 1870 ein klassenspezifisches Gesicht annahm und sich von bürgerlich-liberalen Denkmodellen trennte – ohne dass aber die „Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie“ als Ziel vorhanden (S. 545) oder um 1870 bereits abgeschlossen gewesen wäre. Als Projekt von Handwerkern mit Blick auf die Respektabilität, Vereinsidee, Selbsthilfe und die Bildungsideale des Bürgertums entstanden, aber dort genauso wenig voll anschlussfähig wie gegenüber der entstehenden Lohnarbeiterschaft in der Industrie, prägte die frühe Arbeiterbewegung bereits der Zwang zur Vermittlung, Überbrückung und Übersetzung zwischen unterschiedlichen Interessen und Lebenswelten. Die massiven regionalen Unterschiede, die Schwankungen der Mitgliederzahlen, die Mischung aus Kontinuität und Wandel, aus politischer und sozialer Bewegung sowie die kontinuierliche politische Spaltung der Arbeiterbewegung liegen auch dort begründet. Zu beschreiben, wie sich in dieser Gemengelage klassenspezifische Denkmuster in der bzw. den Bewegung(en) (teilweise) gegen bürgerlich-liberale durchsetzten, worauf dies strukturell zurückzuführen war und durch wen dies wieso forciert oder verhindert wurde, wird in der Studie hervorragend deutlich und macht den Band – auch durch ein handbuchartiges Literaturverzeichnis – zu einem modernen, sehr lesenswerten und hoch anschlussfähigen Bestandteil dieser wichtigen Buchreihe.

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