Cover
Titel
Geschichtsmatura. Eine empirische Untersuchung zum kompetenzorientierten Prüfungsmodus


Autor(en)
Pichler, Christian
Reihe
Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte - Sozialkunde - Politische Bildung 14
Erschienen
Innsbruck 2021: StudienVerlag
Anzahl Seiten
484 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Nitsche, Pädagogische Hochschule Fachhochschule Nordschweiz, Aarau

Christian Pichler stellt sich in seinem Buch „Geschichtsmatura“, bei dem es sich um die gekürzte Fassung seiner Habilitationsschrift von 2019 an der Universität Salzburg handelt (S. 14), einer aktuellen geschichtsdidaktischen Herausforderung: der kompetenzorientierten Einschätzung von geschichtsspezifischen Lernleistungen. Mit seiner Studie betritt Pichler Neuland, da er sie auf mündliche Maturaprüfungen in Österreich ausrichtet und bisher zwar pragmatische Vorschläge zur mündlichen Leistungserfassung1 sowie vereinzelte Studien zu Unterrichtsbeiträgen von Schüler:innen vorliegen2, jedoch keine Studien zu mündlichen Prüfungssituationen. Pichler ist sich bewusst, dass er sich an ein ambitioniertes Unterfangen wagt, in dem er einleitend hervorhebt, „Kompetenzmessung“ in Geschichte stelle aufgrund der kaum zu bewältigenden Standardisierung und aufgrund der lediglich punktuell vorliegenden Forschung zum Thema ein „komplexes Vorhaben“ dar (S. 11f.). Dennoch formuliert Pichler den Anspruch, dass die „Ergebnisse der Studie die Konstruktion einer wissenschaftsgestützten Kompetenzevaluation“ fördern solle.

Im Theorieteil wird zunächst die historische Entwicklung von der Inhalts- zur Kompetenzorientierung seit den 1960er-Jahren kurz skizziert (S. 24–29). Anschließend umreißt Pichler die geschichtsdidaktische Funktion der Kompetenzorientierung (S. 29–35) und stellt ein spezifisches Kompetenzmodell – das der FUER Gruppe3 – ins Zentrum, da dieses die Grundlage für seine empirischen Analysen bildet. Dabei entfaltet der Autor die theoretischen Prämissen (u.a. Narrativität) des Konzepts, geht auf kritische Diskussionen innerhalb der Geschichtsdidaktik ein, widmet sich dem Zusammenhang zwischen Wissen und Kompetenz und fasst ausführlich die Überlegungen zur sogenannten Graduierung – der theoretisch begründeten Modellierung von Niveaus der fassbaren Ausprägungen unterschiedlicher FUER-Kompetenzen (z.B. Frage-, Methoden-, Orientierungskompetenz) – zusammen (S. 36–80). Daraufhin berichtet Pichler den österreichischen Stand der Diskussion zum Erhebungszeitpunkt im Jahr 2015 sowie der damaligen bildungspolitischen und curricularen Vorgaben zu kompetenzorientierten Maturaprüfungen in Geschichte. Diese seien einerseits am FUER-Modell orientiert worden, anderseits an den Anforderungsbereichen (Reproduktion, Transfer, Reflexion) der deutschen „Einheitlichen Prüfungsanforderungen in Geschichte (EPA)“ (S. 81–102). Den Theorieteil beschließen punktuelle Erörterungen methodologischer Probleme während der historischen Kompetenzanalyse (S. 103–110).

Im Methodenteil verortet Pichler sein Forschungsvorhaben im „Mixed-Method-Design“, indem er die Auswahl der 30 beobachteten mündlichen Maturaprüfungen im österreichischen Bundesland Kärnten anhand aller dort im Jahr 2015 durchgeführten mündlichen Prüfungen (2475) sowie der geschichtsspezifischen (185) „quantitativ“ verortet (S. 118–125), um „die Repräsentativität der Studie zu zeigen“ (S. 119). Anschließend charakterisiert er sein Erhebungsverfahren als „tondukumentiert[es]“, beschreibt seine Datenanalyse der Prüfungen und eingesetzten Aufgaben als deduktive und induktive Inhaltsanalyse nach Mayring, dessen Interrater-Reliabilität aufgrund einer zweiten Einschätzung abgesichert worden sei (S. 151, 422), und stellt mittels Verschränkung der EPA-Anforderungen mit den FUER-Kompetenzen sein Analyseraster samt Leistungsabstufungen anhand der FUER-Graduierungen vor (S. 126–150). Zudem finden sich tabellarische Übersichten etwa zur Dauer der Prüfungen (S. 152) sowie zu den Themen (z.B. „Revolutionen“, „Quellen analysieren“, S. 155–160).

Im Ergebnisteil werden jeweils alle (!) 30 ausgewählten Geschichtsprüfungen hinsichtlich quantitativer (vor allem Dauer, Sprechanteile) und qualitativer Aspekte (Prüfungsaufgaben, Leistung) vorgestellt (S. 164–421), bevor abschließend die Ergebnisse hinsichtlich der Ausprägungen der FUER-Kompetenzen zusammengefasst und diskutiert sowie Empfehlungen abgeleitet werden (S. 422–445). Die Hauptergebnisse lassen sich jedoch knapp zusammenfassen:

Bildungsorganisatorisch sei der zeitliche Vorlauf zur Einführung mündlicher, kompetenzorientierter Geschichtsprüfungen ab 2015 zu kurz ausgefallen (S. 432f.). Die Qualität der Prüfungsaufgaben bewertet Pichler als wechselhaft, obwohl er insgesamt betont, sie eigneten sich kaum zur Kompetenzanalyse (S. 433). So dürfte es nicht verwundern, wenn die Kompetenzniveaus der Geprüften aus Pichlers Sicht eher durchwachsen ausfallen. Im Bereich der Sachkompetenz dominiere die Reproduktion von Fachwissen und die Geprüften befänden sich in Anlehnung an die FUER-Graduierung tendenziell auf basalem Niveau (z.B. Konzepte: Aussagen über Vergangenes in Medien werden erkannt, Quellen und Darstellungen werden aber nicht kategorial unterschieden). Vier Prüflinge verfehlten sogar dieses. Ähnlich fallen die Einschätzungen zur Methodenkompetenz aus und insbesondere die „Fähigkeit zur Kontextualisierung“ sei „schlichtweg desaströs“. Im Bereich der Orientierungskompetenz würden 60% der Befragten nicht Pichlers Erwartungen zur Urteilsbildung erreichen und bei 83,33% gebe es keine Hinweise auf Reflexionsfähigkeit eigener Geschichtsbilder (S. 435ff.). Als Hauptgründe für die Befunde identifiziert Pichler „Limitationen“ in der „Ausprägung der Bildungssprache“ der Geprüften sowie zum Teil problematische Gesprächsführungen der Prüfer:innen etwa zu enge Gesprächsführungen (S. 437f.). Im letzten Punkt sieht Pichler denn auch eine Grenze seiner Studie und identifiziert in den wenig kompetenzorientierten Prüfungsaufgaben eine weitere. Dennoch schlussfolgert er, dass sich sein Verfahren aufgrund der guten Übereinstimmung seiner Einschätzungen mit jenen einer zweiten Beurteilungsperson bewährt habe. Richtigerweise betont Pichler seine Ergebnisse bestätigten vorherige Studien zu schriftlichen Geschichtsleistungen (S. 438–440). Eine Liste bildungspolitischer Anregungen, etwa die administrative Verordnung geschichtsdidaktisch begründeter Prüfungsaufgaben oder Fortbildungsmaßnahmen für Lehrpersonen, und geschichtsdidaktische Empfehlungen, wie die Entwicklung von Progressionsmodellen zur Kompetenzerhebung oder die Konzentration auf kompetenzorientierte Unterrichtsforschung, runden Pichlers Arbeit ab (S. 440–440).

Insgesamt handelt es sich fraglos um eine Pionierarbeit zur mündlichen Leistungsüberprüfung in Geschichte, die mit einem kaum zu überschätzendem Arbeitsaufwand verbunden gewesen sein dürfte. Dabei hat Pichler die Logik der Kompetenzorientierung besonders aus der FUER-Perspektive auf einen relevanten Bereich institutionalisierten Geschichtsunterrichts bezogen. Allerdings beeinträchtigen kleinere historische und terminologische Ungenauigkeiten die Studie. So klassifiziert Pichler die Ausrichtung auf „Geschichtsbewusstsein“ seit den 1970er-Jahren als „Grundkonsens“ der Geschichtsdidaktik (S. 27–29), obwohl diese Sicht inzwischen aufgrund der Ausblendung weiterer Ansätze (z.B. Emanzipation) hinterfragt wird.4 Zudem schmälert der missverständliche Gebrauch methodologischer Termini (v.a. „Repräsentativität“, „induktiv“, „deduktiv“, S. 119, 127) oder die wenig gewinnbringende Darstellung aller Prüfungen in Form von Einzelfällen das Lesevergnügen. Weiterhin werden begrifflich unpräzise und für die Untersuchung wenig funktional einzelne englischsprachige Konzepte (z.B. „historical reasoning“) neben deutschsprachigen Ansätzen als „Kompetenzmodelle“ aufgelistet (S. 35f.), statt die zahlreichen Anregungen insbesondere zum Problem der Erfassung unterschiedlicher Leistungsausprägungen aus der geschichtsspezifischen „Assessment“-Literatur5 oder jener zur Lernprogression zu berücksichtigen.6

Ob es Pichler gelungen ist, geschichtsdidaktische Kompetenzevaluation zu fördern, wie von ihm eingangs beansprucht wurde, scheint fraglich. Eher macht die Arbeit auf ein Grundproblem aktueller Kompetenzanalyse aufmerksam, da die deduktive Anwendung theoretisch begründeter Kompetenzkonzepte auf Praxis, vor allem zur Häufung von Defizitbefunden beitragen dürfte, solange wir noch zu wenig von historischer Lernentwicklung verstehen. So ist, wie Pichler richtig andeutet (S. 442), historische Kompetenzentwicklung bisher noch nicht ausreichend begründbar, da unbekannt ist, welche Leistungsausprägungen eigentlich „konventionell“ erwartbar, also gesellschaftlich üblich sind. Daher hat Pichler eher eine Chance verpasst, indem er darauf verzichtete, seine Daten hinsichtlich unterschiedlicher Qualitäten historischer Performanz zu typologisieren. Dies hätte es vielleicht ermöglicht, Progressionskonzepte historischen Denkens stärker empirisch zu begründen und die vorliegende Theorie zu erweitern, statt den bisherigen Defizitbefunden eine weitere – nun auf mündliche Geschichtsleistungen bezogene – hinzuzufügen.

Anmerkungen:
1 z.B. Christoph Kühberger, Leistungsfeststellung im Fach Geschichte, Diagnose – Bewertung – Beurteilung, Schwalbach am Tanus 2014.
2 z.B. Carla van Boxtel / Jannet van Drie, “That's in the time of the Romans!” Knowledge and strategies students use to contextualize historical images and documents, in: Cognition and Instruction 30 (2012) 2, S. 113–145. <https://doi.org/10.1080/07370008.2012.661813> (06.05.2021).
3 Andreas Körber / Waltraud Schreiber / Alexander Schöner (Hrsg.), Kompetenzen historischen Denkens, Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007.
4 z.B. Christian Heuer / Wolfgang Hasberg / Manfred Seitenfuß, Der lange Sommer der Geschichtsdidaktik – Aufriss einer reflexiven Disziplingeschichte, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 19 (2020), S. 73–89.
5 z.B. Peter Seixas / Kadriye Ercikan (Eds.), New Directions in Assessing Historical Thinking, New York 2015.
6 z.B. Mario Carretero / Peter Lee: Learning historical concepts, in: R. Keith Sawyer (Eds.), The Cambridge handbook of the learning science, New York 2014, S. 587–605.

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