Cover
Title
8 mm DDR. Familienfilme als Alltagspraxis, Konsumgut und Erinnerungsmedium


Author(s)
Thalheim, Sebastian
Series
Forschungen zur DDR-Gesellschaft
Published
Extent
335 S.
Price
€ 40,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Sandra Starke, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Schon auf dem Einband der im Ch. Links Verlag erschienenen Studie ist ein stilisierter Filmstreifen zu sehen, der auf das Thema des Buches verweist. Von den sieben verschiedenen Motiven auf dem abgebildeten Film zeigen mindestens drei symbolhaft die DDR: die Flagge, der Trabant und eine Figurengruppe auf der Schlossbrücke mit der rotweiß gestreiften Spitze des Ost-Berliner Fernsehturms im Hintergrund. Das kann man als verlegerische Entscheidung sehen, als Illustration des Titels, als Markierung der historischen Epoche. Schade ist es gleichwohl, da bekanntlich kein Schmalfilm so aussehen konnte. Die Kamera nahm in einer Bildfrequenz von mindestens 16 Einzelbildern pro Sekunde auf, die auf dem Film nahezu gleichartig erschienen.

Zudem stehen die Aussage des Buches und die ikonische Covergestaltung in einem widersprüchlichen Verhältnis: Obwohl Sebastian Thalheim einen transnationalen Ansatz verfolgt und dezidiert nicht nach Spuren der DDR als SED-Diktatur in den Quellen sucht, betont der Einband eben jene DDR-Ikonen wie die allgegenwärtige Flagge als staatliche Aneignung des öffentlichen Raumes. In der privaten Filmpraxis geraten diese Symbole – wenn überhaupt – jedoch nur sehr beiläufig auf den Film. Die Auseinandersetzung der Filmenden mit ihrer Umwelt ist, hier das vorweggenommene Fazit des Buches, eher eine individuelle. Trotzdem sei der Familienfilm keine von der Gesellschaft abgeschottete private Bildpraxis, so der Autor.

Sebastian Thalheim hat mit seiner 2019 eingereichten Dissertation unter dem Titel Familienfilm in der DDR. Schmalfilmtechnologie als mediale Alltagspraxis, populäres Konsumgut und Erinnerungsmedium ein solides und gut lesbares Überblickswerk vorgelegt. Sein größtes Verdienst ist dabei zweifelsohne das Zusammendenken verschiedener Aspekte wie Wirtschafts- und Konsumgeschichte des Schmalfilms, Ratgeberliteratur und Werbung sowie Erinnerungs- und Rezeptionspraktiken des Mediums. Durch diesen breiten Zugang vertritt Thalheim den Anspruch, eine transnationale Verflechtungsgeschichte zeigen zu können, die über die DDR hinausweist. Das kann er insbesondere in seinem Kapitel zur Schmalfilmindustrie auch einlösen, deren Entwicklungen er international und im Vergleich der konsumpolitischen Veränderungen der DDR in den 1970er-Jahren beschreibt. Auch benennen an dieser Stelle einige der vom Autor interviewten zwölf Schmalfilmer ihre Schwierigkeiten, überhaupt Filmkameras zu erwerben.

Die Rezeption und Funktion der DDR-Familienfilme als Erinnerungspraxis ostdeutscher Familien nach 1990 im Zusammenhang mit offiziellen Geschichtsbildern der SED-Diktatur zu sehen, ist ein weiterer neuer und spannender Teilaspekt der Studie. Ob das Bild des „Kitts an einer Bruchstelle nach einem Filmriss“ (S. 271) trägt? Vielleicht hat der Autor an diesem Punkt zu stark an die von ihm befragten Zeitzeugen gedacht, die, als sie sich für das Forschungsprojekt zur Verfügung stellten, eine als erfolgreich konnotierte Lebenserzählung aufweisen konnten. Ob tatsächlich gebrochene Biografien den Schmalfilm-Bestand der eigenen Familie ebenso als Kitt deuten könnten, sei dahingestellt.

Vermissen lässt Thalheim jedoch eine fundierte Auseinandersetzung mit seinem wichtigsten Quellenmaterial: den Filmen selbst. Das Buch weist nur einen vergleichsweise kurzen Teil von 36 Seiten zur empirischen Untersuchung der Filmbestände auf. In diesem Teil interpretiert der Autor durch seine gewählte Struktur die Intentionen der Zeitzeugen deutlich mit. Statt die Filme nach Motivgruppen zu sortieren wie beispielsweise Wohnumfeld, Feste, Reisen etc. subsumiert er sie unter den ihnen zugeschriebenen Funktionen: Familialisierung, Vergnügen, Individualisierung (soziale Distinktion) und Medialisierung (des Umbruchs). Die spannenden Überlegungen und Filmanalysen des Autors in diesen Abschnitten hätten mehr Raum innerhalb der Studie gerechtfertigt. Allerdings fragt man sich schon allein aufgrund der Wortähnlichkeit als Leser sofort, ob die Funktion der Familienfilme als Familialisierung zu beschreiben, nicht als zu erwartbar gelten muss. Wären hier nicht die aus der neueren fotohistorischen Forschung bekannten Mechanismen der Vergemeinschaftung1 durch Visualisierung zielführender gewesen? Die gemeinschaftsstiftende mediale Praxis bezieht sich ja gerade nicht ausschließlich auf die eigene Familie, sondern auch auf eine Gesellschaft, die aus vielen Familien, Gruppen und Individuen besteht.

Den Familienfilm grenzt Thalheim insofern begrifflich vom Amateurfilm ab, als das er nicht im Rahmen staatlich-organisierter Freizeitangebote entstand. Eine vollständige Trennung beider Bereiche sei jedoch nicht zu leisten – einerseits, da Amateurfilmer auch in der Familie filmen konnten, andererseits, da es kulturpolitische Angebote wie das Oberhofer Freizeit-Film-Festival gab. Dort wurden private Urlaubsfilme einer begrenzten Öffentlichkeit vorgeführt. Vielleicht wäre ein weiteres Argument das Selbstverständnis der Filmer als lokale Chronisten gewesen, das besonders im Abschnitt zur Medialisierung aufscheint.

Über die Familienfilmer hinaus gab es sicher weitere Einzelfilmer, die ihrem Hobby nicht in staatlichen Einrichtungen, sondern im Freundeskreis, bei öffentlichen Veranstaltungen oder etwa bei Betriebsvergnügen nachgingen. Einige Filmtitel der von Thalheim gesichteten Bestände wie „Mai Demo 1974“ verweisen darauf. In diesem Zusammenhang wäre – in Abgrenzung zu den organisierten Amateuren, die auch Interesse an Bildern von Veranstaltungen im öffentlichen Raum hatten – vielleicht ein Begriff wie „private Praxis“ zielführender gewesen.

Ralf Forster setzt in seiner Studie zum DDR-Amateurfilm2 die Begriffe Privatfilm und Familienfilm synonym. Er sieht in der Praxis durchaus Parallelen zum Amateurfotobereich, trotz zeitweiser staatlicher Versuche, das Thema Familie als thematisch und ästhetisch überholt und beschränkt darzustellen. Die gezielte Setzung unpolitischer Themen für Filmamateure könnte für eine gewünschte Einbindung der Einzelamateure mit Hilfe thematischer Zugeständnisse in die Klubs sprechen. Anders gesagt: Um mehr Einzelfilmer an die Amateurklubs zu binden, setzte man auch auf die ihnen schon vertrauten familiären Themen.

Auch die Frage nach Unterschieden bei der Verwendung von Schwarz-Weiß und Farbfilm wird im Buch nicht verfolgt, beide stehen unkommentiert nebeneinander. Nur für den 8-seitigen Farbbogen in der Mitte wurden offensichtlich 92 Einzelbilder aus Farbfilmen ausgewählt, während die anderen 53 Abbildungen vermutlich nicht nur schwarz-weiß in relativ schlechter Qualität zwischen den Text gedruckt wurden, sondern auch Schwarz-Weiß-Filmen entnommen worden sind. Hier wünscht man sich als Leser eine DVD mit Filmbeispielen, um dem Medium Film besser gerecht zu werden und auch Sequenzen, zeitliche Abfolgen und Filmdynamik nachvollziehen zu können.

Wenn in der Studie eine Verbindung der Medien privater Fotografie und Schmalfilm angedeutet wird, erfahren die Leser:innen jedoch jenseits „motivisch starker Bezüge zur Familienfotografie“ (S. 26) leider nichts Genaueres über Abgrenzung und Überschneidung beider privater Praxen der Visualisierung.

Da sich Sebastian Thalheims Forschung zwar auch mit Material von deutsch-deutschen Familientreffen, nicht aber vergleichend mit den Schmalfilmern der Bundesrepublik auseinandersetzt, muss der letzte Satz des Fazits eine Vermutung bleiben: „Dadurch konnten die Bilder auch als autobiographische Anhaltspunkte jenseits politischer Diskurse von ‚Unrechtsstaat‘ oder ‚Fürsorgediktatur‘ dienen, und die individuellen Erfahrungen auf 8 mm und Super 8 zeigten sich westdeutschen Familiengeschichten ebenbürtig.“ (S. 271) Die Filme dienten sogar vornehmlich als biografische Anhaltspunkte; das ist der Grund, warum sie bisher kaum und eher zögerlich in historischen Fernsehdokumentationen verwendet werden. Wenn sie medial eingesetzt werden, dann nur um eine „authentische“ und familiäre Atmosphäre zu erzeugen bzw. zu verifizieren.

Die Motive wiederholen sich, der in der DDR-Forschung postulierte „Rückzug ins Private“ scheint sich durch die (Film-)Bilder zu bestätigen. Der beispielsweise durch Pressefotografie vertraute Blick auf das Kollektiv und die sozialistische Gemeinschaft hingegen findet in den privaten Bildwelten fast nicht statt. Nur einige Feiern der Brigade und der Hausgemeinschaft werden gefilmt. Man erblickt indessen die normative Kraft der Bilder anhand des immer gleich aussehenden Alltags in der Kleinfamilie: Geburt, Einschulung, Kindergeburtstag, Jugendweihe. Doch die private, wenn auch nicht individuelle Perspektive bestätigte gleichsam die Identifikation der Fotografierenden/Filmenden mit dem alltäglichen Leben im Staatssozialismus. Da verbindet sich der positive Darstellungsmodus privater Bilder, die Erfolgsgeschichten erzählen wollen, mit den Wünschen der SED nach individueller, positiver Wahrnehmung und Abbildung des Alltags im Staatssozialismus. „Da ging es uns doch gut!“, erzählen die allermeisten Bilder. Diese Lesart war zweifelsohne im Interesse der DDR-Regierung. Somit war die – wenn auch beschränkte – Verfügbarkeit der Apparate mitnichten ein Widerspruch zur Kollektivdoktrin der SED, sondern bot die Möglichkeit, eine moderne und fortschrittliche Perspektive der Bürger auf den eigenen Staat zu schaffen: Seht her, das gute und individuelle Leben findet im Sozialismus statt!

Aufgrund der übergreifenden Fragestellungen der medienhistorischen Studie lohnt sich die Lektüre als Einstieg in das komplizierte Thema, trotz der genannten kritischen Punkte.

Anmerkungen:
1 Nora Mathys, Fotofreundschaften. Visualisierung von Nähe und Gemeinschaft in privaten Fotoalben aus der Schweiz 1900–1950, Baden 2013; Linda Conze, Die Ordnung des Festes / Die Ordnung des Bildes. Fotografische Blicke auf Festumzüge in Schwaben (1926–1934), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 12 (2015), S. 210–235, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2015/5222 (12.11.2021); Ulrike Pilarczyk, Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel, Göttingen 2019.
2 Ralf Forster, Greif zur Kamera, gib der Freizeit einen Sinn. Amateurfilm in der DDR, München 2018.

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