Die Geschichte moderner Staaten ließe sich leicht als die Geschichte lauter Sonderwege schreiben – und die längste Zeit haben Historikerinnen und Historiker just dies getan: Die Vereinigten Staaten haben ihren “Exceptionalism”, die Schweiz ihren Sonderfall, Deutschland den Sonderweg, und dass sich keine Geschichte mit der Frankreichs oder Japans vergleichen lässt, dürfte demnach ohnehin offensichtlich sein. Insgesamt – und zu Recht – geht der Trend zur Zeit in die Gegenrichtung, zu einer Suche nach transnationalen Kontakten und globalen Einbindungen, und diese Strömung hat auch die Schweizer Historiographie erfasst. Die Dissertation von Thomas Gees ordnet sich in diese Bewegung ein; ihre Prämisse ebenso wie die Kernthese lautet, dass die Schweiz eben kein Sonderfall in der modernen europäischen Geschichte darstelle, sondern eine spezifische Variante eines allgemeinen westeuropäischen Prozesses. Konkreter Untersuchungsgegenstand sind drei Themen der Schweizer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Gees möchte zeigen, dass sich die politische Elite der Schweiz in den Nachkriegsjahrzehnten in diesen Bereichen an Konzepten orientierte, die aus gemeinsamen westeuropäischen Verhandlungsprozessen hervorgingen. Unter “Europäisierung” fasst die Studie die Entstehung gemeinsamer Vorstellungen westeuropäischer Regierungsvertreter – eine politikhistorische Eingrenzung, die sich an politikwissenschaftlichen Debatten orientiert, ohne diese direkt zu übernehmen.
Das erste empirische Kapitel widmet sich der Arbeitsmigrationspolitik. Gees beschreibt ausführlich die vielen Veränderungen, die sich in dem Bereich einstellten und insgesamt von den späten 1950er- zu den frühen 1960er-Jahren einen Übergang vom Rotations- zum Niederlassungsprinzip bewirkten. Er zeigt, dass diese Veränderung durch Diskussionen auf europäischer Ebene begleitet und geprägt waren. Vor allem in der OEEC, jenem bis heute unterschätzten, aus dem Marshallplan hervorgegangenen Anlauf europäischer Einigung, wurde in der Zeit das Problem der Personenfreizügigkeit in Westeuropa intensiv diskutiert. Durch weitere Integrationsschritte, vor allem die Gründung der EWG, entstand in Westeuropa die Perspektive eines Wirtschaftsraumes mit freizügigen Regelungen für Arbeitnehmer, von der die Schweiz ausgeschlossen sein würde. Zusammen mit der absehbaren Verknappung verfügbarer Arbeitskräfte bildete dies ein wichtiges Motiv, warum die Schweiz sich in den 1960er-Jahren auf eine liberalere Position zubewegte. Gewisse Konzessionen an die innenpolitisch bedeutsame Angst vor “Überfremdung” haben laut Gees diesen Befund bislang verdeckt.
Eine interessante Ausgangslage ergab sich für den zweiten Untersuchungsgegenstand, die Landwirtschaft. Nicht zuletzt aus Gründen der nationalen Ernährungssicherung hatte sich in der Schweiz in den Nachkriegsjahren eine relativ kleine, durch hohe Preise gut geschützte Landwirtschaft herausgebildet, während man zugleich fast die Hälfte des Bedarfs zu deutlich günstigeren Preisen auf dem Weltmarkt einkaufte. Gees stellt die Schweizer Entwicklung vor dem Hintergrund des GATT, der OEEC und vor allem der Agrarintegration der EWG dar. Er verdeutlicht, wie die Schweiz in internationalen Verhandlungen versuchte, die Schutzmaßnahmen für ihre Bauern zu verteidigen.
Schließlich wendet sich Gees der Wissenschaftspolitik zu, die in den 1960er-Jahren in ganz Westeuropa eine zuvor unbekannte Aufmerksamkeit erhielt. Sputnik-Schock und das Mitte der 1960er-Jahre aufgekommene Schlagwort vom “technological gap” gegenüber den USA verlieh dem Problemfeld Dringlichkeit. In diesem Bereich nahm die OECD, die Nachfolgeorganisation der OEEC, mit ihren Lösungsansätzen für die Schweiz eine besonders wichtige Stellung ein. Gees verdeutlicht unter anderem, wie stark in dem Land zunächst der Widerstand gegen eine staatliche Technologiepolitik war. Die traditionelle Ordnungspolitik wurde jedoch mit der Zeit unterspült, vor allem durch das COST-Programm der EG, an dem sich auch Nicht-Mitgliedsstaaten beteiligen konnten.
Insgesamt kann Gees zeigen, wie sehr die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konzepte der Schweiz in europäische Problemzusammenhänge eingebunden waren. Die Studie arbeitet heraus, dass die Schweiz in der Frühphase primär jene Modelle adaptierte, die nicht direkt in innenpolitische Gesetzgebungsprozesse eingriffen, sondern der jeweiligen Regierung viel Spielraum überließen. Und vielleicht noch wichtiger: Es waren vor allem jene Konzepte, die es der Schweiz ermöglichten, “am Prozess der Europäisierung mitzuwirken, ohne dies explizit zu thematisieren” (S. 387). Damit verweist Gees auf die zentrale Bedeutung der Ideen von “Sonderfall” und “Neutralität” für das außen-, aber auch das gesellschaftspolitische Selbstverständnis der Schweiz. Dass sich die Fiktion der nationalen Autonomie wahren ließ, war demnach ein zentraler Bestimmungsfaktor politischen Handelns. Wo immer de facto eine Öffnung und Übernahme stattfand, musste diese zumindest semantisch oder symbolisch eingefangen werden: etwa dadurch, dass man öffentlichkeitswirksame, jedoch folgenarme Gegenakzente setzte, oder indem die Anpassung an Impulse von außen als rein technische, “unpolitische” Lösung abgestempelt wurde. Was Gees hier andeutet, ließe sich mit kulturhistorischen Ansätzen weiter ausleuchten und dürfte sich auch für viele andere Fragen als anregend erweisen.
Allgemein wirft das Buch viele interessante Fragen auf, von denen sich manche weiter verfolgen ließen. Gees geht es lediglich um die inhaltliche Seite politischer Konzepte. Das in der politikwissenschaftlichen Forschung zentrale Problem, inwieweit “Europäisierung” auch das Ensemble der politischen Institutionen eines Mitgliedslandes verändert, wird nicht untersucht. Die in der Einleitung vorgeschlagene Öffnung zu sozial- und kulturhistorischen Fragen erfolgt ebenfalls nur ansatzweise. Inwieweit die tägliche Praxis des Austauschs mit Akteuren von ausländischen und internationalen Organisationen den Grundansatz politischen Handelns mit der Zeit ändern kann, hätte sich durch vertiefende biographische Studien zeigen lassen. Aber auch im Dargestellten bleibt angesichts der Themenbreite vieles notwendigerweise oberflächlich. Man muss den Abstraktionsgrad schon sehr hoch ansetzen, um der Aussage zustimmen zu können, dass in “der grundsätzlichen Ausrichtung” zwischen der Agrarpolitik der EWG und der Schweiz “die Differenzen aber minim [sic!]” gewesen seien (S. 384). Um das generelle Argument zu belegen, dass die Schweiz nicht “Sonderfall”, sondern regionale Variante innerhalb eines ähnlich gelagerten Problemzusammenhangs in Westeuropa war, mag dies ausreichen. Systematische Vergleiche und weitere Analysen der konkreten Interaktionsformen hätten aber tiefer stoßen können. Auch die Darstellungsform ist nicht unproblematisch: Die eigentlich interessanten Befunde der Studie gehen in recht lang geratenen Überblicksdarstellungen über die Entwicklungen auf europäischer und Schweizer Ebene unter; manchmal gerät die Fragestellung aus dem Blick. Es wäre sinnvoll gewesen, sich noch exemplarischer auf konkrete Probleme und Momente zu konzentrieren, in denen europäische Referenzräume für den Schweizer Weg besonders wichtig wurden – sei es beispielsweise im Sinne positiver Modelle, abzulehnender Alternativen, als Kooperationspartner auf dem Weg zu Synergien oder als verhandlungspolitischer Erfahrungsraum, der die Grenzen zwischen Innen und Außen grundsätzlich in Frage stellt. Von einer Integrationsgeschichtsschreibung jenseits einer einseitigen Berücksichtigung hoher Staatsaktionen und der sie angeblich treibenden nationalen Interessen sind wir weiterhin entfernt. Gees Studie weist allerdings in die richtige Richtung und zeigt wichtige Wege auf.