B. Olschowsky (Hrsg.): Akteur im Stillen

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Titel
Akteur im Stillen. Enno Meyer und die Aussöhnung mit Polen und Juden


Herausgeber
Olschowsky, Burkhard
Reihe
Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 73
Erschienen
Anzahl Seiten
206 S.
Preis
39,95 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Maier, Georg-Eckert-Institut – Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig

Die Geschichte der deutsch-polnischen Schulbuchkommission gilt als eine Erfolgsstory zur Anbahnung einer Verständigung zwischen zwei ehemals tief verfeindeten Nationen. Sie hat nicht nur in politischen Kreisen etlicher von Kriegen und Konflikten erschütterter Weltgegenden großes Interesse hervorgerufen, sondern auch in der Friedens- und Konfliktforschung. Die Blaupause, die man in dieser Kommissionsarbeit sah und sieht, hatte ihren Ausgangspunkt in der von der polnischen und bundesdeutschen Außenpolitik abgesegneten Gründung der Kommission im Jahr 1972. Das „Rezept“ schien speziell Politikern einfach: Es gilt, staatlicherseits eine bilaterale Schulbuchkommission zu installieren und damit einen Mechanismus in Gang zu setzen, mit dem der Abbau von Hass und Feindseligkeit betrieben werden kann.

Diese Sichtweise verkennt sowohl die eigentlichen Akteure als auch den zeitlichen Vorlauf, die für das Zustandekommen der deutsch-polnischen Schulbuchkommission entscheidend waren. Wenn Wolfgang Jacobmeyer in der Überschrift seines Beitrags zu dem hier zu besprechenden Sammelband postuliert „Ohne Enno Meyer hätte es keine deutsch-polnischen Schulbuchgespräche gegeben“ (S. 45ff.), dann bringt er dies – vielleicht etwas überpointiert – auf den Punkt. Jacobmeyer sieht in Meyers 1956 erschienenen Thesen Über die Darstellung der deutsch-polnischen Beziehungen im Geschichtsunterricht eine Kartierung jenes Arbeitsfeldes, das die Schulbuchkommission später bearbeiten konnte (S. 49). Und er legt mit der Fokussierung auf den Privatmann Enno Meyer zugleich die zivilgesellschaftliche Wurzel dieser Schulbuchrevision frei.

Die Annäherung an Enno Meyer (1913–1996) bietet jedoch weit mehr als eine Sonde in die Vorgeschichte der deutsch-polnischen Verständigung. Zugleich lässt sich an seinem Beispiel studieren, wie es nach dem Nationalsozialismus um die Wiederentstehung einer Zivilgesellschaft in Westdeutschland stand. Das Faszinierende ist, dass mit Meyer keine bekannte Persönlichkeit der Zeitgeschichte in den Mittelpunkt rückt, sondern ein Gymnasiallehrer aus Oldenburg. Da es über Enno Meyer kaum Literatur und keine nennenswerten Archivbestände gibt, hat sich Burkhard Olschowsky bei seinem Versuch, sich dieser Person zu nähern, stark auf die Erinnerungen und Einschätzungen von Kollegen, Freunden und Schülern sowie auf die familiäre Überlieferung stützen müssen. In einem 2015 organisierten biographischen Workshop führte er diesen Personenkreis zusammen. Auf dieser Grundlage entstand ein methodisch unkonventioneller, jedoch höchst spannender Sammelband.

Sicherlich fließen die Beiträge aus wohlwollender Feder, aber alle elf Autoren sind akademisch gebildet, meist als Historiker, und halten weitgehend kritische Distanz. Der weibliche Blick kommt etwas kurz – nur eine Autorin befindet sich in der Männerriege. Es handelt sich um Enno Meyers Tochter Elisabeth Meyer-Renschhausen, die als Soziologin das Ehetagebuch der Eltern von Enno Meyer, biographische Schriftstücke Enno Meyers sowie den Briefwechsel mit seinen Geschwistern in der Zeit des Nationalsozialismus auswertete. Ihr gelingen tiefe Einblicke in Sozialisation und Persönlichkeitsstruktur ihres Vaters. Ihre Brüder Borchard und Martin ergänzen diese mit Schilderungen zum Familienleben und der Gestaltung des beruflichen Alltags. Alle drei erwähnen den nach 1968 aufbrechenden Generationenkonflikt zwischen konservativem Vater und den vom APO-Gedankengut infizierten Kindern. Enno Meyer suchte nicht die Diskussion mit seinen „revolutionären“ Söhnen und Töchtern, sondern missbilligte deren unkonventionelle, als Provokation empfundenen Attitüden (S. 146, 166, 176) und reagierte darauf mit „Flucht hinter den Schreibtisch“ (S. 186). Sein Engagement für die deutsch-polnischen Schulbuchgespräche teilte sich seinen Kindern nicht mit; auch kaum jemand von seinen Schulkollegen wusste davon (S. 110, 145). Die Auswertung der Erinnerungen von ehemaligen Schülern zeigt einen „unnahbaren, etwas steifen und in seinem Unterrichtsstil konventionellen“ Lehrer (S. 123), der sich vom autoritären Gehabe vieler Kollegen aber wohltuend abgehoben habe (S. 132). Diese Daten wurden durch Interviews mit standardisierten Fragen erhoben. Eventuell wären offene Frageformen hier ergiebiger gewesen.

„Enthüllungsjournalisten“ hätten es einfach, die Verwobenheit Enno Meyers mit dem NS-Staat plakativ darzustellen: Schon als Schüler war er erfasst vom Hindenburg-Kult und wurde Mitglied im „Jungstahlhelm“. Er befürwortete Hitlers Aufrüstungspolitik, kämpfte für das Deutschtum im Ausland, war seit 1937 NSDAP-Mitglied, beteiligte sich an der Volkstumsforschung des Deutschen Auslandsinstituts, glaubte an deutsche Überlegenheit und polnische Inferiorität (S. 26), übernahm in seinen schriftlichen Auslassungen rassistische und antisemitische Stereotype (S. 25), führte während des Krieges für den deutschen militärischen Geheimdienst Verhöre von Angehörigen desertierter „Volksdeutscher“ durch, war vielfach im Fronteinsatz, erfuhr hohe Auszeichnungen. Auch nach dem Krieg hielt er Verbindung zu alten Seilschaften, hatte keine Berührungsängste zu Vertretern revanchistischer, deutschnationaler Positionen, die bereits im Dritten Reich als ideologische Einpeitscher agierten (S. 102ff.). Noch im Jahr 1968 machte er sich für eine Beibehaltung der Benennung seines Gymnasiums nach Paul von Hindenburg stark (S. 114f.).

Wie verträgt sich dies mit seiner unermüdlichen Tätigkeit als langjähriger Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit, mit seiner mutigen Kontaktaufnahme mit exilpolnischen Historikern nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich mit Historikern aus der Volksrepublik Polen, die ihm hohe Anerkennung und Wertschätzung seitens polnischer und jüdischer Kollegen und bedeutende staatliche Ehrungen einbrachte?

Burkhard Olschowsky und sein Autorenteam spüren die kleinen Ungereimtheiten und Brüche in der Vita von Enno Meyer auf. Schon als Schüler beschränkte sich seine Neugierde nicht allein auf die Auslandsdeutschen, die in seinen schulischen Aktivitäten einen hohen Stellenwert einnahmen, sondern, sondern umfasste auch die Gesellschaften, in denen diese lebten. Ab 1933 lernte er deshalb die polnische Sprache – zunächst im Selbststudium. Befremdet war er über die Gleichschaltung seiner geliebten Burschenschaft „Rhenania“ durch den NS-Staat. Zuwider waren ihm die Ausschreitungen gegen die Juden in der „Reichskristallnacht“. Aufgewühlt haben ihn die Berichte der Angehörigen desertierter kaschubischer Wehrmachtssoldaten über deutsche Gräueltaten. Die zufällige Lektüre des Buches eines exilpolnischen Autors (Stefan Tadeusz Norwid) über das okkupierte Polen bewegte ihn derart, dass er 1949 Kontakt zum Autor aufnahm (S. 36). Keime des Zweifelns waren mithin früh gelegt, wuchsen und ermöglichten schließlich eine Neupositionierung. Die Orientierung an Begriffen wie Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, Ehre, Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Treue – dies schimmert durch viele Beiträge durch – bewahrte Enno Meyer vor fanatischem politischem Eifer und beförderte eine geistige Autonomie, die ihn zu einem Avantgardisten werden ließ, ohne seine konservative Grundhaltung über Bord zu werfen. Dies für unvereinbar zu halten, sage – so das kluge Fazit von Olschowsky – „womöglich mehr über unsere Denkschablonen als über Enno Meyers unabhängiges Denken und Handeln jenseits von Grenzen und Konventionen“ aus (S. 187).

Am Beispiel Enno Meyers ist zu ersehen, wie sich aus den biographischen Widersprüchen eines Einzelnen heraus eine auf längere Sicht sehr wirkmächtige zivilgesellschaftliche Initiative entwickelt hat. Der Blick auf sein Leben gibt tiefe Einblicke in das Funktionieren von Zivilgesellschaft – zumal in einer historischen Situation, in der sich diese erst wieder am eigenen zerzausten Schopf aus dem selbst eingebrockten Schlammassel herausziehen musste.

Über Leben und Werk Georg Eckerts, eines Mitstreiters von Enno Meyer auf dem Feld der internationalen Schulbuchrevision, erschien unlängst eine umfangreiche Monographie aus der Feder von Heike Mätzing.1 Wäre eine ähnliche Herangehensweise an Enno Meyer aus Sicht der Forschung wünschenswert gewesen? Man muss dies verneinen. Die Materiallage ist dafür zu dünn und die Quellengattungen sind zu disparat. Das Bild Enno Meyers fügt sich mosaikartig aus vielen kleinen, scheinbar unwesentlichen, auch subjektiven Beobachtungen zusammen, die von den versammelten Autoren frisch und direkt wiedergegeben werden. Eine gut ausgewählte Bebilderung reichert den Band an. Es ist sicherlich der klugen Regieführung Burkhard Olschowskys zu verdanken, dass kaum Redundanzen auftreten. Im Einzelfall hätte man die Kontextualisierung etwas reduzieren können, aber mit knapp 187 Leseseiten ist das schön gestaltete und solide redigierte Buch keineswegs erschlagend.

Anmerkung:
1 Heike Christina Mätzing, Georg Eckert. 1912–1974. Von Anpassung, Widerstand und Völkerverständigung, Bonn 2018; siehe auch die Rezension von Michele Barricelli für H-Soz-Kult, 21.2.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27847 (04.06.2021).

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