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Title
Richter der eigenen Sache. Die „Selbstexkulpation“ der Justiz nach 1945, dargestellt am Beispiel der Todesurteile bayerischer Sondergerichte


Author(s)
Materna, Markus
Published
Baden-Baden 2021: Nomos Verlag
Extent
571 S.
Price
€ 119,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Hubert Seliger, München

Markus Materna möchte in seiner Augsburger Dissertation den „Reintegrationsprozess ehemaliger, während der NS-Zeit aktiver Richter und Staatsanwälte in den bundesdeutschen Justizdienst vom Ende des Krieges bis in die 1960er Jahre detailliert nachzeichnen und hierbei Ursachen, Ausprägungen und Wirkungsweisen der Vergangenheitsverklärung offenlegen“ (S. 18f.). Als Leitcharakteristikum dient ihm der Terminus „Selbstexkulpation“, seien doch Juristen und Justizverantwortliche als „Richter der eigenen Sache“ maßgeblich an der Reintegration NS-belasteter Juristen beteiligt gewesen. Dies ist, wie Materna selbst zugibt, alles andere als ein Novum der Forschung. Allerdings will Materna am Beispiel der an Todesurteilen an bayerischen Sondergerichten beteiligten Richtern auch die Personalpolitik der bayerischen Justiz in den fünfziger Jahren und den Umgang mit öffentlichen Anschuldigungen in den fünfziger und sechziger Jahren behandeln (S. 18).

Zu Recht betont Materna, dass der „Standes- und Habituskitt“ eine wichtige Rolle bei der späteren „Selbstexkulpation“ spielte. Im ersten großen Kapitel spürt Materna der generationellen Entwicklung und der Sozialisation der späteren, fast ausschließlich aus dem bürgerlichen Milieu stammenden Juristen an den Sondergerichten nach. Materna zeichnet den heute fast vergessenen militärischen Drill an den Schulen im Kaiserreich, das Aufwachsen an der „Schulfront“ des Ersten Weltkriegs wie die durchaus prekäre soziale Lage der Jurastudenten und Referendare in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren nach. Als prägnantes Beispiel dient ihm Oswald Rothaug, später Vorsitzender des Sondergerichts Nürnberg und Angeklagter im Nürnberger Juristenprozess. Trotz dieser „Proletarisierungsängste“ verstanden sich die späteren Richter als Teil einer Elite. Nicht nur waren immerhin fünf der später an Todesurteilen beteiligten Juristen Mitglieder der Stiftung Maximilianeum (S. 65). Insbesondere das als besonders schwer erachtete bayerische juristische Staatsexamen führte zur Herausbildung eines „Eliteempfindens“. Das zweite Kapitel beginnt zunächst mit einer konzisen Übersicht über die bayerischen Sondergerichte und ihre Kammern. Hervorzuheben ist besonders eine vergleichende Tabelle verschiedener deutscher Sondergerichte und der dort prozentual gefällten Todesurteile, die die von bayerischen Justizangehörigen kolportierte angebliche „milde“ Praxis der bayerischen Sondergerichte (mit Ausnahme Nürnbergs) im Vergleich zum Norden als Mythos aus der Zeit nach 1945 enttarnt (S. 114f.). Die weiteren Unterkapitel befassen sich mit verschiedenen Einzelfragen, die in den späteren Exkulpationsbemühungen eine wichtige Rolle spielen, nämlich die angebliche Nichtbeförderung bei unangepasstem Verhalten, die Aufrechterhaltung einer „unabkömmlich“-Stellung durch eine Arbeit am Sondergericht, die Berufungs- und Abberufungsgründe an ein Sondergericht sowie die versuchte Lenkung der Richterschaft. Materna gelingt hierbei ein abwägendes Urteil. So kann er belegen, dass der größte Widerstand gegen die sogenannten „Lenkungsbesprechungen“ der Oberlandesgerichtspräsidenten von Oswald Rothaug kam („Wenn einer lenkt, dann ich“, S. 167), der darin einen Eingriff in seine richterliche Unabhängigkeit sah. Die beiden ersten, durchaus gelungenen Kapitel leben nicht zuletzt von Maternas bemerkenswerter Detailkenntnis und seinem tiefen Verständnis für die analysierten Personal- und Verwaltungsakten.

Die Kapitel drei, vier und fünf behandeln vor allem die Einstellungspraxis der bayerischen Justiz und die Entnazifizierung bis in die frühen fünfziger Jahre. Diese Kapitel fallen im Vergleich zu den vorherigen Kapiteln ab. Ist die Tiefe der Darstellung zuvor noch eine Stärke der Arbeit gewesen, hätte diesen drei Kapiteln eine stärkere Fokussierung gutgetan. Als Quintessenz lässt sich festhalten, dass eine zentrale Rolle bei der Rückkehr der Sondergerichtsjuristen unbelastete, aber im Justizapparat des Dritten Reiches als Richter oder Rechtsanwälte fest verankerte Einzelpersonen spielten. Sie rückten nach dem Krieg in Spitzenpositionen bei der bayerischen Justiz auf, wie z.B. Oberlandesgerichtspräsident Friedrich Welsch in München, der spätere Präsident des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff oder der spätere Justizminister Thomas Dehler in Bamberg. Obwohl sie über die Rolle ihrer Kollegen am Sondergericht durchaus im Bilde (Welsch/Dehler) waren oder über keinerlei eigenen Kenntnisse verfügen konnten (Weinkauff), attestierten sie als Mitglieder der sogenannten „Vorprüfungsausschusse“, in „Persilscheinen“ vor der Spruchkammer oder in Gutachten zur Wiedereinstellung ein korrektes Verhalten im Dritten Reich. Gerade Weinkauff attestiert Materna „oftmals fast theatralische“ Stellungnahmen (S. 287). Bei der Behandlung der Entnazifizierung stellt Materna am Beispiel der Sondergerichtsrichter die „juristischen Exkulpationsparadigma“ vor der meist mit juristischen Laien besetzten Spruchkammer hervor. Bemerkenswert ist Maternas Erkenntnis, dass trotz zweifacher Durchsicht der überwiegend erhalten gebliebenen Sondergerichtsakten zum Zwecke der Bestandsaufnahme der in bayerischen Gefängnissen befindlichen Gefangenen keine Eruierung der Belastung des Justizpersonals für die Spruchkammern erfolgte. Nicht unerwähnt lässt Materna auch das kurzlebige Kuriosum der von Juristen für Juristen geschaffenen „Juristenspruchkammern“, die aber wegen des Vorwurfs der Parteilichkeit schnell ein Ende fanden. Das Interesse an einer Aufklärung der Sondergerichtstätigkeit war insgesamt gering. Wie Materna an einem „Gesamtbeispiel“ des Sonderrichters Heinrich Stadter aufzeigt, konnte sich ein öffentlicher Kläger, der Todesurteile genauer untersuchen wollte, sogar den Zorn des eigenen Spruchkammervorsitzenden zuziehen (S. 381–400). Wie Materna herausstellt, ist das in der Literatur bis heute zu findende Argument, dass die Personalnot der Nachkriegszeit eine Wiedereinstellung belasteter Juristen unumgänglich gemacht habe, durch das bayerische Beispiel widerlegt. Vielmehr habe wegen der Integration von Flüchtlingen und einem strikten Sparkurs wegen der Währungsreform sogar ein Überangebot an Bewerbern bestanden (S. 363f.) Wie Materna zeigen kann, wurde dies aber nicht zu einer Aussonderung belasteter Juristen genutzt, sondern lediglich die Bewerbungen von NSDAP-Angehörigen zeitlich nach hinten geschoben, wie Materna eindrücklich am Beispiel des schwer belasteten Augsburger Landgerichtsdirektors Friedrich Seifert belegt. Glaubt man Maternas Berechnungen, wurden von den 154 Richtern, die für eine Wiedereinstellung (aktiver Dienst bzw. Wiedereinstellung unter gleichzeitiger Ruhestandsversetzung) potenziell in Frage kamen, nur 13 (bzw. 8,1 Prozent), nicht mehr eingestellt, das heißt über 90 Prozent gelang eine erfolgreiche Wiedereinstellung (S. 381).

Kapitel sechs setzt sich mit dem Umgang der bayerischen Justiz mit den wiedereingestellten Sonderrichtern auseinander. Nicht zuletzt dank früherer Kollegen wie Welsch, einer Stellenhebung im bayerischen Justizdienst in den fünfziger Jahren und der allgemeinen Vorstellung, dass eine Wiedereinstellung auf einer geringer besoldeten Stelle nur eine „vorübergehende Bewährungszeit“ darstelle, gelang vielen belasteten Juristen bald die Beförderung in die alte Besoldungsstufe. Erst die Angriffe im Rahmen der „Blutrichterkampagne“ der DDR veranlasste das bayerische Justizministerium zu einer Gesamtüberprüfung der Urteile der bayerischen Sondergerichte („Aktion Kümpel“). Materna unterzieht die „Aktion Kümpel“ einer gründlichen Analyse und attestiert dem Abschlussbericht eine deutliche exkulpatorische Zielsetzung. Von 663 überprüften Urteilen wollte der Bericht nur bei 27 (4,1 Prozent) eine übermäßig harte Bestrafung erkennen (S. 431). Dem bayerischen Justizministerium diente der Bericht vor allem dazu, den eigenen Aufklärungswillen zu verdeutlichen. Einige der entstellenden Zahlen fanden, wie Materna nachweisen kann, über Medienberichte Eingang in die jüngere Forschung (S. 438f.). Nur wenige Juristen der bayerischen Sondergerichten traten aufgrund § 116 Deutsches Richtergesetz in den Ruhestand. Trotz des Fehlschlags der „Aktion Kümpel“ macht Materna in den sechziger Jahren im bayerischen Justizministerium veränderte Beurteilungskriterien und einen größeren Kenntnisstand über die Sondergerichtsurteile aus. Seit Beginn der sechziger Jahre musste bei Beförderungsgesuchen eine Erklärung über die Mitwirkung an Todesurteilen abgegeben werden. Zudem setzte eine „Nicht-Beförderungspolitik“ gegenüber belasteten Juristen ein. Mehreren ehemaligen Staatsanwälten und Richtern am bayerischen Sondergerichten gelang es nicht mehr, in die erhoffte weitere Beförderungsstelle einzurücken. Abgerundet wird Maternas Buch durch eine ausführliche Zusammenfassung seiner Erkenntnisse.

Angesichts der großen Detailtiefe der Arbeit bleiben kleine Flüchtigkeitsfehler nicht aus. Der größte Kritikpunkt an Maternas Arbeit ist jedoch, dass die Todesurteile der Sondergerichte selbst nur an einigen Extrembeispielen dargestellt werden, die mit Ausnahme der § 116 Deutsches Richtergesetz zugrundeliegenden Urteile nur in den Fußnoten abgehandelt werden. Zwar wird Materna zuzustimmen sein, dass eine Detailprüfung und dezidierte Einzelfallprüfung aller Todesurteile den Rahmen seiner Arbeit sprengen würde. Und auch die Frage, ob jedes Sondergerichtsurteil in Bayern als „verbrecherisch“ einzuschätzen ist, erfordert eine komplexe Antwort, die über Maternas Fragestellung weit hinausgeht. Dass aber Materna pauschal eine Auseinandersetzung mit den Todesurteilen unter Hinweis auf die „zuhauf“ erschienene Literatur vermeidet, ist nicht nachvollziehbar (S. 22f.). Dass eine Auseinandersetzung mit den gefällten Urteilen sehr wohl notwendig ist, kann an einem Beispiel verdeutlicht werden. Es reicht nicht aus, bei dem Augsburger Landgerichtsrat Ludwig Baumeister darauf hinzuweisen, dass diesem trotz der Beteiligung an einem Todesurteil mangels formeller NS-Mitgliedschaft 1946 nahezu mühelos die Rückkehr in die Justiz gelang und hinsichtlich des Urteils lediglich in einer Fußnote auf den Verfahrensakt zu verweisen. Für die Beurteilung von Baumeisters Wiederverwendung durch seine Vorgesetzten dürfte es durchaus von Belang gewesen sein, dass bei diesem unter Vorsitz des Memminger Landgerichtspräsidenten Hermann Stepp gefällten Todesurteil gegen einen wegen Untreue, Betrugs und Heiratsschwindel angeklagten, fünfzehnmal einschlägig vorbestraften deutschen Angeklagten dieser einen Schaden von über 10.000 Reichsmark verursachte und mit erheblicher krimineller Energie vorgegangen war. Eine Detailanalyse beispielsweise der 18 unter dem Memminger Landgerichtspräsidenten Hermann Stepp im „tödlichen Alltag“ (Dietrich Wilde alias Dietrich Güstrow) der Sondergerichte gefällten Todesurteile hätte wohl kaum den Umfang der Arbeit gesprengt, sondern vielmehr dazu beigetragen, dass die Arbeit nicht, wie im Fall Baumeister, „in der Luft“ hängt. Weitere Leerstellen der Arbeit sind, dass eine Einbettung in die gesellschaftliche Diskussion um die Todesstrafe durch Materna nicht erfolgt. Es ist möglicherweise kein Zufall, dass gerade zum Zeitpunkt der Wiedereinstellung ehemaliger Sonderrichter der bayerische Landtag 1951 bzw. 1953 über die Wiedereinführung der Todesstrafe debattierte. Auch wird die Strafverfolgung ehemaliger bayerischer Sonderrichter durch den Nürnberger Juristenprozess bzw. das Landgericht Nürnberg-Fürth (Az. 7/28 Ks 1/68 a-b bzw. 1 StR 119/69) und der Blick der bayerischen Justizbehörden auf diese Prozesse von Materna nicht weiter thematisiert.

Unter dem Strich bleibt zu sagen, dass Materna einen soliden Beitrag zur (nicht nur bayerischen) juristischen Zeitgeschichte geliefert hat, der einige neue Perspektiven und Details ans Licht fördert. Das Kernthema, die Reintegration der an den Todesurteilen bayerischer Sondergerichten beteiligten Richter und Staatsanwälte, wird ausführlich bearbeitet.

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