Lange gab es in der politischen Öffentlichkeit den Eindruck, als bildeten – in dieser Reihenfolge – die USA, Frankreich und Großbritannien die Standards für eine Beschreibung der langsamen Demokratisierung moderner Staaten. In seiner jüngsten verfassungshistorischen Monographie erweitert Alexander Thiele, Professor für Öffentliches Recht an der Berliner „Hochschule für Management & Recht“, diese Reihe. Wie im Vorwort berichtet wird, hat er sich mit Birte Förster und Hedwig Richter beraten und das dürfte unter anderem dazu beigetragen haben, dass Deutschland nicht mehr als demokratiegeschichtlicher Ausnahmefall behandelt wird. Die weiter bestehende Bedeutung der USA am Anfang der weltweiten Verfassungsgeschichte begründet Thiele damit, dass die USA die erste repräsentative Demokratie waren, den ersten modernen Bundesstaat bildeten, ihre Verfassung einen Grundrechtskatalog enthielt und durch die judicial review des Supreme Court der Vorrang der Verfassung vor den einfachen Gesetzen etabliert wurde (S. 54 und Kapitel 3). Die Bedeutung Großbritanniens erklärt er damit, dass es hier besonders früh zu einer „Entpersonalisierung der Souveränität“ gekommen sei, indem von den Tudors an die Souveränität nur beim König und dem Parlament gemeinsam lag (S. 121 und Kapitel 5).
Die anderen europäischen Länder sind vor allem durch Italien vertreten, dessen Einigungsprozess skizziert wird. Man hätte sich vielleicht gewünscht, dass die von den Cortes von Cádiz ausgehende Verfassung Spaniens von 1812 auch Erwähnung gefunden hätte, da sie Vorbild für die liberale Bewegung in Italien geworden ist, oder der keineswegs konfliktarme Übergang der skandinavischen Königreiche vom Absolutismus zum liberalen Verfassungsstaat vorgekommen wäre. Die Einschränkung auf die drei früheren westlichen Besatzungsmächte Deutschlands vermag auch die Erwähnung der polnischen Verfassung vom Mai 1791 auf S. 104 oder der knappe Überblick zu außereuropäischen Entwicklungen in Kapitel 10 nicht auszugleichen. Eine Besonderheit stellt hingegen die vergleichsweise ausführliche Beschreibung des aus einem Sklavenaufstand hervorgegangenen verfassungsautonomen Staates Haiti dar.
Im 6. Kapitel über die „allgemeine Struktur der Reformen“ des beginnenden 19. Jahrhunderts werden wir daran erinnert, dass in Deutschland damals „zahlreiche staats- und verwaltungs-organisationsrechtliche Grundsätze“ in die Wirklichkeit umgesetzt wurden, die heute „in der juristischen Ausbildung gelehrt werden“ (S. 146). Die preußischen und rheinbündischen Reformen der napoleonischen Zeit stellten ein „dualistisches Staat-Bürger-Verhältnis her“, sodass sich „der diffuse Nebel der intermediären Gewalten“ verzog (S. 154). Von hier aus wird der Leser schnell zu den Eisenbahnen, dem Bismarck‘schen „Interventionsstaat“ und der „Massenpolitisierung“ geführt. Dann aber stolpern wir zurück in eine Zusammenfassung der preußischen Reformen Steins, Hardenbergs, Humboldts und Scharnhorsts, die detailliert sein soll, manches dennoch unerklärt lässt und entbehrlich ist, da die Tendenz und der Zweck dieser Reformen bereits beschrieben worden waren.
Die Besonderheiten des deutschen Konstitutionalismus werden in Kapitel 7 vorgetragen, wobei die Geschichte der „Demagogen“ und ihrer Verfolgung mit anekdotischer Ausführlichkeit behandelt ist. Dass ein Nicht-Historiker wie Sebastian Haffner von hier an Gewährsmann ist, berührt seltsam. Der Begriff „Wiener Schlussakte“ fällt im Umkreis der Jahre 1819–1820 zunächst nicht, sondern erst im Zusammenhang mit dem gründlich behandelten Verfassungskonflikt in Hannover 1837, dann wieder in der anschließenden Charakteristik des „deutschen Konstitutionalismus“. Bis zum Ende erfährt man nicht, wer wann die Wiener Schlussakte beschlossen hat. Der Begriff fehlt auch – anders als der „Wiener Kongress“ – im Register des Buches.
Die Charakteristika des „deutschen Konstitutionalismus“, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auf einen monarchisch-parlamentarischen Dualismus hin entwickelte, werden in Kapitel 7 aufgezählt und hiermit wird ein Desiderat in der akademischen Lehre erfüllt. Es ist zu hoffen, dass Thiele einen Beitrag leisten kann, das Unverständnis verfassungsgeschichtlicher Zusammenhänge unter den Studierenden der Geschichte abzubauen – bei Jurastudenten kennt sich der Rezensent nicht aus.
Die Paulskirchenverfassung fügt sich insofern in den Bogen des deutschen Konstitutionalismus ein, als auch sie der Frage nach der Volkssouveränität ausgewichen ist, wie Thiele hervorhebt. Von einer gescheiterten Revolution 1848/49 zu sprechen, sei unzutreffend, da die gesellschaftlichen Veränderungen von Dauer gewesen seien: „Man wird daher ab diesem Zeitpunkt von einer emanzipierten, bürgerlichen Gesellschaft sprechen können.“ (S. 223) Bei der Geschichte der deutschen Einigung erfahren wir, dass König Friedrich VII. von Dänemark 1863 „Schleswig enger an Dänemark zu binden“ versuchte, „obwohl den beiden Herzogtümern im Londoner Protokoll des Jahres 1852 ein besonderer Status eingeräumt worden war“ (S. 248). Das Wissen von Holstein als dem anderen der „beiden Herzogtümer“ muss der Leser schon mitbringen. Dass die Auseinandersetzung der beiden deutschen Großmächte über die Verwaltung der „Elbherzogtümer“ im Jahr 1866 die Form eines Krieges zwischen dem Deutschen Bund und Preußen angenommen hat, wäre auch von verfassungs- oder staatsrechtlichem Interesse gewesen. Es hätte in diesem Buch wohl thematisch eher seinen Platz gehabt als eine Erörterung der Emser Depesche (S. 254). Das aus den Beitrittsverträgen und einer Modifikation der Verfassung des Norddeutschen Bundes (durch den an dieser Stelle nicht genannten Reichstag des Norddeutschen Bundes) hervorgegangene Deutsche Reich nennt Thiele den „umfassende[n] Rechtsnachfolger“ des Norddeutschen Bundes, womit er der zeitgenössisch von Paul Laband vertretenen Identitätstheorie widerspricht. Bismarcks Reichsverfassung und Bismarcks Praxis hätten das Parlament zur „Primadonna“ gemacht (ein Ausdruck von Hedwig Richter). Entgegen Bismarcks Drohungen war das Reich eindeutig kein Fürstenbund, sondern ein Bundesstaat, denn die Verfassungsautonomie lag beim Reich (S. 259) – ein wesentlicher Unterschied zur heutigen Europäischen Union, die diese Souveränität nicht besitzt.
Auch Alexander Thiele möchte die Weimarer Reichsverfassung von der Schuld für ihr Scheitern entlasten. „Am Ende sind es die Menschen, die eine Verfassung mit Leben füllen und sie am Leben halten.“ (S. 313) Die Fruchtbarkeit der Staatsrechtslehre in den 1920er-Jahren deutet Thiele als Reaktion eines verunsicherten Faches auf den Verlust der monarchischen Selbstverständlichkeiten. Nachdem Thiele gerade betont hat, dass der Reichspräsident die Kompetenz zur Reichstagsauflösung besaß, schreibt er auf S. 334, dass Hitler sofort nach seiner Ernennung den Reichstag aufgelöst habe. Es war doch Hindenburg, der mit diesem Akt einer Forderung entsprach, die Hitler an Hindenburg gestellt hatte. Den weiteren Verlauf der NS-Herrschaft beschreibt Thiele als zunehmende Unordnung, bis schließlich „die Staatsrechtslehre nichts weniger als ihren Gegenstand verloren“ hatte, „den (konstituierten) Staat“ (S. 341).
In seiner Geschichte des Bonner Grundgesetzes und dessen mehr als siebzigjähriger Entwicklung verteidigt Thiele den Föderalismus wegen seiner freiheitssichernden Wirkung. Er tadelt die Respektlosigkeit, die sich in den zahlreichen Änderungen und darin äußert, dass heute „lange Artikel […] mit komplexen Bandwurmsätzen technische Details auf der Ebene der Verfassung“ regeln würden (S. 374). Auch für Thiele ist klar, dass politische Ordnungen immer vergänglich sind und Gleichgültigkeit der Demokratie nicht guttut.
Ob einige Ungenauigkeiten und Auslassungen auf einer hastigen Kürzung des Buches beruhen, weiß man nicht. Wilhelm I. wurde nie zum Deutschen Kaiser gekrönt, also auch nicht im Spiegelsaal von Versailles (S. 59). Auf S. 255 steht es richtig. Die erste französische Verfassung wird auf S. 109 ins Jahr 1789 gelegt, eine Seite später liest man richtig, dass sie erst im September 1791 beschlossen wurde. Natürlich ist es der Herzog von Braunschweig, der 1831 abgesetzt wurde, und nicht der König (S. 176). Es kann geschehen, dass ein Autor namentlich erwähnt, jedoch weder in den Fußnoten zitiert noch ins Literaturverzeichnis aufgenommen wird. Dass auf S. 215 die Verkündung der Paulskirchenverfassung ins Jahr 1848 statt 1849 gelegt wird, kann man einerseits als Tippfehler betrachten, andererseits kommt es der Neigung vieler Geschichtsinteressierter entgegen, das Jahr 1849 nicht in den Blick zu nehmen. Da Thiele betont, dass es im Kaiserreich kein Kabinett gab und er das Stellvertretergesetz von 1878 ausdrücklich vorstellt, ist es störend, dass er den Staatssekretär Paul von Hintze als „Außenminister“ bezeichnet – was von Hintze eben nicht war (S. 297). Manchmal wird nicht genug Rücksicht auf den Bedarf an Übersichtlichkeit und Brauchbarkeit gerade für solche Leserinnen und Leser genommen, denen die Chronologie des 19. Jahrhunderts noch nicht eingefleischt ist.
Diese Verfassungsgeschichte macht Historiker mit juristischem Denken vertraut und ist flüssig lesbar. Ihre Ungenauigkeiten müssten aber unbedingt korrigiert werden.