Cover
Titel
Lviv and Wrocław, Cities in Parallel?. Myth, Memory, and Migration, c. 1890–Present


Herausgeber
Fellerer, Jan; Pyrah, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
VI, 358 S.
Preis
€ 85,00; $ 95.00; £ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Heidi Hein-Kircher, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg

Die Stadtgeschichten von L’viv (unter polnischer Herrschaft Lwów bzw. Lemberg unter habsburgischer Herrschaft), der im Westen der heutigen Ukraine liegenden “Stadt der verwischten Grenzen“ (Joseph Roth), und des niederschlesischen Wrocław (des vormaligen Breslau) werden aufgrund ihrer Entwicklung nach 1945 gerne parallelisiert.

L’viv gehörte zu den von einer besonders starken ethnischen und kulturellen Durchmischung geprägten Städten Ostmitteleuropas und gelangte im 19. Jahrhundert als Zentrum des habsburgischen Kronlandes Galizien und Lodomerien zu Bedeutung, bevor es in der Zwischenkriegszeit zu einer Wojewodschaftshauptstadt im Südosten der Republik Polen und nach 1945 zu einer im Westen der Ukrainischen Sowjetrepublik gelegenen Großstadt wurde. Wrocław wiederum erlebte unter preußischer Herrschaft einen Aufschwung und entwickelte sich zur drittgrößten Stadt des Deutschen Reiches mit vergleichsweise geringen jüdischen und polnischen Bevölkerungsanteilen. Die NS-Vernichtungspolitik gegenüber den Juden, die hohen kriegsbedingten Bevölkerungsverluste, die Vertreibung der Deutschen und schließlich die von Polen und der Sowjetunion durchgeführten Umsiedlungsmaßnahmen führten in beiden Städten zu grundlegenden Veränderungen der Bevölkerungsstruktur. In Wrocław (und Umgebung) wurden zahlreiche polnische „Umsiedler“ aus L’viv angesiedelt, die Stadt wurde polonisiert und zum Leuchtturm der sogenannten „Wiedergewinnung“ polnischen Territoriums im Zuge der Westverschiebung Polens stilisiert. Die Konstruktion einer historisch-kulturellen Kontinuität fand ihren Ansatzpunkt darin, dass Teile der Ossoliński-Bibliothek, das Denkmal für den wichtigen polnischen Dramatiker Aleksander Fredro und das 1894 entstandene Panorama der mythisch verklärten Schlacht von Racławice (1794) von L’viv nach Wrocław verlagert wurden. Dagegen sei das Gedächtnis (an das deutsche Kulturerbe) dem polnischen Schriftsteller Andrzej Zawada zufolge „amputiert“ worden.1 Erlebte L’viv durch die sowjetische Industrialisierung und Urbanisierung einen Strukturwandel und beträchtliches Wachstum, so wurde das im Zweiten Weltkrieg stärker zerstörte Wrocław unter (volks-)polnischer Ägide wiederaufgebaut.

Der vorliegende Band „L’viv and Wrocław“ hinterfragt die übliche Parallelisierung beider Stadtgeschichten anhand dreizehn spannender mikrohistorisch argumentierender Beiträge. Ausgehend von dem Umstand, dass in beiden Städten aufgrund der tiefgreifenden demografischen Umwälzungen und Migrationserfahrungen erheblicher Bedarf an neuen lokalen Identitätsangeboten bestand, spüren die Beiträge dem Wandel von Erinnerungskulturen beider Städte aus einer bottom-up-Perspektive nach. Um die Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu historisieren, setzen sie im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts an, weil bereits damals im Zuge der Urbanisierung und, im Falle L’vivs, durch die Zuwanderung auch von Juden, die vor Pogromen im Russländischen Reich flohen, neue städtische Bevölkerungsgruppen integriert werden mussten. Diese Entwicklung habe schließlich, so die für den Band impulsgebende Prämisse, zu einer spezifischen Geschichtskultur und besonderen Formen kulturellen Lebens in beiden Städten geführt. Es sei darum gegangen, das „ererbte“ Andere produktiv für das Anliegen urbaner Integration und lokaler Identitätsbildung nutzbar zu machen.

Der Sammelband führt daher aktuelle Forschungen zur Geschichte beider Städte zusammen, die bereits seit den 1990er-Jahren durch die weitestgehende Zugänglichkeit der Archive einen Aufschwung erlebt haben. Für diesen „Boom“ in der Forschung bildete gerade die multiethnische Prägung der ostmitteleuropäischen Städte einen wichtigen Bezugspunkt, so auch im Falle L'vivs und (in geringerem Maße) Wrocławs. In konzeptueller Hinsicht knüpft der Band an einen gegenwärtigen, produktiven Trend in der historischen Forschung an, der die Mikrogeschichte ins Verhältnis zur Meso- und Makrogeschichte setzt. Auf diese Weise können Befunde der historischen „Vogelperspektive“ verifiziert, korrigiert oder ergänzt werden, da auf der Mikroebene gesellschaftliche, kulturelle, politische und nicht zuletzt soziale und ökonomische Entwicklungen entweder besonders spürbar waren (und sind) oder aber durch einen im Zusammenleben vor Ort entwickelten Pragmatismus so modifiziert wurden, dass sich dadurch hergebrachte Master-Narrative infrage stellen lassen. Durch diese Perspektivierung werden die lokalen Bevölkerungen als eigenständige Akteure sichtbar gemacht, die jeweils spezifische Subkulturen, kulturelle Praktiken, künstlerische Repräsentationen oder auch Mythen hervorgebracht haben. Diesem methodischen Ansatz fühlen sich alle Beiträge des Bandes verpflichtet, der durch den Impuls eines britischen Verbundprojektes zu Subkulturen als integrativen Kräften in Ostmitteleuropa seit 1900 entstand.

Zunächst bringen die Herausgeber in ihrer Einleitung die verbreitete Konstruktion von Parallelen zwischen L’viv und Wrocław zum Einsturz, indem sie betonen, dass es lediglich Gemeinsamkeiten struktureller Art gegeben habe, aus denen sich produktive Fragen an die Stadtentwicklung entwickeln ließen. Dieser Befund stellt für stadthistorisch arbeitende Ostmitteleuropahistoriker:innen freilich keine größere Überraschung dar. Anschließend gibt Robert Pyrah einen Überblick über den Forschungsstand zur Geschichte beider Städte und legt notwendigerweise einen Schwerpunkt auf die jeweiligen nationalen Forschungstraditionen, ohne etwa neuere deutschsprachige Forschungen zu berücksichtigen. Die drei folgenden Beiträge von Keely Stauter-Halsted, Łukasz Tomasz Sroka und Oksanna Vynnyk widmen sich der Geschichte L’vivs bis zum Ende der Zwischenkriegszeit und versuchen, die nationale Versäulung der Forschung auf die jeweilige nationale Gruppe aufzubrechen. Sie zeigen am Beispiel der Amerika-Emigration, der Identitätsbildung jüdischer Bevölkerung und der Veteranen-Versorgung, dass es durchaus Arenen des Austauschs und gemeinsamen Handelns gab. Die multiethnische Prägung L’vivs und deren Weiterwirken als „shared heritage“ in Wrocław (Einleitung der Herausgeber, S. 6) werden in den folgenden beiden Beiträgen thematisiert, die einerseits die Erinnerungskulturen der aus Niederschlesien Vertriebenen (Anna Holzer-Kowałko) und andererseits die Erinnerung an die legendäre Lemberger Populärkultur (Mayhill C. Fowler) fokussieren.

Die anschließenden fünf Beiträge diskutieren exemplarisch die Folgen der Sowjetisierung L’vivs und der Polonisierung Wrocławs sowie die damit verbundenen Herausforderungen für die verschiedenen Modi der Aneignung und deren Ambivalenzen. Hierbei wird auch die Perspektive der russischen Bevölkerung auf die Sowjetisierung L’vivs einbezogen, die Sofia Dyak auf Grundlage von Reiseberichten zweier russischer Schriftsteller sowie von architekturhistorischen Beschreibungen der Stadt aus der Zeit der ersten sowjetischen Besatzung 1939–1941 diskutiert. Bereits zu diesem Zeitpunkt sei die nichtsowjetische Vorkriegsarchitektur sowjetisch gedeutet worden, um L’viv als zukünftige sowjetische Stadt auszumalen – das historische L’viv sei also als Wegbereiter des kommunistischen dargestellt worden. Dass die Integration Wrocławs in die polnische Volksrepublik durchaus auch ambivalent beurteilt wurde, zeigt die Studie Mikołaj Kunickis über die Darstellung der Stadt in polnischen Filmen aus der Zeit zwischen der Entstalinisierung und den 1970er-Jahren. Den Umgang mit dem historischen Erbe nach 1991 greifen die Beiträge von Katarzyna Kotyńska über die Reinterpretation L’vivs als habsburgische Stadt und von Ewa Sidorenko über die Effekte des Kulturhauptstadtjahres 2016 in Wrocław auf. Der abschließende zusammenfassende Kommentar eines der renommiertesten Kunst- und Architekturhistoriker Polens, Jacek Purchla, verdeutlicht nochmals in eindrücklicher Weise, wie sehr das Schicksal beider Städte bzw. ihrer Bewohner:innen als Laboratorien für die jeweilige lokale Erinnerungskultur und Identität gedeutet werden kann, gerade weil ihre Diversität verschiedene Erfahrungen amalgamiert habe.

Insgesamt zeigt der Band, wie facettenreich nicht nur urbane Subkulturen, sondern auch lokale Erinnerungskulturen sein können. Wie stark diese in Relation zu dem jeweiligen nationalen Master-Narrativ stehen und inwiefern sie zu deren Dekonstruktion beitragen können, belegen die Aufsätze letzten Endes aber immer nur implizit. Im Ergebnis bringt „Lviv and Wrocław“ wichtige aktuelle Forschungsbefunde, konzeptionelle Überlegungen und methodische Ansätze einer Stadtgeschichtsschreibung von unten zusammen. Die durchweg sehr fundierten Beiträge zeigen, dass sich in L’viv und Wrocław trotz struktureller Ähnlichkeiten („Parallelen“) sehr spezifische Formen von lokalen Erinnerungs- und Subkulturen und so diverse Praxen des Umgangs mit dem multiethnischen Kulturerbe entwickelt haben, sodass man kaum von „cities in parallel“ sprechen kann. Hiermit leisten sie nicht nur einen wichtigen Beitrag zur jeweiligen Stadtgeschichte, sondern animieren hoffentlich zu weiteren, auch andere Städte einbeziehenden vergleichenden Studien zur Entwicklung und Ausprägung lokaler Subkulturen und Erinnerungskulturen.

Anmerkung:
1 Andrzej Zawada, Bresław. Eseje o miejscach, Wrocław 1996, S. 52.

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