Z. Kergomard: Wahlen ohne Kampf? Schweizer Parteien auf Stimmenfang, 1947–1983

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Titel
Wahlen ohne Kampf?. Schweizer Parteien auf Stimmenfang, 1947–1983


Autor(en)
Kergomard, Zoé
Erschienen
Basel 2020: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
CHF 59.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Linards Udris, Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, Universität Zürich

Zoé Kergomards Buch geht von der Frage aus, ob die schweizerischen Wahlkämpfe der Nachkriegszeit tatsächlich jene „Nichtereignisse“ waren, als die sie bis anhin galten. In historischer Perspektive untersucht die Autorin ein Feld, das erstens von normativen Debatten geprägt ist und in dem zweitens Fragen sowohl zum Wandel von Wahlkämpfen als auch zu Unterschieden zwischen Ländern und politischen Systemen dominieren. In vielen europäischen Ländern gehört(e) die Klage über immer stärker zunehmende „amerikanische“ Verhältnisse nämlich zu zentralen Elementen der Wahlberichterstattung. Damit verbunden wird eine Kritik an der politischen Kommunikation, in der nicht (mehr) der faire Wettstreit von sachbezogenen Argumenten zwischen Parteien und Kandidierenden im Vordergrund stehe, sondern das von Parteien betriebene Wahlkampf-Spektakel. Eine solche Problematisierung der „Amerikanisierung“ ist zwar auch eine Selbstzuschreibung und sagt viel aus über das gewünschte Selbstbild, aber sie fußt durchaus auf beobachtbaren strukturellen Unterschieden im Verhältnis von Medien und Politik. Auch das in den Sozialwissenschaften einflussreiche Buch „Comparing Media Systems“ von Dan Hallin und Paolo Mancini kommt auf der Grundlage verschiedener Indikatoren zu einer Typologie, bei denen die Vereinigten Staaten seit mindestens den 1950er-Jahren idealtypisch für das „liberale“ Modell stehen, während skandinavische Länder, Deutschland oder die Schweiz das „demokratisch-korporatistische“ Modell verkörpern.1 Letzteres zeichnet sich durch eine stärkere Konsensorientierung und Ausrichtung nach dem Proporzprinzip aus und durch ein Mediensystem, das nach eigenen Logiken funktioniert, die aber nicht in erster Linie von kommerziellen Zwängen geprägt sind. In solchen Ländern sind von Parteien und Kandidierenden weniger Inszenierungen und ganz generell weniger Wahlkampf zu erwarten – Wahlen können sogar „langweilig“ sein. Dies trifft insbesondere auf die Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg zu – ersichtlich beispielsweise in der 1959 eingeführten informellen „Zauberformel“, nach der sich die vier größten Parteien in die siebenköpfige Landesregierung einbrachten, und ersichtlich in den für internationale Verhältnisse sehr geringen Verschiebungen der Wähleranteile über Jahrzehnte hinweg. Tatsächlich war auch das Medieninteresse für die Parlamentswahlen und die Bundesratswahlen in der Schweiz lange Zeit relativ verhalten.2

Dass Wahlen in der Nachkriegszeit der Schweiz trotz allem keine „Nichtereignisse“ waren, versucht Zoé Kergomard in ihrer Monographie zu zeigen. Das rhetorische Fragezeichen im Titel „Wahlen ohne Kampf?“ signalisiert dies bereits und in einer der Antworten heißt es beispielsweise: „Entgegen der Konsensnarrative waren eidgenössische Wahlkämpfe der Nachkriegszeit komplexe Wettbewerbsfelder.“ (S. 369) Konkret beleuchtet die Autorin in ihrem Buch vier Wahlkämpfe der vier größten Schweizer Parteien SVP (vormals BGB), SP, FDP und CVP (vormals KVP, heutzutage „Die Mitte“) zwischen den 1940er- und 1980er-Jahren, und zwar von Wahlkämpfen auf nationaler Ebene und in drei Kantonen: dem italienischsprachigen Tessin, dem französischsprachigen Kanton Waadt und dem deutschsprachigen Kanton Zürich. Mit einer „historischen Diskursanalyse“ (S. 41ff.) von Kampagnenmaterialien wie Flugschriften, Zeitungsinseraten oder auch parteiinternen Sitzungsprotokollen schält Zoé Kergomard die Bedeutung von zentralen Begriffen, Topoi oder Metaphern heraus, um Einblick in das Wissen und die Praktiken von Akteur:innen in Wahlkämpfen zu erhalten. Die Arbeit füllt eine große Lücke, weil in der Tat die Forschung zu Schweizer Parteien, vor allem in diachroner Hinsicht, nur schwach ausgeprägt ist.

Zoé Kergomards reichhaltiges und lesenswertes Buch ist in fünf Längsschnitte strukturiert, die je eine spezifische Phase im Wahlkampf beziehungsweise die unterschiedlichen Handlungsphasen der Parteien in den Blick nehmen: das Vorbereiten des Wahlkampfs, das Definieren der Wählerschaft und der Zielpublika, das Darstellen bzw. von sich selber Erzählen, das Verkörpern der Parteien durch Kandidat:innen und das Mobilisieren. Diesen Längsschnitt-Kapiteln sind eine Einleitung und eine historische Einordnung vor- und eine Schlussreflexion nachgelagert.

Das sehr systematische und breite Untersuchungsdesign gehört zu den großen Stärken der Arbeit. Im Prinzip wurden 320 verschiedene Analyse-Elemente in den Blick genommen: Wahlkämpfe von vier Parteien in vier verschiedenen Jahren mit jeweils vier verschiedenen Bezugsräumen (national plus drei Kantone) und entlang von fünf Handlungsfeldern (Vorlage für die Längsschnitte). Gleichzeitig ist es aber so, dass diese 320 Elemente sehr unterschiedlich eingehend analysiert und dargestellt wurden und mit unterschiedlicher Gewichtung in die abschließende Systematisierung und Verdichtung der Ergebnisse einflossen. Hier hätte ein schematischeres Durchkonjugieren, zum Beispiel mit Übersichtstabellen, einen Mehrwert geboten. So bleibt nicht ganz geklärt, in welchem Maß die ungleiche Gewichtung (auch) Resultat der Archivlage ist; nicht immer und überall gewährten Parteien Einblicke in interne Protokolle.

Insgesamt aber fördert die vielschichtige Analyse wichtige Erkenntnisse zutage. Unter anderem wird eine klar zunehmende Professionalisierung der Parteien im Laufe der Zeit deutlich, zum Beispiel der vermehrte Einbezug von Expertenwissen oder der Einsatz von und das Ausrichten an Umfragen. Auch die Wettbewerbsorientierung nahm zu. Statt die eigene Stammwählerschaft anzusprechen und zu mobilisieren, sahen sich Parteien durch die Erosion der Milieus ab den 1960er-Jahren und spätestens ab den 1970er-Jahren, nur schon wegen der (sehr späten) Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz, immer mehr gezwungen, mit offensiveren Strategien andere Wählergruppen anzusprechen. Mit vielen konkreten Hinweisen und erhellenden Beispielen belegt Zoé Kergomard somit, dass Wahlen für Parteien eine wachsende Bedeutung einnahmen und zu Wahl-„Kämpfen“ wurden – und dies bereits vor den 1990er- oder 2000er-Jahren, die als Phasen fortgeschrittener Professionalisierung und mit ihr verbundener „Medialisierung“ gelten.3 Kergomard weist auch zurecht darauf hin, dass diese Prozesse nicht linear und nicht widerspruchs- und konfliktfrei verliefen. Der Wahlkampf 1947, den die Sozialdemokraten mit Unterstützung eines damals so genannten „Propagandafachmanns“ (S. 104) durchführten, ist ein frühes Beispiel einer offensiven Kampagne, die später in dieser Form nicht wiederholt wurde. Parteien hielten Hausbesuche zunehmend für wichtig, aber weil diese Form von „canvassing“ als zunehmend aufdringlich empfunden wurde, wichen Parteien immer mehr auf Aktionen im öffentlichen Raum aus (S. 362ff.). Auch die höchst unterschiedlichen Reaktionen von Kantonalparteien auf Zentralisierungsversuche der Mutterparteien schält Kergomard überzeugend heraus.

Auch das Buch „Wahlen ohne Kampf?“ reiht sich ein in die verstärkten Bemühungen der (Schweizer) Geschichtswissenschaft um eine Integration transnationaler Perspektiven.4 Diese transnationale Perspektive kommt auf zweifache Weise zum Tragen: erstens dadurch, dass sich die Arbeit in ihrer Relevanzbegründung explizit gegen das auch in der älteren Literatur eingeflossene schweizerische Sonderfallverständnis positioniert. Zweitens sieht man sie in Kergomards Analyse von grenzüberschreitenden Praktiken der Parteien, zum Beispiel mit Blick auf die Kontakte der Sozialdemokraten mit einer US-amerikanischen Werbeagentur im Wahlkampf 1959, oder im Ergebnis, dass das „Sonderfallnarrativ“ der angeblich wenig professionellen Wahlkämpfe immer wieder von den Parteien selbst bewirtschaftet wurde. Als „Verkaufsargument“ benutzten mehrere Parteien dieses Narrativ im Wahlkampf 1983, um sich als vermeintlich authentische, nicht von großen Geldgebern oder Berater:innen geleitete Organisationen zu inszenieren (S. 138). Ein solcher Blick auf transnationale Zusammenhänge (oder eben Versuche, solche Zusammenhänge zu negieren), hätte sogar noch stärker verfolgt werden können, mit mehr Einblicken in Netzwerke von Parteien über Grenzen hinweg (zum Beispiel von ausländischen Schwesterparteien). Gleichwohl: Die Arbeit sammelt zwar überzeugende Belege gegen die „Sonderfall Schweiz“-Wahrnehmung, wonach Wahlen bloße „Nichtereignisse“ gewesen seien. Aber dadurch, dass die Arbeit empirisch nur auf die Schweiz fokussiert und keinen Ländervergleich durchführt, kann sie dieses Sonderfallverständnis trotz mancher Verweise auf internationale Prozesse auch nicht ganz entkräften. Zumindest im Feld der politischen Kommunikationsforschung ist es so, dass Länderstudien dazu tendieren, Veränderungen zu betonen, während ländervergleichende Studien festhalten, dass trotz Wandlungsprozessen die Unterschiede zwischen Ländern erheblich waren und sind.5 Dass beispielsweise noch 1959 die Kampagne der Sozialdemokraten auf nationaler Ebene mangels Ressourcen gerade mal aus einer Flugschrift, einem Plakat und einer „bescheidene[n] Inseratenkampagne in einigen Sportzeitungen“ bestand, ist aus einer ländervergleichenden Perspektive bemerkenswert. In den Schlussreflexionen hätte eine noch breitere Einordnung in die internationale Literatur die Arbeit bereichert.

Insgesamt bietet das Buch auf der Grundlage fundierter Analysen spannende Ergebnisse zu den Wahlkampfstrategien Schweizer Parteien im Wandel von 1947 bis 1983, die nicht nur die Zeitgeschichte bereichert, sondern auch der Politikwissenschaft, der politischen Soziologie und der Kommunikationswissenschaft viele Anknüpfungspunkte bietet. Angesichts des beschleunigten Medien- und Politikwandels seit den 1990er-Jahren würde es sich lohnen, Kergomards wichtige Arbeit in die jüngste Vergangenheit und Gegenwart fortzuführen.

Anmerkungen:
1 Daniel C. Hallin / Paolo Mancini, Comparing Media Systems. Three models of media and politics (Communication, society, and politics), Cambridge 2004.
2 Kurt Imhof / Patrik Ettinger, Die Kommunikationsereignisse Wahlen und Abstimmungen als Indikatoren sozialen Wandels, in: Hans Bohrmann u.a. (Hrsg.), Wahlen und Politikvermittlung durch Massenmedien, Opladen 2000, S. 251–272. Auch: Linards Udris / Jens Lucht / Jörg Schneider, Contested federal elections in increasingly commercialized media. A diachronic analysis of elections news coverage in Switzerland, in: Swiss Political Science Review 21 (2015), S. 578–595.
3 Patrick Donges, Medialisierung politischer Organisationen. Parteien in der Mediengesellschaft, Wiesbaden 2008.
4 Zum Beispiel: Nathalie Büsser u.a. (Hrsg.), Transnationale Geschichte der Schweiz – Histoire transnationale de la Suisse (Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte – Annuaire Suisse d’histoire économique et sociale 34), Zürich 2020.
5 Edda Humprecht / Linards Udris, Long-Term Trends in News Content, in: Henrik Örnebring (Hrsg.), Oxford Research Encyclopedia of Journalism Studies, Oxford 2019, S. 1–22.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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