Cover
Titel
On Civilization's Edge. A Polish Borderland in the Interwar World


Autor(en)
Ciancia, Kathryn
Erschienen
Anzahl Seiten
343 S.
Preis
£ 47.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Golczewski, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Es gibt eine Unart unter Verlagen und Autoren: Man wählt Titel, die vieles vermitteln – nur nicht, was man in dem jeweiligen Buch tatsächlich zu erwarten hat. Das ist zwar die einzige fundierte Kritik an dieser Studie, aber eine wesentliche: Es geht darin um Wolhynien, während der Titel zwischen Galizien, Oberschlesien und Posen alles offen lässt.

Ist das aber einmal geklärt, ist der Ansatz überaus spannend. Die Historikerin Kathryn Ciancia von der University of Wisconsin schildert das Aufeinandertreffen des nach dem Ersten Weltkrieg neuentstandenen polnischen Staates mit einer an seinem östlichen Rand gelegenen Provinz, in der die Titularnation gerade einmal 16% der Einwohner ausmachte. Insofern steht Wolhynien stellvertretend für das allgemeine Dilemma der nach 1918 entstandenen oder vergrößerten Länder im östlichen Europa, die sich zwar selbst als Nationalstaaten verstanden, diesem Anspruch aber wenig entsprachen. Ciancia untersucht in ihrem Buch die unterschiedlichen Ansätze, mit denen die regionalen Trägerschichten des polnischen Staates dieses Problem im Laufe der Zwischenkriegszeit zu „lösen“ versuchten.

In den ersten Jahren der polnischen Herrschaft (1919–1920) ging es vor allem darum, die Spuren der russischen Prägung zu tilgen. Angesichts dessen waren die Politiker gern bereit, sich in Bezug auf die nationale Konsistenz der nicht-polnischen Einwohner nicht festzulegen, sie als „Hiesige“ zu akzeptieren und somit zugleich von den weiter östlich lebenden Ukrainern zu unterscheiden. Da nur nationales Bewusstsein zu demokratischer Mitbestimmung zu berechtigen schien, galt als Ziel, die „Hiesigen“ zu pro-polnischen „Ruthenen“ (rusini) im Unterschied zu „Ukrainern“ (in der Ukraine) zu assimilieren, ohne dass Klarheit darüber bestanden hätte, worin diese Assimilation eigentlich bestehen sollte. Demokratisierung und eine selbstproklamierte „civilizing mission“ galten als zwei Seiten einer Medaille.

Wurde mit dieser Interpretation eine Rückständigkeit Wolhyniens gegenüber dem übrigen Polen nur angedeutet, suchten die zumeist rechtsgerichteten Regierungen bis zu Piłsudskis Putsch von 1926, die Provinz nicht zu integrieren, sondern zu reintegrieren, also als altes polnisches Land zu reklamieren. Dies hatte den Vorteil, Vorwürfe imperialer Aneignung zurückweisen zu können – es ging ja angeblich um früher verlorene eigene Gebiete. Ihr aktueller Zustand wurde demgegenüber aber umso negativer dargestellt. Ciancia stellt heraus, dass im Diskurs Wolhynien mit erworbener Fremdheit, Rückständigkeit und „Jewishness“ charakterisiert wurde, was durch die Ansiedlung von Militärsiedlern behoben werden sollte.

Aber half das? Vor Ort wurden die aus anderen Teilen Polens kommenden Militärsiedler als „Fremde“ wahrgenommen, so wie sie auch selbst die „Fremdheit“ ihrer neuen Heimat empfanden. Beliebt waren sie auch nicht. Mit staatlicher Unterstützung vertrieben sie schließlich Einheimische, die keine ausreichenden Landtitel besaßen, von ihrem Land.

Gleichzeitig unternahmen Organisationen in westpolnischen Städten wie Posen über Partnerschaften und Buchsammlungen Versuche, Wolhynien zu „zivilisieren“. Probleme gab es in der Region in zweierlei Hinsicht: Zum einen gab es nun eine Grenze zur Sowjetunion, wo es vorher keine gegeben hatte. Der Grenzschutz unterbrach daher die früheren Bindungen der Einheimischen, und das Verhältnis zum Sowjetstaat war in den 1920er-Jahren durchaus ambivalent. Zum anderen war die Region kaum urbanisiert. In den Städten lebten gerade einmal ca. 15% der Bevölkerung, ein großer Teil von ihnen waren Juden. Abgesehen von den Zentren Łuck und Równe waren die Städte kaum entwickelt, was die „Zivilisierer“ Russland anlasteten.

Eine neue Wendung erhielten diese Modernisierungsbestrebungen, die das zentrale Thema von Ciancias Arbeit darstellen, mit der Machtergreifung Piłsudskis und der darauf folgenden Einsetzung von Henryk Józewski als Wojewode in Wolhynien. Józewski stammte aus Kiew, war 1920 Minister in der Regierung der Ukrainischen Volksrepublik von Symon Petljura gewesen und versuchte nun, eine regionale wolhynische Identität zu kreieren, die an Stelle der kulturellen Gegensätze ein nationalitätenübergreifendes Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen lassen sollte. Damit verfolgte er ein Gegenmodell zur politischen Konstellation im benachbarten Galizien, die durch den eskalierenden Konflikt zwischen Polen und Ukrainern geprägt war.

Józewskis Linie war aber keineswegs eine laisser-faire-Politik: Ohne antisemitisch zu denken, war Józewski ein Gegner der zumeist orthodoxen jüdischen Stadträte in den mehrheitlich jüdischen Kleinstädten, da sie ihm als Ergebnis der russischen Zeit erschienen (was so nicht stimmte). Die Inklusion von Juden und Ukrainern stellte er sich vielmehr als ein Abbild der polnischen Toleranz der Vor-Teilungs-Zeit vor. Auf diese Weise sollte die angestrebte wolhynische Regionalidentität die polnischen Einflüsse positiv verstärken. Ciancia erkennt etwa in der Eingemeindung ländlicher Randgebiete in Städte wie Łuck den Versuch, die jüdischen Mehrheiten zu verringern und die engen Städte durch „moderne“ Gartenstadtsiedlungen primär für Neusiedler zu erweitern. Ziel war dabei stets eine Entpolitisierung der ethnischen Verhältnisse.

Józewskis als „wolhynisches Experiment“ bekanntgewordene Regionalisierungspolitik beruhte also auf der Imagination eines konfliktfreien Miteinanders diverser Kulturgruppen unter dem benevolenten polnischen Schutzschirm. Das konnte in einem Provinzmuseum dargestellt werden, aber auch in Reiseführern und Werbepublikationen, in denen zum Beispiel jüdische Synagogen als Sehenswürdigkeiten gewürdigt wurden – wenn sie denn aus der vorrussischen Zeit stammten, ansehnlich waren und eben als Beleg der polnischen Toleranz gedeutet werden konnten. Die von der rabbinischen Tradition abweichenden Karäer trennte man scharf von den Juden, und die Ukrainer reduzierte man auf malerische Folklore. Tourismus sollte Wolhynien in die polnische Lebenswelt hineinführen und umgekehrt die Region im polnischen Sinne „zivilisieren“.

Die Rechtswende der polnischen Politik gegen Ende der 1930er-Jahre entzog dieser Politik die Grundlage. Im April 1938 wurde Józewski durch einen polnischen Nationalisten ersetzt, der seinem Vorgänger vorwarf, der Bevölkerungszuwachs in Wolhynien gehe auf das Konto der „rückständigen“ Bevölkerungsteile, während die „modernen“ Polen ins Hintertreffen geraten seien. Nun galt es zu verhindern, dass die immer noch ansehnlichen Zahlen der national unbestimmten „Hiesigen“ sich als Ukrainer oder Belorussen bekennen würden. Zu diesem Zweck wurde das Programm der Annäherung an Polen wiederaufgelegt, zu dem die Werbung für eine Einsiedlung aus den zentralpolnischen Regionen ebenso gehörte wie die „Katholisierung“ der orthodoxen bzw. unierten Einwohner unter Beteiligung des Grenzschutzes. Diesem Ziel diente auch das gezielte Streuen von Gerüchten, wonach nur Katholiken in der Grenzregion zur Sowjetunion wohnen bleiben dürften. Juden galten nun für „unzivilisierbar“, und von Ukrainern, die man wieder rusini nannte, wurde behauptet, sie seien gar keine eigenständige Nationalität, sondern eigentlich Polen. Beides sollte der Polonisierung zuarbeiten, schuf jedoch eher negative Haltungen gegenüber dem polnischen Staat. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs beendete diese Unternehmungen.

Wer waren die relevanten Akteure der polnischen Politik vor Ort? Ciancia bezeichnet sie als „second-tier personnel” (Personal aus der zweiten Reihe), das es nicht schaffte, die gesetzten Ziele der Umgestaltung so zu vermitteln, dass sie positiv aufgenommen würden. Der Hass auf die geförderten Militärkolonisten, die Katholisierer der „revindizierten“ orthodoxen Kirchen und die Missachtung der orthodoxen Juden förderte eine toxische Stimmung, die sowohl die Sowjets 1939 als auch die Deutschen 1941 und die ukrainischen Nationalisten 1943 zu Massenmorden nutzen konnten. Unter dem Zwischentitel „Explaining Atrocities“ (S. 227) benennt Ciancia diesen Zusammenhang zwar kurz auf zwei Seiten. Sie arbeitet ihn aber nicht so deutlich heraus, wie es eigentlich nötig wäre.

Stattdessen leistet Kathryn Ciancia etwas anderes. Auf der Basis einer enormen Materialfülle bietet sie eine überzeugende Interpretation des diffusen und weitgehend hilflosen Umgangs eines nominellen modernisierenden Nationalstaats mit Territorien, die sich der „zivilisatorischen“ Umgestaltung verweigerten, ohne in offene Rebellion zu verfallen.

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