In ihren Grundzügen ist die fatale Biografie des evangelischen Theologen Ernst Szymanowski (seit 1941 Biberstein) seit Langem bekannt. Der 1899 in Hilchenbach (Kreis Siegen in Westfalen) geborene Sohn eines Reichsbahnbeamten trat als junger schleswig-holsteinischer Pfarrer früh (1926) in die NSDAP ein, gehörte seit 1933 zu den regionalen Aktivisten der völkisch-antisemitischen Deutschen Christen in der Landeskirche, wechselte 1935 – vorwiegend aus Karrieregründen – in den Staatsdienst (Reichskirchenministerium) nach Berlin über und schloss sich ein Jahr darauf der SS an. Während des Krieges schickte ihn SD-Chef Heydrich als Leiter eines Einsatzkommandos 1942/43 zum Kriegseinsatz („Partisanenbekämpfung“ in der Region Rostow) nach dem Osten. Im Nürnberger Einsatzgruppenprozess wurde Biberstein 1948 als Kriegsverbrecher zunächst zum Tode verurteilt, 1951 begnadigt und im Jahr 1958 aus der Landsberger Haftanstalt entlassen. Biberstein verstarb 1986 in Neumünster im Alter von 87 Jahren.
Der ehemalige Pfarrer als SS-Massenmörder – das war natürlich eine Aufsehen erregende Story, die schon früh die Aufmerksamkeit der Medien fand, so erstmals durch einen SPIEGEL-Artikel, der die teils haarsträubenden Einlassungen des Angeklagten während des Nürnberger Einsatzgruppenprozesses im Dezember 1947 nicht ohne Sarkasmus kommentierte.1 Insbesondere während der jüngsten zwei Jahrzehnte ist das skandalträchtige Thema dieses fehlgehenden protestantischen Theologen wiederholt aufgegriffen worden, namentlich durch mehrere historisch-biografisch fundierte Publikationen des Hamburger Historikers Stephan Linck.2
Insofern weckt die neuerdings vorliegende, äußerst umfangreiche Publikation Interesse. Es handelt sich um eine 2019 von der Philosophischen Fakultät der Universität Köln angenommene und von Habbo Knoch betreute Dissertation. 900 Druckseiten über Szymanowski-Biberstein – lohnt denn das überhaupt? Sind so viele neue Quellen erschlossen und neue biografische Erkenntnisse gewonnen worden über diesen berühmten und in den Grundlinien bekannten „Fall“? Die Antwort lautet kurz: nein.
In ihrer Einleitung betont die Verfasserin, sie wolle keine „Biografie im üblichen Sinne“ schreiben. Vielmehr sei es das Ziel ihrer Studie, die Person Biberstein als „Prototypus“ jener Führungselite des Reichssicherheitshauptamts zu untersuchen, die Michael Wildt einer Generation des Unbedingten zugerechnet habe. Daher seien die biografischen Fragestellungen mit dem organisations- und strukturgeschichtlichen Bezugsrahmen des NS-Vernichtungsapparates zu verknüpfen. „Ziel dieser Studie ist demzufolge, kein Porträt Bibersteins zu zeichnen, sondern auf einer ganz spezifischen, sehr weit ausgebreiteten Folie den Typus eines in Täterkollektiven eingebundenen Massenmörders zu ermitteln.“ (S. 34)
Die hier angekündigte „sehr weit ausgebreitete Folie“ gehört zu den Hauptproblemen dieser Untersuchung. Sie ist viel zu weit gefasst, viel zu breit angelegt, stellenweise geradezu uferlos. Zugleich erschließt die Arbeit über den eigentlichen Protagonisten dieser Biografie kaum neue individuelle, personenbezogene Quellen. Es fehlt folglich an „Nähe“ zur untersuchten Hauptfigur und damit letztlich an einer wesentlichen Voraussetzung, um zu einer ausgeglichenen Balance zwischen der individuellen Lebensgeschichte des Protagonisten und den historischen Kontexten zu gelangen. Stattdessen werden weit ausgreifende Ausführungen zu diversen Kontexten präsentiert, die mit dieser Biografie irgendwie und zeitweilig verbunden waren: die völkische Bewegung seit dem 19. Jahrhundert, die Glaubensbewegung Deutsche Christen, die Deutschkirche und die Deutsche Glaubensbewegung, das Reichskirchenministerium, der Sicherheitsdienst (SD) der SS, Strukturen des Reichssicherheitshauptamts, Organisation und Praxis der Einsatzgruppen in den östlichen Kriegsgebieten, der Nürnberger Einsatzgruppenprozess von 1947/48, schließlich die allgemeine Entnazifizierungspolitik der Alliierten sowie später jene unter deutscher Regie, der kirchliche Hilfseinsatz zugunsten der inhaftierten Kriegsverbrecher usw.
Zu den gravierendsten Ungereimtheiten dieser Arbeit gehört: Auf dem Buchdeckel wird die Studie als Biografie Bibersteins angekündigt; in der Einleitung heißt es dann, es sei kein Porträt dieses Protagonisten beabsichtigt, sondern vielmehr die Ermittlung des Typus eines SS-Massenmörders; im Resümee wird am Schluss (S. 835 f.) als Ergebnis konstatiert, Biberstein entspreche eigentlich nicht jenem Tätertypus, den die Verfasserin hat untersuchen wollen.
Diese Studie ist völlig überfrachtet mit diversen „Folien“, mit „Kontexten“ und „Strukturen“, während der Blick auf die biografische Hauptperson über weite Strecken verloren geht. Ein weiteres Grundproblem der hoch ambitionierten und letztlich missglückten Untersuchung sehe ich darin, dass der oder die Betreuer dieser Kölner Dissertation nicht frühzeitig auf eine sinnvolle Begrenzung des Stoffes und Schärfung des biografischen Fokus dieser geschichtswissenschaftlichen Qualifikationsarbeit hingewirkt haben. Angesichts eines dieser Studie vorausgehenden, erheblichen Forschungsstands zu Szymanowski/Biberstein, der unzureichend referiert wird, wäre die Erschließung biografisch wesentlicher neuer Quellen eine unverzichtbare Vorbedingung gewesen, um ein solches Projekt überhaupt in Angriff zu nehmen. Und selbst dann wäre eine 300-Seiten-Arbeit, einschließlich umfassender Einarbeitung der historischen Kontexte, angesichts der (eher begrenzten) historischen Relevanz dieses biografischen Exempels völlig hinreichend gewesen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Der unaufdringliche Pfarrer – Vergasung angenehmer, in: DER SPIEGEL, Nr. 50, 13.12.1947; s. ferner den Artikel Unfassbare Aussagen in Nürnberg. Der Zynismus eines Geistlichen. – Die „humanitären“ Hinrichtungen, in: Der Telegraf, 09.03.1948.
2 Vgl. u.a. Stephan Linck, Ernst Szymanowski alias Biberstein – ein Theologe auf Abwegen, in: Klaus-Michael Mallmann / Gerhard Paul (Hrsg.), Karrieren der Gewalt. Nationalsozialistische Täterbiografien, Darmstadt 2004, S. 219–230; ders., Der Fall Ernst Szymanowski-Biberstein, in: ders., Neue Anfänge? Der Umgang mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien, Bd. 1: 1945–1965, Kiel 2013, S. 140–151; ders., Eine mörderische Karriere. Der schleswig-holsteinische Theologe Ernst Szymanowski/Biberstein, in: Manfred Gailus / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im „Dritten Reich“, Göttingen 2016, S. 241–259. Es verwundert, dass alle drei biografisch einschlägigen Titel im Literaturverzeichnis der hier zu besprechenden Arbeit keine Erwähnung finden.