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Titel
Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Söllner, Alfons
Erschienen
Baden-Baden 2006: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
351 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Düsseldorf

Vieles wird heute publizistisch zum „Erinnerungsort“ verklärt. So möchte ich das Bard-College am Hudson oberhalb von New York auch als deutschen „Erinnerungsort“ bezeichnen. Denn dort wirkte Hannah Arendts Mann Heinrich Blücher, und dort liegt Hannah Arendt einsam zwischen Bäumen auf einer Anhöhe mit Blick auf den River begraben. Vor einigen Jahren hatte ich dort nach einem mir unvergesslichen, von David Kettler veranstalteten Emigrationsforschungs-Kongress die Gelegenheit, mit Alfons Söllner zusammen die handverlesene Bibliothek Arendts einzusehen: eine sehr persönlich sortierte Gelehrtenbibliothek mit signifikant verschobenen Schwerpunkten gegenüber dem Werk. Dort standen die frühen Simmel-Ausgaben und Stefan George komplett. Man kann diese Bücher kaum ohne Trauer in die Hände nehmen. Eine versunkene und zerstörte Welt klingt auf. Wie konnte Arendts Weg von Königsberg, Marburg und Berlin über Paris an den Hudson führen? Söllners Studien zu solchen Emigrationswegen sind auch ein Stück Trauerarbeit einer Generation. Sie widmen sich einem „Epochenbruch in der deutschen und europäischen Zeitgeschichte“ (S. 11) und legen den Akzent dabei auf die lange Wirkungsgeschichte der Emigrationsschicksale und wissenschaftlichen Antworten, die sie fanden. Vor 1933 hatte die deutsche Geisteswissenschaft Weltruf. Durch die nationalsozialistischen Vertreibungen und Morde enthauptete sie sich nachhaltig.

1996 veröffentlichte Söllner unter dem Titel „Deutsche Politikwissenschaftler in der Emigration“ einen ersten Sammelband von „Studien zu ihrer Akkulturation und Wirkungsgeschichte“. Der neue Band versammelt nun 16 Studien aus den letzten Jahren von den Weimarer „Ausgängen“ bis zur Wirkungsgeschichte in der alten Bundesrepublik. Drei abschließende Studien dokumentieren politische Konsequenzen, die Söllner zog: Interventionen zur politischen Kultur, Asylpolitik und Universitätspolitik. Diese Interventionen markieren zugleich den politischen Ausgangspunkt, von denen her er seine Studien schrieb. Denn Söllner schreibt nicht objektivistische historische Studien zur Fachgeschichte, sondern will die moralisch-politische Problematik der Geschichte im exemplarischen Spiegel individueller Erfahrungsauslegung und Verwissenschaftlichung näher bringen. Seine Studien sind nicht ohne Anteilnahme geschrieben. Das Wechselspiel von persönlichem Schicksal und individueller Bearbeitung dient ihm zur meditativen Besinnung auf diese „deutsche Katastrophe“ und ihre schmerzliche Bemeisterung durch wissenschaftliche Innovation. Das Pathos der „Kritischen Theorie“ klingt noch in dieser geschichtlichen Betrachtung an. Die hermeneutische Emphase wirkungsgeschichtlicher Anteilnahme unterscheidet Söllners Studien von stärker historisierenden, objektivistischeren Fachgeschichten wie etwa der glänzenden Darstellung der Geschichte der Politikwissenschaft durch Wilhelm Bleek, in der die innovativen Leistungen und Wirkungen emigrierter Wissenschaftler auch breiten Raum nehmen.1

Söllner führt einleitend aus, dass viele Emigranten durch eine Expansionsphase in der amerikanischen Politikwissenschaft aufgefangen wurden, weil sie aus Deutschland eine „Art philosophische Konterrevolution gegenüber der Behavioral Revolution“ bewirkten (S. 17). Nach 1945 brachten sie auch durch Remigration eine „Verwestlichung“ qua „Durchsetzung einer neuen Kulturhegemonie“ (S. 23) auf den Weg. Studien zu Otto Kirchheimer, Ernst Fraenkel und Franz Neumann sowie Leo Strauss markieren den ersten Schritt über die Weimarer Staatsrechtslehre hinaus in eine neue politische und philosophische Betrachtung. Sie alle setzten sich dezidiert von Carl Schmitt ab, der die politische Wendung der Staatsrechtslehre zum Nationalsozialismus repräsentierte. Im breiten Durchgang durch die Entstehung der Totalitarismus-Forschung stellt Söllner dann den eigenen Beitrag Hannah Arendts heraus und erinnert an Sigmund Neumann und Arnold Brecht als fast vergessene „Klassiker“ der Politikwissenschaft. Besonders eindringlich lesen sich seine Studien zum Nachkriegswerk und dem Nachkriegswirken dieser exilierten Politikwissenschaftler. Söllner beleuchtet hier auch Karl Löwenstein und manchen anderen, konzentriert sich dabei stets auf die starke individuelle Stimme. Er arbeitet eine Ambivalenz von Enttäuschung und Erfolg heraus, bei der der wissenschaftliche Erfolg nach 1945 das Trauma der Vertreibung und die Enttäuschung über den amerikanischen Kurs im Kalten Krieg nicht vergessen machte. Von Arnold Bergstraessers beflissener „Trostsuche“ und „Sinnmobilisierung“ (S. 192) über eine „Restauration der abendländischen Wertegemeinschaft“ (S. 199) lässt Söllner sachlich dabei kaum etwas stehen. Ernst Fraenkel und Theodor W. Adorno repräsentieren ihm dagegen den großen positiven Beitrag der Remigration zur „Verwestlichung“ der Bundesrepublik nach 1949. Söllner erinnert an die „traumatische Seite“ der Remigration und zitiert einen eindrücklichen Brief von 1946, in dem Ernst Fraenkel schreibt, angesichts der Gaskammern könne die „Wunde nicht geheilt werden“, sei das „Band“ zerschnitten (S. 204). Fraenkels Amerikastudien liest Söllner als „Programm einer politischen Hermeneutik“, in dem das europäisierte Amerika das verwüstete Europa qua Amerikanisierung rettet. Fraenkels idealisierender Darstellung Amerikas stellt Söllner dann Adornos schwarzes Zerrbild von der spätkapitalistischen „Kulturindustrie“ entgegen, das den Holocaust zum Brennpunkt einer negativen Theologie der „Erlösung“ macht, die Adorno an die avantgardistische Musik Arnold Schönbergs delegierte. Für die künstlerische Reflexion des traumatischen Prüfsteins „Auschwitz“ erörtert Söllner abschließend Peter Weiss, woran seine eigenen politischen Konsequenzen und Interventionen anschließen. Die „Nicht-Integrierbarkeit [des Holocaust, R.M.] in das kollektive Gedächtnis der Deutschen“ (S. 290) bezeichnet er dabei als die traumatische Wunde, die jeder akzeptieren muss, der die wissenschaftlichen Innovationen der neueren Politikwissenschaft auch in ihren persönlichen Motiven als „politischen“ Beitrag würdigen will. Söllner übernimmt deshalb auch seinen schönen Titel „Fluchtpunkte“ von Peter Weiss.

Der Fluchtpunkt seiner Studien ist die moralische Meditation der individuellen Schicksale und Leistungen: ein Stück Märtyrer- und Heldengeschichte, das als diskretes „Eingedenken“ der Opfer in guter Tradition Kritischer Theorie anklingen lässt. Adornos pathetisches Lamento negativistischer Totalisierungen ist heute kaum mehr erträglich. Söllners leichten und luziden, eingängig lesbaren Studien transformieren dieses Pathos und entzünden in ihrer hermeneutischen Erinnerungsarbeit doch auch ein Stück moralischer Besinnung und Kraft.

Anmerkung:
1 Bleek, Wilhelm, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001.

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