B. Sandin: Schooling and State Formation in Early Modern Sweden

Cover
Titel
Schooling and State Formation in Early Modern Sweden.


Autor(en)
Sandin, Bengt
Reihe
Palgrave Studies in the History of Childhood
Erschienen
Anzahl Seiten
XXVI, 420 S., 3 SW- und 9 Farbabb.
Preis
€ 108,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Kurig, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg

Die Entwicklung des allgemeinen (Volks-)Schulsystems, beziehungsweise – in der internationalen Fachterminologie – des modernen „mass schooling“, ist seit einiger Zeit ein hervorragendes Objekt bildungshistorischer Forschung. In Bezug auf Schweden, das in dieser Hinsicht schon länger im internationalen Fokus steht1, rückte zuletzt die Schulgeschichte ab den 1840er-Jahren in den Vordergrund2, als mit dem Schulgesetz von 1842 der Schulbesuch verpflichtend wurde – eine Maßnahme auf dem Weg zu einem modernen staatlichen Schulsystem, die vergleichbar auch in anderen europäischen Ländern ergriffen wurde: Preußen erließ 1763 ein solches Gesetz, Dänemark 1814, Frankreich 1833 und Finnland 1866. Diese Gesetze stehen in historischen Entwicklungslinien, die bis weit in die Frühe Neuzeit zurückreichen. In seinem Buch Schooling and State Formation in Early Modern Sweden rekonstruiert Bengt Sandin nun die schwedische Schulgeschichte von der Mitte des 17. bis zum 19. Jahrhundert und damit sozusagen die Vorgeschichte des schwedischen „School Act“ von 1842.

Folgende Aspekte der Studie, in der der Autor – emeritierter Professor der Universität Linköping – die Summe seiner bildungshistorischen Arbeiten zieht, sind besonders innovativ: Erstens wird der Prozess der Volksschul- und Schulsystembildung nicht nur nachgezeichnet, sondern mit einer Geschichte der Kindheit verknüpft, die vor allem räumliche Aspekte fokussiert. Schule wird hier als Raum begriffen, der sich in Relation zu anderen kindlichen Lebensräumen wie dem Haushalt (bzw. dem „Ganzen Haus“ nach Otto Brunner) als der zentralen frühneuzeitlichen sozioökonomischen Einheit, den städtischen Straßen und Gassen, aber auch den Waisen- und Arbeitshäusern entwickelt hat. Zweitens verfolgt die Untersuchung einen multidimensionalen Ansatz. Während viele Studien die Entwicklung des elementaren Schulwesens eher monokausal betrachten, diese etwa auf Prozesse der Staats- und Nationsbildung oder auf spezifische Triebkräfte wie eine dezentrale Schulorganisation zurückführen, wird sie bei Sandin umfassend politik-, ökonomie-, sozial- und kulturhistorisch kontextualisiert und europäisch perspektiviert. Drittens ist insbesondere für die deutsche Historische Bildungsforschung spannend, dass Sandin den modernen Schulentwicklungsprozess nicht mit der Aufklärung und der bürgerlichen Gesellschaft im 18. Jahrhundert, insbesondere der ‚Sattelzeit‘ um 1800, beginnen lässt, sondern mit dem 17. Jahrhundert – einer Phase der Frühen Neuzeit, die in einschlägigen deutschen Schulgeschichten oft unterbelichtet bleibt.3

Sandins Studie verfolgt ihre Fragestellungen über sechs Kapitel, die Chronologie und Systematik, Theorie und Empirie gekonnt miteinander verbinden. Nach einer Einführung in den theoretisch-methodologischen Rahmen und die zentralen Perspektiven des Bandes steht in Kapitel 2 die Frage nach dem Zusammenhang von Nationalstaatsbildung und Entwicklung eines öffentlichen Schulwesens im Vordergrund. Sandin verortet den Beginn der ‚Verschulung‘ der Kindheit größerer Bevölkerungsgruppen im 17. Jahrhundert und zeigt, wie bislang in informellen Kontexten (Familie, Straße etc.) sozialisierte Kinder ins Blickfeld des Staates gerieten. Der Autor verdeutlicht differenziert, wie verschiedene strukturelle Ebenen von ‚Regierung‘ ineinander griffen. Insbesondere kirchliche Gemeinden „played an important role in bridging the gap between central and local government“ (S. 74), dabei entstanden allerdings auch Spannungen zwischen säkularen und religiösen Kräften, zwischen Volkskultur und orthodox-lutherischer Kultur. Den entscheidenden historischen Wirkfaktor aber erkennt Sandin in der Verbindung kirchlicher und staatlicher Interessen in dem Ziel, den frühneuzeitlichen ‚Haushalt‘ als Raum kindlicher Erziehung und Sozialisation zunehmend zu regulieren beziehungsweise die Erziehung der jungen Generation in neu gegründeten Schulen selbst zu übernehmen.

Kapitel 3 konkretisiert diese Prozesse anhand der öffentlichen Erziehung in Stockholm in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Dies ist insofern interessant, als dass Stockholm nicht nur die repräsentative Hauptstadt des zur Großmacht aufsteigenden Schweden war, sondern auch eine Stadt, in der sich die Armen und Entwurzelten sammelten und sich gesellschaftliche Missstände besonders deutlich zeigten. Die soziale Dichte – die Nähe von Reichen und Armen, von alteingesessenen und neuen Bevölkerungsgruppen, auch von marodierenden und bettelnden armen Kindern auf Straßen und Plätzen – machte die Frage nach der Regierbarkeit des städtischen Raumes akut. Zunehmend wuchs die Erkenntnis, dass der frühneuzeitliche ‚Haushalt‘ insbesondere der ärmsten städtischen Familien keine geeignete erzieherische Antwort mehr war, dass es Schulen brauchte. Den Blick ‚von oben‘ ergänzt Sandin dabei trotz mangelhafter Quellenlage durch den Blick ‚von unten‘, indem er untersucht, wie der Schulbesuch Teil der Überlebensstrategien armer Familien wurde. Die städtischen Behörden machten diesen auch dadurch attraktiv, dass das Betteln sowie Singen bei Hochzeiten, Beerdigungen und städtischen Festen zu einem „exclusive privilege for schoolchildren“ (S. 162) erklärt wurde.

Viele dieser Entwicklungsprozesse setzten sich im 18. Jahrhundert fort (Kap. 4). Zugleich reagierte Schulentwicklung in diesem Jahrhundert auf neue politische und gesellschaftliche Dynamiken in der sogenannten „Freiheitszeit“ in Schweden ab 1719, die nicht nur mit einer Einschränkung absolutistischer Macht, der Erstarkung städtischer Mittelschichten, der Entfaltung einer öffentlichen Sphäre abseits staatlicher Kontrolle und des neuen Manufakturwesens verbunden war, sondern auch mit dem Verlust der europäischen Großmachtrolle als Folge des Großen Nordischen Krieges (1700–1721). Das elementare städtische Schulsystem geriet durch neue Bildungsansprüche des aufsteigenden Bürgertums unter Druck, das sich nun nicht mehr mit der schulischen Vermittlung einfacher Schreibkompetenzen zufrieden gab, sondern nützliches Wissen für Handel und öffentliche Dienste nachfragte. In der Folge wurden die Grenzen zwischen elementarem und höherem, universitätsvorbereitenden Unterricht schärfer gezogen, mit dem Ziel „to exclude the poor children from the latter“ (S. 230). Verschiedene Schulformen für unterschiedliche soziale Klassen, Bedürfnisse und Geschlechter traten nebeneinander, das Schulwesen pluralisierte sich.

Wie in Deutschland im Zuge der Preußischen Reformen, intensivierten sich in Schweden die schulpolitischen Diskussionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Kap. 5). Auf die Tagesordnung trat die Frage nach den Verbindungen zwischen Schularten und -formen, also Aspekte schulischer Systembildung, im Zuge derer zwei parallele Schulsysteme etabliert und damit wesentliche Rahmen für klassen- und geschlechterspezifische Kindheiten festgelegt wurden: ein elementares für Kinder der breiten unteren Bevölkerungsschichten und ein höheres für Bourgeoisie und Beamtenschaft. Wie Sandin anhand unterschiedlicher Städte im schulpolitisch dezentral organisierten Schweden zeigt – von der Hauptstadt Stockholm über das kleinere Göteborg bis zum früh industrialisierten Malmö –, intensivierte und verfestigte sich die schulische Segregation und Differenzierung von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft innerhalb der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Schulerziehung fungierte dabei als Aspekt städtischer Polizei- und Sozialarbeit, aber auch als Mittel „to create avenues for individual careers“ (S. 304).

Die schulpolitische Analyse ergänzt Sandin auch für diesen Zeitraum durch familienhistorische Perspektiven (Kap. 5 und 6). Im Gegensatz zu den Zuschreibungen kirchlicher und bürgerlicher Armenfürsorge, die den angeblich problematischen Lebenswandel ärmerer Familien herausstellte, geht Sandin davon aus, dass auch arme Haushalte in der Regel trotz ihres arbeitsreichen Alltags gut funktionierten, nur eben nicht nach bürgerlichen Maßstäben. Nicht-legalisierte Beziehungen, illegitime Kinder, ‚Straßen‘-Kindheiten entsprachen nicht den bürgerlichen Vorstellungen einer behüteten Kindheit, waren aber durchaus adaptive Strategien, die teilweise einfach auf andere soziale Bedingungen verwiesen, wie z. B. die verbreitete Erwerbstätigkeit und damit ökonomische Unabhängigkeit der Mütter in diesem sozialen Milieu.

Sandins Darstellung ist insgesamt nicht nur kurzweilig zu lesen, sondern auch inhaltlich überzeugend. Die Analyse ab dem 18. Jahrhundert bleibt zwar gegenüber der des 17. Jahrhundert etwas blass, was aber angesichts der aufgewiesenen Bedeutung der Frühen Neuzeit für die schwedische Entwicklung nachvollziehbar ist. Zudem könnte eben dieser Zuschnitt die Historische Bildungsforschung und Schulgeschichtsschreibung hierzulande anregen, die Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts einmal weniger im Hinblick auf Brüche und Neuanfänge denn als Fortsetzung von detaillierter zu rekonstruierenden Prozessen des 17. Jahrhunderts zu ‚erzählen‘. Darüber hinaus ist das Buch hinsichtlich seiner Verschränkung von Schul-, Familien- und Kindheitsgeschichte sowie seiner breiten soziokulturellen Kontextualisierung bildungshistorischer Perspektiven wegweisend – ist doch die deutsche Schulgeschichte der Frühen Neuzeit vorwiegend geprägt von verwaltungsgeschichtlichen, religions- und konfessionsgeschichtlichen Zugriffen ohne tiefergehende familienhistorische Anbindung4, während die Historische Familienforschung oft nur am Rande schulhistorische Perspektiven einbezieht. Neben interdisziplinären Anschlussmöglichkeiten bietet Sandins Studie darüber hinaus auch genügend Anlass und Material für Vergleiche mit deutschen und anderen europäischen Entwicklungspfaden in die pädagogische Moderne.

Anmerkungen:
1 John Boli, New Citizens for a New Society. The Institutional Origins of Mass Schooling in Sweden, Oxford 1989.
2 Johannes Westberg, Funding the Rise of Mass Schooling. The Social, Economic and Cultural History of School Finance in Sweden, 1840–1900, Cham 2017.
3 Etwa Hans Georg Herrlitz u.a., Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. 5., aktual. Aufl., Weinheim 2009.
4 Thomas Töpfer, Die „Freyheit“ der Kinder. Territoriale Politik, Schule und Bildungsvermittlung in der vormodernen Stadtgesellschaft. Das Kurfürstentum und Königreich Sachsen 1600–1815, Stuttgart 2013; Wolfgang Neugebauer, Niedere Schulen und Realschulen, in: Notker Hammerstein / Ulrich Herrmann (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Band II: 18. Jahrhundert. Vom späten 17. Jahrhundert bis zur Neuordnung Deutschlands um 1800, München 2005, S. 213–261; Heinz Schilling / Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Erziehung und Schulwesen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung. Forschungsperspektiven, europäische Fallbeispiele und Hilfsmittel, Münster 2003.