M. Fenske: Marktkultur in der Frühen Neuzeit

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Titel
Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt


Autor(en)
Fenske, Michaela
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Brandt, Goethe-Universität Frankfurt am Main, FernUniversität Hagen

Seit den 1990er-Jahren beschäftigt sich auch die deutschsprachige Geschichtswissenschaft intensiver mit Märkten und Marktwirtschaft. Dabei hält sich noch immer hartnäckig die Vorstellung, Märkte und daran orientierte ökonomische Praktiken und Wirtschaftsmentalitäten seien eigentlich erst mit dem Industriekapitalismus entstanden – eine Sichtweise, die sich auf die systematischen Arbeiten der Historischen Schule zurückführen lässt. An dieser Stelle setzt Michaela Fenske mit ihrer von Carola Lipp betreuten kulturanthropologischen Dissertation an, die sich mit den Hildesheimer Jahr- und Viehmärkten in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigt. Statt luftiger makrohistorischer Systematiken und an Stelle des neoklassischen Standardmodells bevorzugt Fenske den Weg der Empirie: Auf breiter Quellengrundlage und mittels eines mikrohistorischen Ansatzes rekonstruiert sie die Hildesheimer „Marktkultur“, das heißt die ökonomischen Praktiken auf den Märkten sowie den politischen, sozialen und naturräumlichen Kontext dieser Marktaktivitäten. Es gelingt ihr dabei, ein wirklich buntes und mehrdimensionales Bild der Hildesheimer Märkte und der auf diesen anzutreffenden Menschen zu zeichnen, dessen Detailfülle hier nur angedeutet werden kann.

Wichtigste Quelle der Untersuchung sind die Hildesheimer Marktprotokolle, in denen Konflikte und Ordnungswidrigkeiten festgehalten wurden und die für die Jahre 1646 bis 1717 ausgesprochen gut überliefert sind; geschickt ergänzt wurden die Hildesheimer Bestände um Quellen ausgewählter anderer Marktorte. Mittels ihrer Methode aus Dekonstruktion und Kombination kann die Autorin zeigen, dass es sich bei den Marktprotokollen um tendenziöse Quellen handelt, in denen die städtischen Gerichtsschreiber aus Sicht der Obrigkeit das Marktgeschehen fixiert haben. Ausführlich beschreibt die Autorin, nachdem sie ihren konzeptionellen und methodischen Ausgangspunkt erläutert hat, wie der viermal im Jahr stattfindende Hildesheimer Jahr- und Viehmarkt organisiert wurde, wie der eigentliche Veranstaltungsort zum Marktort umgestaltet wurde („Einen Markt bauen“) und welch gravierende Auswirkungen das Wetter auf das Marktgeschehen haben konnte. Auch die einzelnen Akteure, ihre Konflikte und recht unterschiedlichen Kooperationen und Koalitionen werden vorgestellt. Im Fokus hat Fenske dabei nicht nur die „reine“ Wirtschaftsgeschichte, sondern die Trias aus Wirtschaft, Macht und Unterhaltung.

Die Hildesheimer Märkte hatten einen regionalen Zuschnitt und wurden vor allem von Bauern aus der näheren Umgebung besucht, die ihre agrarischen Überschüsse absetzten und sich zugleich mit gewerblichen Produkten aus der Stadt eindeckten; gut dokumentiert sind aber auch Viehhändler aus angrenzenden Territorien, beispielsweise aus dem Hessischen. Jüdische Viehhändler waren aufs engste mit dem Handel der christlichen Mehrheitsgesellschaft verbunden („Ökonomie der Gemeinsamkeiten“, S. 265), sie agierten ökonomisch „mittendrin“; andererseits lebten sie jenseits dieser Transaktionen weiterhin „gesondert“ von der christlichen Mehrheitsgesellschaft (S. 262). Der Obrigkeit brachte der Markt nicht nur Einnahmen und vielfältige Möglichkeiten der symbolischen Inszenierung, sondern er diente beispielsweise auch als Forum, auf dem politische Konflikte zwischen Stadt und Dom, zwischen aufstrebender bürgerlicher Elite und Domherren ausgetragen werden konnten. Eingehend wird in diesem Zusammenhang auch das städtische Ordnungspersonal und seine nicht unwichtige Rolle bei Zolldelikten (Stichwort Korruption) vorgestellt. Geselligkeit, Glücksspiel und Alkohol waren fundamentale Bestandteile einer erfolgreichen Marktsession, wobei es während des Feierns/des Festes nicht wirklich zu Grenzüberschreitungen oder gar zur Infragestellung der Ordnung kam: Formale und informelle Regeln erlaubten lediglich „begrenzte Freuden“ und „geregeltes Feiern“.

Ausführlich werden die ökonomischen Praktiken auf den Märkten analysiert, beispielsweise das Kreditgeschäft und die „Kultur des Risikoausgleichs“ (S. 184), das heißt die vielfältigen Versuche, die Risiken des Kreditgeschäfts und anderer Transaktionen zu reduzieren, etwa durch soziale Netzwerke. Die Preisbildung auf den Märkten wurde nicht nur über Angebot und Nachfrage organisiert, sondern auch maßgeblich durch die Ehre der Akteure beeinflusst; mitunter konnten solche informellen Regeln strenger sein als die des Marktgerichts. Vor allem dem Feilschen um Preise und Zahlungsbedingungen misst Fenske als sozialer Praxis einen hohen Stellenwert bei. Generell betont sie die Rationalität im Handeln der Akteure, die auf den Hildesheimer Märkten ihren Geschäften nachgingen.

Das Panorama vorindustrieller Marktökonomie wird abgeschlossen mit systematischen Überlegungen zur vorindustriellen Ökonomie. Jenseits der gängigen Einteilungen (Sombart, Polanyi oder Muldrew) erkennt Fenske in den Hildesheimer Märkten eine eigenständige Wirtschaftsweise, die sowohl profitorientiert war als auch sozial ausgleichend wirkte. Alle, die am Handel beteiligt waren, orientierten sich am Prinzip der individuellen Gewinnmaximierung; zugleich sorgten die sozialen Netzwerke, in denen diese Profitorientierung eingebettet war, sowie obrigkeitliche Eingriffe – die Platzmieten beispielsweise waren sozial gestaffelt – für einen gewissen sozialen Ausgleich, der anscheinend von allen Akteuren akzeptiert wurde.

Obwohl es sich bei Michaela Fenskes Buch um ein wirklich vielschichtiges Werk handelt, das in einer ausgesprochen gut lesbaren Wissenschaftsprosa verfasst worden ist, seien an dieser Stelle trotzdem zwei grundsätzliche Einwände formuliert: Obwohl die Überlieferung für die Hildesheimer Jahr- und Viehmärkte ausgesprochen gut ist, bleibt die Frage, was die Marktprotokolle aus der Feder tendenziöser Marktschreiber eigentlich abbilden: das Typische oder das Untypische? Ist in den Marktprotokollen die Spitze eines Eisbergs „Normalfall“ (S. 198) erkennbar oder liegen nur die aktenkundig gewordenen Ausnahmen vor, die Generalisierungen und Rückschlüsse auf die allgemeinen Verbreitung der ökonomischen Praktiken, die in den Fokus des Marktschreibers geraten waren, nur bedingt zulassen? Gut funktionierende und stabile Handelsbeziehungen gerieten dabei, das merkt die Autorin selbst an, seltener in den Blick als das Konfliktträchtige (S. 198). Damit sind Grundsatzfragen der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und der Frühneuzeitforschung im Speziellen angesprochen, und die Autorin hat in diesem Zusammenhang, obwohl sie ihrer Methode aus Dekonstruktion und Kombination hundertprozentig vertraut – das berühmte „gegen den Strich lesen“ darf natürlich nicht fehlen (S. 24) - den ein oder anderen leisen Zweifel in ihren Text eingebaut (S. 193f., 194f., 198).

Der zweite Punkt betrifft die Frage der Generalisierbarkeit und ist mit dem ersten Einwand verbunden. Unklar bleibt bei Fenske, inwieweit sich die ökonomischen Praktiken, die auf den Jahr- und Viehmärkten Usus waren, mit den Praktiken außerhalb der Marktwochen vergleichen lassen, oder ob man es mit grundsätzlich unterschiedlichen Sphären tun hat. In diesem Zusammenhang wäre auch einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, ob die Formel Profit plus soziale Einbettung auch außerhalb der Viehmärkte aufging. Die Autorin war sicher gut beraten, im Rahmen einer Dissertation das Thema Markt auf einen Ort und einen festen Zeitraum zu begrenzen statt sich ganz generell mit Markt als universalem Tauschprinzip zu beschäftigen. Dem Leser jedoch drängt sich die Frage nach der Generalisierbarkeit und Vergleichbarkeit der Ergebnisse auf.

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