G. Pfeifer u.a. (Hrsg.): Soziale Mobilität in der Vormoderne

Cover
Titel
Soziale Mobilität in der Vormoderne. Historische Perspektiven auf ein zeitloses Thema. Akten der internationalen Tagung Brixen, Bischöfliche Hofburg und Priesterseminar 11. bis 14. September 2019


Herausgeber
Pfeifer, Gustav; Andermann, Kurt
Reihe
Veröffentlichungen des südtiroler Landesarchivs / Publlicazioni dell'Archivio Provinciale di Bolzano (48)
Erschienen
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Nicolussi-Köhler, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Universität Innsbruck

Unter dem Titel Soziale Mobilität in der Vormoderne. Historische Perspektiven auf ein zeitloses Thema sind die um zwei Beiträge erweiterten Vorträge der gleichnamigen Brixner Tagung von 2019 erschienen. In 16 Beiträgen inklusive Einleitung und Bilanz der Tagung, die bis auf einen Beitrag allesamt in deutscher Sprache abgefasst sind, werden nach Grundsätzen der vergleichenden Landesgeschichte verschiedene Studien zur sozialen Mobilität präsentiert. An jeden Beitrag schließt ein Verzeichnis der verwendeten Literatur. Zahlreiche farbige Abbildungen sind den Texten beigefügt, die im Falle des kunsthistorischen Beitrags (Nadia Pichler) auf Glanzpapier und in entsprechender Auflösung wiedergegeben sind. Am Ende des Bandes befindet sich eine Kurzvorstellung der Autor:innen sowie ein umfangreiches Orts- und Personenregister, über das man die Inhalte schneller erschließen kann.

Leider ist es hier nicht möglich, die einzelnen lesenswerten Beiträge im Detail vorzustellen. Der geographische Schwerpunkt des Bandes liegt auf dem historischen Tirol (sieben Beiträge) sowie dem deutschen Südwesten (Württemberg, Schweiz) und Teilen des österreichischen Raumes (Herzogtümer Österreich und Steiermark), so dass eine Vergleichsebene durchwegs gegeben ist. Zeitlich erstrecken sich die Beiträge über die Vormoderne, das heißt vom Hochmittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Damit reiht sich dieser Band in eine Serie von aktuellen Arbeiten zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte ein, die sich mit längerfristigen Veränderungen bzw. dem Strukturwandel vormoderner Gesellschaften beschäftigen.1 Dass eine solche vergleichende Perspektive über mehrere Epochen lohnend sein kann, zeigt dieser Band.

Der weit gespannte zeitliche Rahmen findet seine Begründung dann auch in den Eröffnungsworten der von Thomas Ertl verfassten Einleitung, in der er zurecht betont, dass es in jeder Gesellschaft soziale Mobilität gibt (S. 9). Deren Erforschung stößt jedoch schnell auf methodische Probleme (S. 15–22), wie Thomas Ertl aufzeigen kann. So liegt der Fokus häufig einseitig auf einer männlichen Elite, die in Städten wohnte – ein Problem, das nicht selten der Überlieferung geschuldet ist. Die Mehrheit der historischen Bevölkerung wird dabei jedoch außer Acht gelassen. Auch gilt es von gut greifbaren und untersuchbaren Einzelfällen auf den dahinterliegenden Strukturwandel, etwa den sich vollziehenden wirtschaftlichen Wandel, zu stoßen. Dieser habe sich im Hintergrund abgespielt und sei bei Erklärungsversuchen häufig zu Unrecht in den Hintergrund gedrängt worden. In der Einleitung wird auch die Begrifflichkeit des Standes (status, ordo) kritisch betrachtet und stattdessen auf fließende Grenzen zwischen den verschiedenen sozioökonomischen Schichten verwiesen.2 Die Einleitung vermittelt gekonnt ein Problembewusstsein für die Schwierigkeiten, die mit der Erforschung sozialer Mobilität in der Vormoderne verbunden sind. Sie bietet darüber hinaus aber auch einen Lösungsansatz an, nämlich die Rückbindung der Fallstudien an die Strukturebene, um diese Einzelphänomene besser einordnen zu können.

Die inhaltliche Gliederung des Bandes folgt einer chronologischen Ordnung, die sich von dem Auf- und Abstieg hochmittelalterlicher Ministerialen bis zu den ökonomischen Gewinnern der ersten Industrialisierung in Südtirol des 19. Jahrhunderts erstreckt. Die ersten Beiträge von Roman Zehetmayer, Gustav Pfeifer, Peter Niederhäuser und Nina Gallion beschreiben die soziale Mobilität einzelner Familien im Hoch- und Spätmittelalter, welche den Aufstieg in die Nobilität geschafft haben. Dabei werden bestimmte Merkmale herausgearbeitet, welche als Indikatoren für den sozialen Aufstieg verwendet werden können (bspw. Herrschernähe, Konnubium, Ausübung von Ämtern, Grundbesitz, Beiwörter im Rahmen schriftlicher Anreden etc.). Von den Ursachen des Aufstiegs zu trennen ist jedoch die aktive soziale Selbstinszenierung. Darunter sind Handlungen zu verstehen, mithilfe derer bestimmte Personen sich in höhere gesellschaftliche Schichten zu integrieren suchten (Gustav Pfeifer). Es wird dafür plädiert, Ursachen und Folgen des Aufstiegs genau zu betrachten. Im Beitrag von Kurt Andermann werden Formen der dörflichen Oberschicht besprochen und danach gefragt, was deren sozialen Vorrang ausmacht. Die Ergebnisse sind gut nachvollziehbar und zeigen auf, dass es insbesondere hier noch viel Forschungspotential gibt.

Mehrere Beiträge widmen sich im weitesten Sinne „Sondergruppen“, sowohl im rechtlichen, sozialen als auch im ökonomischen Sinn. Dazu zählen die jüdischen Gemeinden im Reich (Markus J. Wenninger), Universitätsabsolventen (Rainer Christoph Schwinges) oder Bergwerksunternehmer (Armin Torggler). Der lesenswerte Beitrag von Markus Wenninger zeigt sehr klar, wie sich die soziale und rechtliche Stellung jüdischer Gemeinden im Mittelalter verschlechtert hat, und schafft es, eine langfristige Entwicklung abzubilden, die sich nur durch gute Kenntnis der Quellen eröffnet. Rainer Christoph Schwingesʼ Beitrag ist nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in methodischer Beziehung erwähnenswert, da er sich mit dem Faktor Humankapital der pauperes, also armer Universitätsbesucher, für den sozialen Aufstieg beschäftigt und dies anhand der Datenbank des Repertorium Academicum Germanicum mithilfe quantitativer Auswertungen macht.3 Anhand der Auswertung zigtausender erschlossener Biographien wird gezeigt, dass Bildung sehr wohl einen professionellen Aufstieg ermöglichte, aber nur in Ausnahmefällen einen sozialen.

Die Artikel von Andrea Bonoldi, Erika Kustatscher, Evi Pechlaner und Hans Heiss beschäftigen sich alle mit dem gut dokumentierten Aufstieg Südtiroler und Tiroler Familien (Wagner, Zenobio, Ingram, Hepperger, Amonn, Pretz) vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, mitunter sogar über acht Generationen (Erika Kustatscher). Die verschiedenen Werdegänge zeigen, welche Bedeutung die frühe Konsolidierung von Grundbesitz, Übernahme von Ämtern, Nobilitierung, aber auch Erbteilung und Heiratspolitik für den Aufstieg bestimmter Familien hatten. Positiv hervorzuheben ist die Tatsache, dass diese Fallstudien nicht nur Familien städtischer Provenienz behandeln, sondern sich auch mit solchen aus dem ländlichen Raum beschäftigen (Hans Heiss). Auch auf die zunehmende Bedeutung von Gewerbe- und Industrieunternehmungen, welche sich im Zuge der wirtschaftlichen Transformation ergeben haben, wird eingegangen. Dass die Erwerbstätigkeit immer auch Auswirkungen auf die soziale Hierarchie hatte, bestätigen diese Beispiele.

Der Beitrag von Nadia Pichler behandelt die Bedeutung der „Trinkstube“ von Bruneck, eines privaten Versammlungs- und Gesellschaftsortes, der 1526 mit Wandmalereien kunstvoll ausgeschmückt wurde, als Zeugnis sozialer Mobilität aus kunstgeschichtlicher Perspektive. Hier werden die Abbildungen als Kommunikationsmedium zwischen Mitgliedern einer exklusiven Gesellschaft analysiert, wenngleich viele Fragen bezüglich der tatsächlichen Nutzung offenbleiben müssen. Im hier zuletzt erwähnten Artikel von Michael Hochedlinger geht es um das Sozial- und Herkunftsprofil des Offizierskorps der kaiserlichen und k. k. Armee. In dem quellengesättigten Beitrag wird detailliert die soziale Zusammensetzung unterschiedlicher Truppenkontingente im 17. und 18. Jahrhundert untersucht. Mit 78 Seiten, 22 Unterkapiteln sowie teilweise sehr langen Exkursen zum Heerwesen findet man sich bei der Lektüre mitunter bei gänzlich anderen Themen wieder. Ein stärkerer Fokus auf die Kernfrage der sozialen Mobilität auf Kosten einiger Details zur Militärorganisation wäre hier wohl wünschenswert gewesen.

Das Buch schließt mit einer „Bilanz der Tagung“ von Oliver Auge. Er fasst hier noch einmal die wichtigen Ergebnisse konzise zusammen und gibt zusätzlich einen Ausblick für weitere Forschungsarbeiten zur sozialen Mobilität. Ein wichtiges Ergebnis ist die Erkenntnis, dass Studien zur Mobilität auf unterrepräsentierte Gruppen (Frauen, ärmere Bevölkerungsschichten) ausgedehnt werden sollen. Die Mehrheit der Beiträge in diesem Band beschäftigt sich zwar mit eben solchen Einzelstudien zu gut dokumentierten Familien, die häufig die Mobilität von Männern der städtischen Oberschicht umfassen (zu den Ausnahmen S. 409–411), allerdings werden eben dadurch Mechanismen und Strukturen deutlich, die erst ein vergleichender Blick ermöglicht. Auch wird an den vorgestellten Beispielen deutlich, dass die Untersuchung der sozialen Mobilität immer auch für das Verständnis größerer Entwicklungen (und umgekehrt) von Bedeutung ist und gerade für die vormoderne Epoche noch viel Forschungspotential aufweist. Der anregende Band zeigt mit seiner Fülle an Mikrostudien viele Fragen auf, die in Zukunft weiter zu untersuchen sehr lohnend erscheint.

Anmerkungen:
1 So etwa in dem 2019 erschienenen Themenheft der VSWG „Der städtische Rentenkauf – Urban Annuity Markets“, das vormoderne Kapitalmärkte vom 14. bis zum 18. Jahrhundert untersucht. Angela Huang, Einleitung, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 106,1 (2019), S. 1–6.
2 Vgl. dort auf S. 21 das Zitat von Kurt Andermann: „Allein die Kerne der jeweiligen Stände waren einigermaßen festgefügt, wohingegen die Ränder sowohl nach oben als auch unten zwar nicht gerade offen, aber doch durchlässig waren und einer beträchtlichen sozialen Dynamik viel Raum boten.“ Diese Feststellung wird in der Bilanz von Oliver Auge auf S. 408 nochmals betont.
3 <https://rag-online.org/> (14.09.2021).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension