Cover
Titel
Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren


Herausgeber
Hermle, Siegfried; Lepp, Claudia; Oelke, Harry
Reihe
Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen, 47
Erschienen
Göttingen 2007: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 68,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Pascal Eitler, Historisches Seminar, Universität Bielefeld

Lange Zeit kam die deutschsprachige Forschung zur Kirchen- und Religionsgeschichte über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nur selten hinaus; die Geschichte der Bundesrepublik jenseits der 1950er-Jahre geriet allenfalls am Rande in den Blick.1 Erst in jüngster Zeit beschäftigt sich die Forschung, einem allgemeinen Trend folgend, verstärkt mit den 1960er- und 1970er-Jahren.2 Sie widmet sich damit, so der Tenor, den Kirchen und der Religion in einer Zeit zunehmender ‚Säkularisierung’. Auch der vorliegende Sammelband, der auf eine Tagung der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von 2005 zurückgeht, nimmt diese ‚Umbruchphase’ in den Fokus und rückt dabei erstmals das Verhältnis des Protestantismus zu den Sozialen Bewegungen um 1968 ins Zentrum des Interesses. Der Band enthält insgesamt 16 Beiträge, die in drei Sektionen gegliedert sind: „Historischer Rahmen und methodische Grundlagen“, „Institutionen und Personen“ sowie „Strukturen und Frömmigkeitsformen“.

Nach der Einleitung von Harry Oelke eröffnet Hugh McLeod den Band mit einem facettenreichen Überblick zur westeuropäischen Kirchen- und Religionsgeschichte der ‚langen’ 1960er-Jahre. Er charakterisiert diese als „a hinge decade“ zwischen den ‚kirchentreuen’ 1950er- und den ‚pluralistischen’ 1970er- und 1980er-Jahren. Angesichts der Studentenbewegung, der Frauenbewegung, der ‚sexuellen Revolution’ und der ausufernden ‚Säkularisierung’ betont er zutreffend, „that Christianity remained an essential reference point even for those who were reacting against it“ (S. 36f.). Wolf-Dieter Hauschild bietet anschließend eine breite und thesenfreudige Skizze zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Bundesrepublik der 1960er- und 1970er-Jahre. Skeptisch steht er in diesem Zusammenhang vor allem der Relevanz von ‚1968’ und den Politisierungsprozessen zwischen 1965 und 1975 gegenüber. In sozialgeschichtlicher Hinsicht spricht Hauschild in diesem Kontext von lediglich „marginalen Veränderungen“ an den vermeintlichen „Rändern der Volkskirche“ (S. 58f.). Im Sinne McLeods und in kulturgeschichtlicher Perspektive gilt es jedoch daran zu erinnern, dass die Politisierung der Religion als Gegenstand einer überaus breiten öffentlichen Debatte auch jene betraf und bewegte, die sich gegen sie wandten.

Nach einer kurzen Einführung von Dieter Rucht in die Soziale Bewegungsforschung widmet sich Angela Hager dem Verhältnis des Protestantismus zur Studentenbewegung. Hager macht zu Recht darauf aufmerksam, dass es in dieser Hinsicht nicht nur zwischen unterschiedlichen Fraktionen auf Seiten des Protestantismus, sondern auch innerhalb der Studentenbewegung stark zu differenzieren gilt. Zwar weist Hager erwartungsgemäß auf den religiösen Hintergrund Rudi Dutschkes hin, betont aber auch, dass diesem öffentlich keinerlei Bedeutung zukam. Fernab der protestantischen und katholischen Studentengemeinden zogen studentische Publikationen und Proteste um 1968 kaum Bezüge zu den Kirchen oder zur Religion – geschweige denn wohlwollende. Die scharfe Kritik an den Kirchen und an der Religion innerhalb der Studentenbewegung kommt im vorliegenden Sammelband leider zu kurz.

Claudia Lepp widmet sich in ihrem Beitrag über Helmut Gollwitzer einem der zentralen Akteure im Verhältnis des Protestantismus zu den Sozialen Bewegungen um 1968. Vollauf überzeugend rückt sie dabei insbesondere das Problem der ‚revolutionären Gewalt’ in den Fokus – das in mancherlei Hinsicht die Achillesferse eines möglichen ‚Dialogs’ darstellte. „Durch eine Übertragung der Kriterien des bellum iustum auf die revolutio iusta“, so Lepp, löste Gollwitzer dieses Problem und wurde dadurch zu einem gewichtigen Bezugspunkt – unter anderem für Rudi Dutschke (S. 233). Eine kaum weniger einflussreiche Vermittlungsgröße betrachtet die Studie von Peter Cornehl über Dorothee Sölle und das ‚Politische Nachtgebet’ in Köln zwischen 1968 und 1972. Ein wenig zugespitzt kennzeichnet Cornehl dieses als den „gottesdienstlichen Beitrag“ der Kirchen zur Studentenbewegung (S. 265). Er betont dabei zu Recht den „überkonfessionellen“ Charakter dieser Veranstaltung und legt damit den Finger in die Wunde: Die deutschsprachige Kirchen- und Religionsgeschichtsschreibung sollte sich spätestens im Fall der ‚langen’ 1960er-Jahre von einem konfessionsgeschichtlich einengenden Zugriff verabschieden. Dass die Kirchen- und Religionsgeschichtsforschung noch zu wenig Anschluss gefunden hat an erkenntnisfördernde Deutungsangebote der ‚Allgemeingeschichte’, zeigt auch der – durchaus informative – Beitrag von Simone Mantei zur ‚sexuellen Revolution’. Die sexualitätsgeschichtlichen Veränderungsprozesse als „Emanzipationsbewegung“ zu kennzeichnen, ohne diese Prozesse körpergeschichtlich auf ihre disziplinierenden und normalisierenden Effekte hin zu befragen, reproduziert lediglich zeitgenössische Deutungsmuster (S. 173).

Einen sehr interessanten Überblick zur Bedeutung der Entdeckung bzw. Erfindung der ‚Dritten Welt’ für den Protestantismus bieten demgegenüber die Aufsätze von Reinhard Frieling und Roland Spliesgart. Frieling konzentriert sich dabei auf die „ausgeprägte Extrovertiertheit“ der Evangelischen Kirche im Zusammenhang der Weltkirchenkonferenz von 1968 in Uppsala (S. 179). Spliesgart unterzieht anschließend die Begriffsgeschichte der ‚Dritten Welt’, die Rolle der so genannten Dependenztheorie und die Konflikte der lateinamerikanischen Befreiungstheologie im Verhältnis zur Politischen Theologie westeuropäischer Provenienz einer vielschichtigen Betrachtung.

Viel zu knapp geraten ist hingegen die Skizze von Norbert Friedrich über Helmut Thielicke als „Antipode“ der Studentenbewegung. Sehr gelungen wiederum ist der Beitrag von Siegfried Hermle zu den Evangelikalen als einer konservativen „Gegenbewegung“ um 1968. Die sich im Fall der Bundesrepublik Mitte der 1960er-Jahre konstituierenden Evangelikalen sahen sich selbst in der Tradition der Bekennenden Kirche und lehnten jedwede Form der Politisierung der Religion grundsätzlich ab – unter Verweis auf angebliche Parallelen zu den ‚Deutschen Christen’ nach 1933.

In einer weiteren interessanten Untersuchung beschäftigt sich Peter Bubmann mit den einschneidenden Veränderungen innerhalb der evangelischen Kirchenmusik, die in den 1960er-Jahren langsam einsetzten, um in den 1980er- und 1990er-Jahren schließlich zunehmende Breitenwirksamkeit zu entfalten – von Rock über Jazz bis Sacropop. Ganz im Sinne des vorliegenden Sammelbandes rekonstruiert Bubmann diese als „Symbol der Sehnsucht nach einer anderen Kirche“ (S. 315). Auf dem Gebiet der Symbolgeschichte hätte es sich gelohnt, weiter zu forschen.

Die von Siegfried Hermle, Claudia Lepp und Harry Oelke versammelten Aufsätze dokumentieren, dass die deutschsprachige Kirchen- und Religionsgeschichtsschreibung endlich in den 1960er- und 1970er-Jahren angekommen ist. Der Band bietet eine beeindruckende Themenvielfalt und zeigt, wie fruchtbar eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der ‚Allgemeingeschichte’ ist – für beide Seiten und nicht nur im Fall der Sozialen Bewegungen um 1968. Indes: Ein weniger konfessionsgeschichtlich einengender Zugriff könnte nicht nur vergleichbare Entwicklungen innerhalb des Katholizismus aufzeigen. Er würde insbesondere dazu beitragen, die überaus fragwürdige Unterscheidung von vermeintlicher Sakral- und so genannter Profangeschichte ad acta zu legen, um den geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext der ‚Umbruchphase’ der ‚langen’ 1960er-Jahre noch umfassender und eingehender in den Blick nehmen zu können. Ob sich diese ‚Umbruchphase’ angesichts der aufgezeigten und zweifelsohne noch erweiterungsfähigen Themenvielfalt erkenntnisfördernd als eine Zeit fortschreitender ‚Säkularisierung’ begreifen lässt, erscheint dabei zunehmend fragwürdig.

Anmerkungen:
1 Wichtige Ausnahmen: Damberg, Wilhelm, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945–1980, Paderborn 1997; Großbölting, Thomas, „Wie ist Christsein heute möglich?“ Suchbewegungen des nachkonziliaren Katholizismus im Spiegel des Freckenhorster Kreises, Altenberge 1997.
2 Siehe insbesondere: Schmidtmann, Christian, Katholische Studierende 1945–1973. Eine Studie zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn 2006; Ziemann, Benjamin, Katholische Kirche und Sozialwissenschaften 1945–1975, Göttingen 2007.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch