J. Böhler u.a. (Hrsg.): In the Shadow of the Great War

Cover
Titel
In the Shadow of the Great War. Physical Violence in East-Central Europe, 1917–1923


Herausgeber
Böhler, Jochen; Konrád, Ota; Kučera, Rudolf
Erschienen
New York 2021: Berghahn Books
Anzahl Seiten
VI, 199 S.
Preis
$ 130.00; £ 96.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthäus Wehowski, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, Dresden

Der Erste Weltkrieg war in ganz Europa mit bis dahin ungeahnten Gewalterfahrungen verbunden und hinterließ Millionen von Toten, Verwundeten und Traumatisierten. Doch während im November 1918 an den westlichen Kriegsschauplätzen die Waffen schwiegen, dauerten die Kämpfe im Osten an. Der Zerfall der bestehenden staatlichen Ordnungen und die Konflikte zwischen den rivalisierenden Nationalbewegungen und Ideologien mündeten dort in eine unmittelbare Kontinuität der Gewalt. Spätestens seit Robert Gerwarth1 steht dieser unbeendete Krieg in Ostmitteleuropa im Fokus der historischen Forschung. Der vorliegende Sammelband möchte an verschiedenen Fallbeispielen darlegen, warum Ostmitteleuropa sich zu einem solchen „Gewaltraum“ entwickelte. Der untersuchte Zeitraum reicht dabei von der Spätphase des Krieges 1917 bis zur endgültigen Festlegung der neuen Staatsgrenzen im Jahr 1923. Die Autorinnen und Autoren präsentieren ein breit gefächertes Panorama verschiedener Formen, Ursachen, Akteure und Diskurse von und über Gewalt, das vom Baltikum über die Ukraine, Ungarn, Polen (Oberschlesien) und die Tschechoslowakei bis nach Rumänien reicht.

Zunächst fassen die drei Herausgeber in ihrer kurzen Einleitung den Forschungsstand über die Kontinuität der Gewalt in Ostmitteleuropa zusammen. Dabei konstatieren sie den Bedeutungsgewinn, den dieses Thema in den letzten Jahren erlebt hat. Dass die Gewalterfahrungen Ostmitteleuropas zwischen 1917 und 1923 inzwischen gegenüber den paradigmatischen Schützengräben der Westfront stärkere Beachtung finden, sei auch der intensiveren Vernetzung von Forscherinnen und Forschern aus Ostmitteleuropa zu verdanken. Diese wird nicht zuletzt durch den vorliegenden Band illustriert.

Die ersten beiden Aufsätze von Mathias Voigtmann und Christopher Gilley bearbeiten das Thema der Gewalt zunächst auf eine eher „konventionelle“ Art und Weise, nämlich mit Blick auf die Täter (es handelt sich ausschließlich um Männer) und deren Motivation. Während Voigtmann sich mit den „Freikorps“ im Baltikum auseinandersetzt, beschäftigt sich Gilley mit den ukrainischen Gewaltakteuren, die sich am besten als „Warlords“ beschreiben lassen. Obwohl beide Autoren bekannte Themen aufgreifen, bringen sie neue und wichtige Aspekte ein. So analysiert Voigtmann ausführlich die Gewaltspirale, welche die deutschen Freikorps im Baltikum zu immer grausameren Gewaltakten veranlasste. Er sieht darin eine Mischung aus Gruppendynamik, (antibolschewistischer) Ideologie, Männlichkeitskult, fehlenden Kontrollmechanismen und oftmals auch schlicht ökonomischen Motiven am Werk. Aus den „zu kurz gekommenen“ Rekruten der deutschen Freikorps, die nicht mehr an den Kämpfen der Westfront teilnehmen konnten, entwickelten sich rasch enthemmte „Gewaltgemeinschaften“, die der lettischen Zivilbevölkerung plündernd, mordend und vergewaltigend gegenübertraten. Vergleichend dazu greift auch Gilley die Frage auf, wie etwa aus ukrainischen Dorfschullehrern in kurzer Zeit brutale „Warlords“ mit eigenen kleinen Armeen werden konnten. Eigentümlich war dabei die „karnevaleske“ Inszenierung von Gewalt, denn die Bandenführer traten gerne in (pseudo)historischen Trachten auf und präsentierten sich als Wiedergänger der frühneuzeitlichen Kosaken. Eine wichtige Quellengrundlage des Beitrags bilden die von diesen Warlords selbst produzierten und verbreiteten Zeitungen und Pamphlete, in denen besonders die jüdische Zivilbevölkerung als vermeintlicher Träger eines „jüdischen Bolschewismus“ ins Fadenkreuz geriet. Die Opfer der Gewalt kommen in beiden Aufsätzen freilich kaum zu Wort.

Béla Bodó und Emily R. Gioletti stellen in ihren Aufsätzen zu Ungarn dagegen die Opfer sexualisierter Gewalt in den Mittelpunkt. Bodó widmet sich zum einen dem Überfall ungarischer Milizen auf das von Juden bewohnte Dorf Diszel und zum anderen dem berüchtigten Fall der jüdischen Familie Hamburger aus Kelenföld. Die Stärke dieses Beitrags liegt in der breiten Einbettung in die soziologische Literatur zum Verhältnis von Geschlecht und Gewalt während des Ersten Weltkriegs. Das Spannungsfeld zwischen veränderten Sexualnormen und einer Wiederkehr traditioneller Vorstellungen am Kriegsende, insbesondere die Vorstellung einer vermeintlich „triebhaften“ Sexualität jüdischer Frauen, bildete den Hintergrund für (selbst bei heutiger Lektüre) erschütternde Grausamkeiten gegenüber Frau Sándor Hamburger. Basierend auf dem Bericht von Frau Hamburger, die ihre Erfahrungen ausführlich einer Delegation der britischen Labour-Party zu Protokoll gab, präsentiert Bodó auf beeindruckende Art und Weise das komplexe Verhältnis zwischen Tätern und Opfern. Emily Gioletti schließt hier direkt an, indem sie die internationale Wirkung des von der britischen Delegation verbreiteten Berichts in den Blick nimmt. Die Schockwirkung dieses grausamen Falls beschäftigte besonders die Arbeiterparteien in ganz Europa. Liest man beide Aufsätze nacheinander, zeigt sich jedoch ein Problem des Sammelbands, das durch eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Autoren hätte vermieden werden können: Erzählerische und analytische Redundanzen mindern den ansonsten hervorragenden Eindruck der beiden Texte von Bodó und Gioletti.

Winson Chu beschäftigt sich wie Gioletti mit der medialen Aufarbeitung von Gewalt, konzentriert sich aber auf das Beispiel Joseph Roths, der als Berichterstatter für die linksliberale deutsche Presse in Polen tätig war. Roth, der selbst dem politisch linken Spektrum angehörte, zeigte Sympathien für die 1920 heranrückenden Bolschewiki, wohingegen er den polnischen Staat als unzivilisiert und chaotisch darstellte. Bei den Kämpfen um Oberschlesien betonte Roth folglich die deutschen Ansprüche auf die Provinz. Chu zeigt sich überrascht von den Sympathien Roths für die Bolschewiki, die der Autor jenseits des publizistischen Mainstreams in Deutschland verortet. Dies mag für viele Zeitungen aus dem Zentrum des Reichs stimmen, trifft jedoch nicht auf die regionale Presse Ober- und Niederschlesiens zu. Dort waren, gerade auch auf Seiten der Sozialdemokraten, Sympathien für die Rote Armee und Hoffnungen auf eine erneute Aufteilung Polens zwischen Deutschland und Russland durchaus verbreitet. Es ist etwas schade, dass dieser Kontext bei Chu unberücksichtigt bleibt. Ansonsten bietet er einen spannenden Einblick in die – für heutige Leser überraschende – Sicht eines bekannten Schriftstellers wie Roth auf die Gewaltkonflikte in Polen und dessen Grenzregionen.

Dass Gewaltakteure und deren Taten nicht unbedingt dem gängigen Bild bewaffneter Kämpfer entsprachen, schildern eindrucksvoll Hannes Leidinger und Maciej Górny. Leidinger thematisiert Motive und Diskurse des Selbstmords als Gewaltakt gegen die eigene Person. Sein Beitrag spannt den Bogen von der melancholischen Selbsttötung als persönlichem Drama während des „Fin de siècle“ über das Opfer für das Vaterland während des Krieges bis zur Epidemie der Selbsttötung nach dem Zerfall der Imperien. Leidinger bindet diese Entwicklung in die zeitgenössischen Diskurse der Psychiatrie und Psychotherapie ein, deren bekanntester Vertreter Sigmund Freud war. Die von ihm angeführten Statistiken hätten allerdings durch Fallbeispiele ergänzt werden können, um dem Text mehr narrative Stärke zu verleihen. Górny wendet sich Experten für psychische Krankheiten an der Front und deren fragwürdigen und oftmals gewalttätigen Methoden (wie Elektroschocks) zu. Er beschreibt anschaulich, wie sich die Nationalität und Herkunft der Soldaten im österreich-ungarischen Heer auf deren Therapierung auswirkte. Bei den Gewaltakteuren im „weißen Kittel“ kam es, genau wie bei den bewaffneten Milizen, zu einer brutalen Enthemmung, die sich besonders gegenüber tschechischen, polnischen und ruthenischen Soldaten zeigte.

Die letzten beiden Texte von Ondřej Matĕjka und Cătălin Perfene wählen eine eher ungewöhnliche Perspektive auf die Geschichte der Gewalt: den Sport. Matĕjka beleuchtet die Rolle des amerikanischen YMCA (Young Men’s Christian Association) in der Tschechoslowakei, der junge Männer im Geiste des „erweckten“ Christentums amerikanischer Prägung und der Demokratisierung disziplinieren und formen sollte. Dabei deckt er Widersprüche in den Zielen des YMCA auf, der einerseits mit Sport und (christlich-demokratischer) Gemeinschaft die gewalttätigen „Triebe“ der jungen Männer einhegen, sie andererseits aber auch auf einen künftigen Krieg gegen den Bolschewismus oder die feindseligen Nachbarländer vorbereiten wollte. Matĕjka thematisiert somit nicht nur wichtige Aspekte der (Anti-)Gewaltgeschichte, sondern auch des Demokratisierungsdiskurses. Cătălin Perfene richtet ihr Augenmerk dagegen auf den rumänischen Fußball, der während der Zwischenkriegszeit als Symbol eines friedlichen und multikulturellen Rumäniens dienen sollte. In der Nationalmannschaft des neuen „Großrumäniens“ waren besonders viele Ungarn und Deutsche aus Siebenbürgen und dem Banat vertreten. Der rumänische König selbst inszenierte sich als (symbolischer) Cheftrainer der Nationalmannschaft, die jeder Bevölkerungsgruppe des vergrößerten rumänischen Staats ihren Platz verschaffen sollte. Dennoch begann ab 1922 eine Welle des rumänischen Nationalismus, die sich bald gegen die multinationale Mannschaft richtete. Perfene bietet einen lesenswerten Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen des Sports bei der Eindämmung von Gewaltkonflikten.

Den Abschluss des Bands bildet ein zusammenfassender Artikel von Boris Barth, der die Beiträge noch einmal im Kontext der aktuellen Forschung resümiert. Insgesamt bietet der Band ein breites Panorama zur Gewaltgeschichte in Ostmitteleuropa. Die einzelnen Aufsätze sind thematisch vielfältig und bieten eine ausgezeichnete Synthese aus vielsprachigen Quellen, Forschungsliteratur und Theorie. Bedauerlich ist einzig die mangelnde Verknüpfung zwischen den Einzelbeiträgen. So kommt es stellenweise zu Redundanzen, und Verbindungen zwischen den Beiträgen bleiben meist unausgesprochen. Dies trübt den hervorragenden Gesamteindruck dieses Bandes allerdings kaum.

Anmerkung:
1 Robert Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017, rezensiert für H-Soz-Kult von Jochen Böhler, 26.04.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-24182 (16.10.2021).

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