J. Schlör: Im Herzen immer ein Berliner. Jüdische Emigranten im Dialog mit ihrer Heimatstadt

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Titel
Im Herzen immer ein Berliner. Jüdische Emigranten im Dialog mit ihrer Heimatstadt


Autor(en)
Schlör, Joachim
Erschienen
Anzahl Seiten
208 Seiten, 89 Abb.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irmela von der Lühe, Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg

Als Hauptstadt des Deutschen Reiches seit 1871, als Metropole der gesellschaftlichen und kulturellen Moderne in der Weimarer Republik und schließlich als bürokratisches und exekutives Zentrum eines unvordenklichen Verfolgungs- und Vernichtungsgeschehens hat Berlin im kulturellen Gedächtnis einen singulären Status. Es kann daher nicht überraschen, dass kulturgeschichtliche Forschungen zu Erinnerungslandschaften und Gedächtnisorten, wie sie sich im Anschluss an Maurice Halbwachs, Pierre Nora und Étienne François / Hagen Schulze entwickelt haben, Kontinuitäten und Brüchen in der Erinnerung an Berlin besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Und ebenso wenig überrascht es, dass autobiographische und literarische Zeugnisse über das Berlin der Weimarer Republik und der ersten Jahre des Nationalsozialismus aus der Perspektive eines unwiederbringlichen Verlusts und einer irreparablen Zerstörung verfasst und erforscht wurden. In welchem Umfang und Ausmaß dies insbesondere für das jüdische Berlin und für die vom nationalsozialistischen Regime verfolgten und vertriebenen Berliner Jüdinnen und Juden gilt und welche gleichwohl fortdauernden Bindungen an das Berlin der 1920er- und 1930er-Jahre bei jüdischen Emigranten und Emigrantinnen bestehen, darüber informiert ebenso anschaulich wie vorsichtig abstrahierend das nun vorliegende Buch von Joachim Schlör.

Nach Anlage und Ausstattung handelt es sich um einen bibliophilen Text-Bild-Band, der in drei großen Abschnitten einen nach Entstehung und Inhalt ganz besonderen Materialbestand zugänglich macht. Den Kern des gleichsam als Album gestalteten Bandes bilden die im Archiv des Berliner Centrum Judaicum verwahrten Korrespondenzen zwischen den Autoren und Autorinnen des 1995 erschienenen „Gedenkbuchs Berlins für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“ und emigrierten Berliner Jüdinnen und Juden (S. 42–158). Darüber hinaus hat der Verfasser die in der Akademie der Künste und im Jüdischen Museum Berlin archivierte Korrespondenz mit ehemaligen Mitgliedern des Jüdischen Kulturbundes (1933–1941) eingesehen, die aus Anlass der 1992 organisierten Ausstellung zum Kulturbund entstand (S.159–165). Und schließlich präsentiert Joachim Schlör Auszüge aus Briefen von ehemaligen Berlinerinnen und Berlinern, die im Rahmen des seit 1969 aufgelegten Besuchsprogramms des Berliner Senats ihre Heimatstadt besuchten und den zuständigen Stellen Dank aussprechen, zugleich aber Erinnerungen, Eindrücke und Empfindungen mitteilten (S. 166–174).

Als Kulturhistoriker, der mit Anthologien, Büchern und Aufsätzen zum Gesamtkomplex „Juden und Urbanität“ bekannt geworden ist1, will der Verfasser das von ihm hier erstmals präsentierte Material aus der Perspektive einer „culture of memory“ und nicht der gängigen „politics of memory“ (S. 9) lesen. Die Briefe, mit denen „ehemalige Berliner“, Jüdinnen und Juden aus Israel und Australien, Kanada und Amerika, Südafrika und Argentinien zwischen 1991 und 1995, also nach Mauerfall und Wiedervereinigung und im Horizont von Rostock und Hoyerswerda, auf die Bitte der Berliner Arbeitsgruppe am „Gedenkbuch Berlins der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus“ reagierten, zeugen in der Sicht des Verfassers von einem ganz eigenen Netzwerk. Sie konstituieren einen „Zwischenraum“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart (S. 18) und – so die ein wenig forcierte Formulierung – sie belegen, dass „die berlinische Existenz in der Emigration Teil einer transnationalen Erfahrung“ (S. 35) wurde. Man liest mit wachsender Spannung und nicht selten Beklemmung „in Stichworten Einzelheiten über meine Familie“ (S. 42), lernt aus einer archivalischen Sammlung ein „Alphabet der Erinnerungen“ (ebd.) kennen, das in lakonisch-präziser Aufzählung von Verwandten, Nachbarn und Freunden berichtet, die ebenfalls emigrieren mussten. Lesend und nachdenkend erhält man ein Panorama des jüdischen Berlin der 1920er- und frühen 1930er-Jahre, dessen Entstehung sich der neuerdings gern als „provinziell“ – wenn nicht gleich als neuer deutscher „Katechismus“ – diskreditierten Erinnerungskultur im wiedervereinigten Deutschland verdankt.

Würde es an Argumenten zur Begründung und fortdauernden Notwendigkeit solcher textuellen Gedenk-Initiativen mangeln, ein Blick in den so schön gestalteten Band könnte sie liefern. Das „Gedenkbuch“, dessen vorbereitende und begleitende Korrespondenz man – ergänzt um Faksimiles, Fotos (Abraham Pisarek) und Reproduktionen künstlerischer Arbeiten (David Friedmann) – nunmehr nachlesen kann, war und ist einem Ethos des Eingedenkens verpflichtet, das emigrierte Berliner Juden und Jüdinnen gerade nicht als „Objekte“, als traumatisierte Opfer, sondern als Angehörige und Repräsentanten eines dialogischen, aktiven Erinnerungsdiskurses versteht. Es überrascht daher nicht, dass Joachim Schlör in den überwiegend lakonisch, manchmal aber fast lyrisch-poetisch anmutenden Texten eine Gefühlsbindung wahrnimmt, die nachgerade zu einem Leitmotiv wird. Geht es doch um durch „Bilder“ evozierte Empfindungen, um „Berlin-Gefühle“ (S. 20): um Erinnerungen an Kindheit und Jugend, an Bezirke, Straßen und Plätze Berlins; an Orte, wo man zuhause war und vertrieben wurde. Trotz der erlebten Schrecken, trotz unter entwürdigenden Bedingungen erzwungener Emigration und eines inzwischen jahrzehntelangen Lebens an anderem Orte blieb die Bindung an Berlin eng. Davon zeugen die häufig zitierten Liedzeilen („Ich hab‘ noch einen Koffer in Berlin“), die gern erwähnte „Berliner Luft, Luft, Luft“, aber auch saloppe Selbstbeschreibungen wie: „Die Unterzeichnete: Rachel Ron aus Haifa-Israel. Bin eine geb. Rachel Baer. Geb. im Jahre 1921 zu Berlin, Charlottenburg. Ein waschechtes Berliner Kindl“ (S. 131).

Einen ganz eigenen „Brief an die Stadt“ (S. 77ff.) schrieb im März 1987 aus São Paulo Ernest G. Growald, der mit den Worten beginnt: „Liebes Berlin. An 1. Stelle möchte ich Dir herzlich zu Deinem 750. Geburtstag gratulieren und Dir alles Gute wuenschen […] Berlin: In Wahrheit hast Du meinen jungen Eltern und sehr vielen meiner Angehoerigen ein unheimliches Unrecht angetan; wie kann ich Dir je verzeihen?“ (S. 40) Tatsächlich belegen solche und ähnliche Mitteilungen, dass die durch die Senatsinitiative angeschriebenen „ehemaligen Berliner“ ähnlich wie die am „Gedenkbuch“ mitwirkenden emigrierten Jüdinnen und Juden aus diesem Anlass in einen „Dialog mit ihrer verlorenen Heimatstadt“ (S. 85) eintraten; einen Dialog freilich, der die traumatische Erfahrung von Verlust und Verfolgung zur Grundlage hat und zum Thema macht; und dem es gerade nicht darum geht, eine wohlfeile „Aufarbeitung“ zu ermöglichen oder wohl gar „Wunden zu heilen“. Die „Berlinophilie“ (S. 93), die aus vielen Briefen spricht, ist eben nicht ungebrochen; sie modisch als „ambivalent“ zu charakterisieren, kommt einer sentimentalisierenden Verharmlosung gleich. Eher trifft, was der Verfasser zu Beginn aus Anlass von Walter Benjamins „Berliner Kindheit“ zitiert: Die mangelnde Resonanz auf dieses Buch hat Theodor W. Adorno mit dem „Traumatischen [erklärt], das hierzulande sich geltend macht, sobald der Name Berlin fällt“ (S. 7).

Gerade weil das „Material“ des Bandes im Grunde für sich spricht, weil seine Entstehung und Bedeutung im Grunde keine – schon gar keine theoretischen – Rätsel aufgibt, erstaunen die häufig eingestreuten Selbst-Kommentierungen des Verfassers. Dass er sein durchweg verdienstvolles und plausibles Anliegen noch eigens als „Kulturhistoriker“ begründet und zugleich betont, die von ihm zusammengetragenen „Menschengeschichten“(S. 130) sollten „nebeneinander stehen“ (S.101), leuchtet völlig ein; unbedingt überzeugend und für eine im engeren Sinne „wissenschaftliche“ Kontextualisierung der Texte hilfreich ist selbstverständlich auch der durchgängige und in den Anmerkungen präzise ausgewiesene Bezug auf die einschlägige Forschung; irritierend freilich sind persönliche Äußerungen als Autor und Forscher; wenn er z.B. Leserinnen und Leser mit der Frage konfrontiert: „Warum sammeln wir diese Geschichten“ (S. 67) oder an anderer Stelle bekundet „Ich will gerade in diesem Kapitel nicht theoretisieren“ (S. 55). Im ersten Falle beantwortet sich die Frage durch Lektüre der von Joachim Schlör bereitgestellten Briefe von allein; im zweiten Falle beginnt eine umständliche und der Analyse der Briefe nicht eben förderliche Reflexion unterschiedlicher erinnerungstheoretischer „Ansätze“. Solche Konzessionen an den „Forschungsstand“ irritieren vor allem am Schluss, wenn er sich kritisch gegen die neuere emotionsgeschichtliche Antisemitismusforschung (von Stefanie Schüler-Springorum und Uffa Jensen) wendet.2 Diese hat aus guten Gründen und mit überzeugenden Ergebnissen nach den kollektiv-affektiven Dimensionen des Judenhasses gefragt. Das Erkenntnisinteresse und die Ergebnisse des vorliegenden Bandes konzentrieren sich hingegen auf „Berlin-Gefühle“, die einem aus besonderem Anlass entstandenen Korpus von persönlichen Briefen abzulesen sind. Sie aufmerksam und kenntnisreich aus ihrem Kontext heraus zu verstehen, hauptsächlich aber als Stimme der emigrierten Berliner Jüdinnen und Juden zur Geltung kommen zu lassen, ist das große Verdienst von Joachim Schlör.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Joachim Schlör, Endlich im Gelobten Land? Deutsche Juden unterwegs in eine neue Heimat. Berlin 2003; ders., Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität 1822–1938, Göttingen 2015.
2 Vgl. Uffa Jensen / Stefanie Schüler-Springorum, Gefühle gegen Juden. Die Emotionsgeschichte des modernen Antisemitismus, in: Geschichte und Gesellschaft 39 (2013), S. 527–554.

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