S. Barton u.a. (Hrsg.): Beyond the Reconquista

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Titel
Beyond the Reconquista. New Directions in the History of Medieval Iberia (711–1085)


Herausgeber
Barton, Simon; Portass, Robert
Reihe
The Medieval and Early Modern Iberian World
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 289 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Engel, Akademie der Wissenschaften zu Göttingen

Reconquista kann als eines der kräftigsten Reizwörter der historischen Iberienforschung gelten. Wer sich des spätestens seit den 1970er-Jahren in Frage gestellten Begriffes bedient, sei es auch differenzierend oder gar ablehnend, kann auf ein starkes Interesse des wissenschaftlichen und des historisch interessierten Laienpublikums hoffen.1

Der vorliegende, aus einer Einleitung und acht Kapiteln bestehende Aufsatzband geht zurück auf einen „one-day workshop“ (S. 1), den der 2017 verstorbene Historiker Simon Barton 2013 an der Universität Exeter veranstaltete. Zusammen mit Robert Portass wollte Barton die Beiträge, angereichert um Aufsätze weiterer US-amerikanischer, spanischer und britischer Forscher, veröffentlichen. Nach seinem Tod hat Portass die herausgeberische Aufgabe zum Ende geführt. Verständlicherweise hat das Buch in manchem den Charakter einer Gedenkschrift für Simon Barton angenommen. Einleitend benennt Portass eine wohlabgewogene Zielsetzung für den Band (S. 5): „[...] those seeking new paradigms with which to explain the history of medieval Spain will not find them here; this volume aims, rather more modestly, to consider whether the notion of Reconquest in any way continues to shape our understanding of the specific contexts in which the peoples of medieval Iberia went about their lives.“ Dieses Ziel dürfte der Band alles in allem erreicht haben.

Schon Portass’ Einleitung wirft allerdings einige Fragen zur Konzeption dieses Buchprojektes auf: Warum haben Barton und er ausschließlich englisch- und spanischsprachige Fachgenossen zur Mitwirkung eingeladen? Zum gewählten Thema sollten doch beispielsweise auch französische, portugiesische und deutschsprachige Wissenschaftler etwas zu sagen haben.2 Und ist die Eroberung Toledos 1085, so bedeutsam sie für den weiteren Gang der Ereignisse auch war (vgl. S. 8), wirklich als Endpunkt der gewählten Untersuchungszeit geeignet? Die Phase der sogenannten Großen Reconquista mit der weitgehenden Eroberung Andalusiens im 13. Jahrhundert wäre für den Geschmack des Rezensenten zumindest einen Ausblick oder längeren Exkurs wert gewesen. Auch die Gliederung des Bandes in die mit durchaus einprägsamen, aber auch etwas beliebigen Überschriften versehenen Großabschnitte „Hispania Old and New“ (Teil 1), „Hispania Real and Imagined“ (Teil 2) und „Writing, Remembering, Representing“ (Teil 3) vermag trotz der Erklärungsversuche des Herausgebers (S. 10f.) nicht recht zu überzeugen. Das wird bei näherer Betrachtung der einzelnen Beiträge deutlich.

Einen ausgesprochen temperamentvollen Auftakt markiert der Essay von Julio Escalona und Iñaki Martín Viso über die vermeintliche Entvölkerung und Wiederbesiedlung des Duerobeckens (S. 21–51). Bekanntlich ist die von Claudio Sánchez-Albornoz' (†1984) vorgetragene Deutung der Siedlungsgeschichte dieser Region als despoblación und repoblación3 auch zu Lebzeiten des großen Historikers und Politikers durchaus nicht unwidersprochen geblieben. Das hält Escalona und Martín Viso aber nicht davon ab, ihrerseits einen schriftstellerischen Feldzug gegen dieses längst als problematisch erkannte Paradigma zu führen. Der polemische Grundton ist schon mit dem Aufsatztitel vorgegeben: „The Life and Death of an Historiographical Folly [...]“ (S. 21). Die markigen Zwischenüberschriften „The End Begins“ (S. 36), „Zombification“ (S. 39) und „The Final Curtain“ (S. 44) sind konsequente Schritte auf dem Weg zum Zielpunkt des Aufsatzes: „But it is now the moment to lay to rest, with full funerary honours, the long deceased notions of depopulation, repopulation and, ultimately, Reconquista, which have long distorted our understanding of Iberia’s medieval past.“ (S. 45) Auch der etwas gönnerhafte Unterton, mit dem die beiden Autoren über die außerspanische Iberienforschung urteilen (vor allem S. 44f.), irritiert. So relevant es sicherlich ist, die politisch-ideologischen Hintergründe von Sánchez-Albornoz geschichtswissenschaftlichen Publikationen aufzuhellen, ist es doch einigermaßen befremdlich, mit welch missionarischem Eifer Escalona und Martín Viso nun ihrerseits zu Werke gehen.

Der folgende Aufsatz von Graham Barrett (S. 52–119) widmet sich der Frage, wie der Begriff der Hispania von der römischen Antike, aber insbesondere vom 8. Jahrhundert an bis in die Zeit Alfons’ VI. seinen Bedeutungsgehalt gewandelt habe. „In the passage of a millennium, the Iberian Peninsula fractured into polities and peoples whose relations were conflictive as often as constructive; they nonetheless agreed on a new location for Hispania, a new delineation of Hispania, precisely because they disagreed about what it should signify.” (S. 54) Barretts Untersuchung beeindruckt durch die Fülle an Quellen und Literatur (vgl. die Bibliographie S. 99–119), die er verarbeitet hat, doch wünschte man sich angesichts ihrer beachtlichen Länge eine etwas klarere Linie der Darstellung. Wiederum erregen die schillernden Formulierungen der Zwischenüberschriften Aufmerksamkeit, ohne das Verständnis nennenswert zu fördern (vgl. etwa S. 97: „At times I almost dream“).

Den zweiten Teil eröffnet Jonathan Jarretts Studie (S. 123–142) über die Darstellungsabsicht in den narrativen Textteilen frühmittelalterlicher Urkunden aus der Pyrenäenregion. Jarrett gelangt zu der einleuchtenden Schlussfolgerung, dass diese erzählerischen Elemente vor allem als „Kriegslist“ dienten „to make safe the unusual or even fraudulent, working to elicit audience sympathy or cooperation when regular, legal norms were insufficient.“ (S. 123) Er verbindet hiermit die quellenkritische Mahnung, dass in aller Regel die überlieferten Urkunden mit ihren narrativen Anteilen den gegnerischen Standpunkt, gegen den sie aufgeboten wurden, für heutige Historiker „überschrieben“ haben (vgl. S. 139).

Wendy Davies untersucht in ihrem Beitrag (S. 143–168) auf der Grundlage vor allem urkundlicher Quellen die so einfache wie grundsätzliche Frage, was ein „Graf“ im nördlichen Teil der Iberischen Halbinsel im späteren 9. und im 10. Jahrhundert war, bevor der Begriff im 11. und 12. Jahrhundert weitere Verbreitung fand. Unberücksichtigt bleibt hierbei Katalonien. Insbesondere geht es Davies um den Unterschied zwischen „Grafen“ und anderen landbesitzenden Adligen. In Abgrenzung zu früheren Forschungen thematisiert sie die Schwierigkeit, einzelnen „Grafen“ territoriale Bezirke zuzuordnen. Mit wohltuend maßvoller Kritik insbesondere an Sánchez-Albornoz (vgl. S. 164) gelangt sie zu dem Ergebnis, dass „Graf“ zu sein im frühmittelalterlichen Iberien nicht bedeutete, ein vom König delegiertes Amt mit einem Amtsbezirk innezuhaben.

Auch der folgende Aufsatz von Eduardo Manzano Moreno und Alberto Canto über Münzen und Münzprägung in frühmittelalterlichen iberischen Urkunden (S. 169–197) geht der Frage nach dem Bedeutungsgehalt von Quellenbegriffen nach: Er analysiert die Wertangaben in Verkaufsurkunden des christlichen Herrschaftsbereichs vom 9. bis zum 11. Jahrhundert. Demnach entsprachen solche Angaben in manchen Fällen tatsächlich verwendeten Münzen, häufiger aber Rechnungseinheiten. Namentlich den solido argenteo identifizieren die Verfasser als Rechnungseinheit, die ihren Ursprung in al-Andalus gehabt habe (vgl. S. 181).

Im dritten Teil des Bandes („Writing, Remembering, Representing“) sind zwei Studien von Fragestellungen der Frauen- bzw. Geschlechtergeschichte angeregt: Jeffrey Bowman (S. 202–231) befasst sich am Beispiel der Gräfinnen Ilduara Eriz, Ermessenda und Almodis von Barcelona sowie Ava von Kastilien, der Frau des Grafen García Fernández, mit dem Zusammenhang von „power, commemoration and evidence“ (S. 204). Auch Nicola Clarke (S. 232–256) benutzt das Mittel der Fallstudie, um die Darstellung von Männlichkeit und sozialer Macht in al-Andalus näher zu beleuchten. Die gewählten drei Beispiele stammen aus arabischen Geschichtswerken des 9. bis 11. Jahrhunderts.

Im letzten Beitrag (S. 257–280) widmet Lucy K. Pick sich zwei fast gleichzeitig entstandenen literarischen Werken des 8. Jahrhunderts, der Chronica Mozarabica von 754 und dem durch seine Buchmalereien berühmten Apokalypsekommentar des Beatus von Liébana. Pick zufolge schließen beide Werke nur bei vordergründiger Betrachtung „explicit reference to Islam and a way for Christians of the peninsula to think about their Islamic overlords” (S. 259) aus. Sie betont, dass die Chronik etliche positive Aussagen über islamische Herrscher enthalte. Im Kommentar des Beatus bleibe es den Lesern überlassen, selbst zu schlußfolgern „that in the sufferings of the African Church may be seen the problems in Spain of their own day under Islam, and that the wicked inside the Church are those who compromise with their Islamic overlords and introduce into the Church heretical notions about the nature of Christ.” (S. 273)

Zwei Landkarten (S. 16f.) und ein gemeinsames Personen-, Orts- und Sachregister ergänzen den informativen und bisweilen zum Widerspruch reizenden Aufsatzband; insbesondere die Beiträge des zweiten und dritten Großabschnitts dürften die Forschung weiterbringen.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Nikolas Jaspert, Die Reconquista. Christen und Muslime auf der Iberischen Halbinsel (711–1492), München 2019.
2 Vgl. hier nur Thomas Deswarte, De la destruction à la restauration. L’idéologie du royaume d’Oviedo-León (VIIIe–XIe siècles), Turnhout 2003; ders., Une Chrétienté romaine sans pape. L’Espagne et Rome (586–1085), Paris 2010; Hélène Sirantoine, Imperator Hispaniae. Les idéologies impériales dans le royaume de León (IXe–XIIe siècles), Madrid 2012.
3 Vgl. hierzu vor allem sein programmatisches Werk Despoblación y Repoblación del Valle del Duero, Buenos Aires 1966.

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