L. Gilhaus (Hrsg.): Der mittellateinische Alexanderroman

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Titel
Der mittellateinische Alexanderroman. Historia de preliis Alexandri Magni / Die Geschichte der Kämpfe Alexanders des Großen


Herausgeber
Gilhaus, Lennart
Reihe
Mittellateinische Bibliothek
Erschienen
Stuttgart 2020: Anton Hiersemann
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriel Siemoneit, Institut für Klassische Philologie-, Mittel- und Neulatein, Universität Wien

Die mittellateinische Übersetzung des griechischen Alexanderromans durch den Erzpriester Leo von Neapel (10. Jahrhundert) ist ein ebenso faszinierendes wie wirkmächtiges Stück Weltliteratur. Das Amalgam aus legendenhaften Erzähltraditionen und Sagenmotiven unterschiedlichster Provenienz bildete die Grundlage für volkssprachliche Nachdichtungen und hatte maßgeblichen Anteil an der Rezeption des Alexanderstoffs im Europa des Mittelalters. Die moderne Erforschung des Romans erlebte in den 1970er- und 1980er-Jahren eine kurze Blütezeit, als maßgebliche Editionen sowie die mehrfach neu aufgelegte Übersetzung von Wolfgang Kirsch (1938–2010) erschienen sind. Umso mehr ist zu begrüßen, dass Lennart Gilhaus Kirschs Übersetzung, mithin die einzige moderne Übersetzung in deutscher Sprache, neu herausgegeben hat. Enthalten sind außerdem eine Einleitung, inhaltliche Anmerkungen und, anders als noch in den alten Auflagen, ein lateinischer Text. Das Buch ist erschienen in der noch jungen Reihe „Mittellateinische Bibliothek“ des Anton Hiersemann Verlags, die lesefreundliche Studienausgaben bereitstellen möchte. Diesem Anspruch wird es mit kleinen Abstrichen gerecht.

In seiner Einleitung (S. VII–XII) markiert Gilhaus den Alexanderroman als literarisches Rezeptionsphänomen. Es handelt sich eben nicht um einen historischen Tatsachenbericht, sondern um ein „weitgehend fiktionales Werk über den Makedonenkönig“ (S. VIII), das sich allenfalls lose an den Ereignissen des rund zehnjährigen Eroberungsfeldzugs Alexanders des Großen orientiert. Dennoch, oder gerade deswegen, sah Leo in Alexander den Prototyp des idealen Herrschers, der als „Vorbild für die zeitgenössischen Herrscher“ (S. IX) fungieren sollte. Ein solches Bild lässt sich aus den Alexanderhistorikern (z.B. Diodor, Arrian), die die Unzulänglichkeiten des jungen Eroberers deutlich benennen, nicht ohne Weiteres gewinnen. Tatsächlich wurde der literarische Alexander zu „einer Leitfigur für die Ritter des Hochmittelalters, die sich insbesondere während der Zeit der Kreuzzüge in der Nachfolge Alexanders sahen“ (S. IX). Entstanden ist der Alexanderroman nach gängiger Meinung im dritten oder vierten Jahrhundert n. Chr. in griechischer Sprache. Leos griechische Vorlage allerdings und die ursprüngliche Fassung seiner Übersetzung sind verloren; die älteste bekannte Fassung ist bereits eine Überarbeitung. Die drei weiteren für die Überlieferung relevanten Rezensionen werden als J¹, J² und J³ bezeichnet und datieren aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Sie haben Leos Text sprachlich geglättet und um Kommentare, Sentenzen oder ganze Episoden erweitert (S. IX–X).

Gilhaus‘ Einleitung ist knappgehalten, vermittelt aber alle für eine erste Annäherung an den Text nötigen Informationen. Die Beschränkung auf das Wesentliche ist durchaus nachvollziehbar: Der notorische Fluch der Alexanderthematik besteht ja gerade darin, dass sie unterschiedlichste Schwerpunktsetzungen zulässt und jede:r Forscher:in andere Aspekte vertieft sehen möchte. So hätten beispielsweise die Charakteristika von Leos eingängigem Latein Erwähnung finden können, das maßgeblich zur Beliebtheit der Übersetzung beigetragen haben dürfte. Die weiterführenden Literaturhinweise (S. XII) könnten um die synoptische Edition von Bergmeister1 oder die seit 2011 bei Brepols erscheinende Reihe „Alexander redivivus“ ergänzt werden.

Text und Übersetzung sind übersichtlich und lesefreundlich gestaltet. Verglichen mit den älteren Ausgaben der Übersetzung stellt dies einen erheblichen Fortschritt dar. Die Orientierung gelingt mühelos, da sowohl die Einteilung des Alexanderromans in Bücher und Kapitel von Friedrich Pfister als auch die durchgehende Kapitelzählung von Oswald Zingerle übernommen wurden.2 Besondere Anerkennung verdient, dass Text und Übersetzung praktisch immer parallel gesetzt sind, ohne dass dies mit störenden Leerräumen im lateinischen Text erkauft worden wäre.

Kirschs Übersetzung und der lateinische Text berücksichtigen die früheste greifbare Fassung sowie die drei genannten Rezensionen. Grundsätzlich folgen sie J¹, wobei, soweit möglich, signifikante Abweichungen gegenüber Leo oder J² und J³ übernommen und durch geschweifte Klammern markiert sind. Freilich ist damit „ein künstlicher Text entstanden, der so nie existiert hat“ (S. XI). Der offensichtliche Vorteil jedoch besteht darin, dass ein guter Eindruck der jeweiligen Spezifika vermittelt wird. Wie bei Leseausgaben üblich, ist kein kritischer Apparat beigegeben. Angemerkt werden muss leider, dass sich einige Fehler in den lateinischen Text eingeschlichen haben. Dies betrifft zum einen die geschweiften Klammern, die in Text und Übersetzung nicht immer korrespondieren3, zum anderen diverse Verschreibungen sowie Ditto- und Haplographien.4 Obwohl man zum intensiveren Studium ohnehin nicht zu einer Leseausgabe, sondern zu einer kritischen Ausgabe greifen wird, trübt dies den soliden Gesamteindruck ein wenig.

Die Übersetzung von Wolfgang Kirsch ist bereits an anderer Stelle gewürdigt worden.5 Sie ist gut lesbar, stilistisch ansprechend und orientiert sich meistens an den grammatischen Strukturen des lateinischen Textes.6 Kritischen Philologinnen und Philologen dürfte sie stellenweise etwas zu frei geraten sein. Gilhaus hat Kirschs Übersetzung durch sparsame, angemessene Eingriffe an den modernen Sprachgebrauch angepasst.7 Gilhaus‘ Anmerkungen sind hilfreich und pointiert. Ihr Schwerpunkt ist ein inhaltlich-historischer, was die nicht immer einfache Trennung von Fakten und Fiktionen ermöglicht. Für eine eventuelle zweite Auflage sei angeregt, einen Index und eine Kapitelübersicht beizugeben.

Abgesehen von den genannten Punkten wird das hochwertig produzierte Buch dem Anspruch, eine lesefreundliche Studienausgabe bereitzustellen, voll gerecht. Im deutschsprachigen Raum dürfte es zu einem wichtigen Arbeitsinstrument für die Beschäftigung mit Leos Alexanderroman werden.

Anmerkungen:
1 Hermann-Josef Bergmeister (Hrsg.), Die Historia de preliis Alexandri Magni. Synoptische Edition der Rezensionen des Leo Archipresbyter und der interpolierten Fassungen J¹, J², J³ (Buch I und II), Meisenheim am Glan 1975.
2 Friedrich Pfister (Hrsg.), Der Alexanderroman des Archipresbyters Leo, Heidelberg 1913; Oswald Zingerle (Hrsg.), Die Quellen zum Alexander des Rudolf von Ems. Im Anhange: Die Historia de preliis, Breslau 1885.
3 So z.B. S. 8, Z. 14 („Artaxerses rex Persarum“); S. 16, Z. 8–10 („Apparuit […] inimicos eius“).
4 So z.B.: „hominurn“ statt „hominum“ (S. 2, Z. 23); „altitudine […] aliquis, cum“ (S. 46, Z. 20–21): Wiederholung von Z. 19–20; „eo, quod largiflua manus [hier ist eine Zeile von J³ ausgefallen: „eius nequaquam ad repositionem pecunie curvabatur, alii feli ciorum“ (S. 220, Z. 5–6); „eidern“ statt „eidem“ (S. 228, Z. 2); „conununiter“ statt „communiter“ (S. 228, Z. 7). Die Errata, von denen einige bereits in den kritischen Ausgaben zu finden sind, werden dem Verlag zugesandt.
5 Siehe die Rezensionen Richard Bodéüs, L’Antiquité Classique 52 (1983), 342; Wolfgang Maaz, Mittellateinisches Jahrbuch 18 (1983), 303; Karl Langosch, Mittellateinisches Jahrbuch 12 (1977), 285–286.
6 Dem Rezensenten sind nur wenige Petitessen aufgefallen: S. 8, Z. 7–8 wird „virgam ebeneam“ durch „einen dünnen Metallstab“ statt durch „einen Stab aus Ebenholz“ wiedergegeben. Allerdings ist in der kritischen Ausgabe von Pfister, anders als hier, „eb“ athetiert, sodass die Übersetzung prinzipiell korrekt wäre. Außerdem: „Veniens autem Darius […] et absorbuit eos“ (S. 94, Z. 16–20) ist nicht übersetzt; „niemals“ tilgen (S. 187, Z. 8); „VII mensibus quievit“ ist wiedergegeben durch „acht [statt: sieben] Monate verbrachte er in Ruhe“ (S. 219, Z. 13).
7 Nach dem Geschmack des Rezensenten hätten die Anpassungen noch umfangreicher ausfallen dürfen. Beispielsweise hätte die veraltete Wiedergabe des Diphthongs „αι“ [aı] durch „ä“ (z.B. „Platää“, S. 61, Z. 27; „Lakedämonier“, S. 68, Z. 15) zu „ai“ geändert werden können („Plataiai“, „Lakedaimonier“), zumal in den Anmerkungen die neuere Schreibweise verwendet wird.

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