E. Varsa: Protected Children, Regulated Mothers

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Title
Protected Children, Regulated Mothers. Gender and the "Gypsy Question" in State Care in Postwar Hungary, 1949–1956


Author(s)
Varsa, Eszter
Published
Budapest 2021: CEU Press
Extent
256 S.
Price
€ 65,00; $ 75.00; £ 60.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Frank Henschel, Historisches Seminar, Universität Kiel

Die Ordnung moderner Gesellschaften anhand soziokultureller Kategorien wie gender, race und dis/ability zu vermessen, ist in der Geschichtswissenschaft nach dem Cultural Turn ein gängiges Vorgehen. Die genannten Ansätze ergänzen die Erforschung politischer und ökonomischer Entwicklungen bzw. eröffnen ihr neue analytische und hermeneutische Dimensionen. Dies gilt auch – und gerade – für die Untersuchung staatssozialistischer Regime. Lange dominierten hier auf Partei, Staat und Sicherheitsapparat fokussierte, an totalitarismustheoretischen Unterscheidungen zwischen repressiver Herrschaft und passiver Gesellschaft orientierte Studien. Erst in den letzten Jahren sind Arbeiten erschienen, die sich um eine differenziertere Darstellung staatssozialistischer Systeme bemühen und hierfür Geschlecht, Ethnizität und Behinderung fokussieren. Dadurch können die Stabilitätsfaktoren, aber auch die inneren Ambivalenzen, der Regime herausgestellt und erklärt werden.1

Die hier zu besprechende Arbeit von Eszter Varsa ist ein herausragendes Beispiel dafür. Ihre Untersuchung von Institutionen des Kinderschutzes, der gesellschaftlichen Position der Frau und des Umgangs mit marginalisierten Bevölkerungsgruppen wie den Roma in Ungarn zwischen 1949 und 1956 zielt nicht nur auf die komplexen Zusammenhänge dieser gesellschaftlichen Bereiche untereinander ab, sondern auch und gerade auf eine Neuinterpretation und -bewertung der stalinistischen Phase im Aufbau des Sozialismus.

Trotz der scheinbar kurzen Zeitspanne ordnet Varsa die Institutionen, Diskurse und Praktiken der Sorge um gefährdete Kinder, der Berufstätigkeit der Frau und der Abwertung und Assimilation der Roma in eine Perspektive der longue durée ein, um Kontinuitäten, aber auch Zäsuren herauszuarbeiten. Letztlich kommt sie auf diesem Wege zu dem Schluss, dass es kaum etwas spezifisch Sozialistisches in den untersuchten Bereichen gab. „[C]hanges introduced with the onset of socialism gave already established practices a new meaning“ (S. 206), resümiert sie stattdessen. Stets habe das kommunistische Regime an zuvor bereits entfaltete Deutungsmuster und Ordnungsvorstellungen angeknüpft. Gleichwohl zeigten sich Wandlungen in Details: in der Umsetzung pädagogischer und fürsorgerischer Konzepte, in der Doppelbelastung von Frauen und in der sozioökonomischen und soziokulturellen – weniger jedoch der biologistisch-rassistischen – Perspektive auf die „Gypsy Question“, die im Sozialismus endgültig durch Emanzipation und Assimilation gelöst werden sollte.

Die Belege für ihre abschließenden Thesen liefert Varsa in vier etwa gleich langen Kapiteln. Diesen vorangestellt ist ein längerer Exkurs über die Entstehung und Entwicklung von Institutionen des Kinderschutzes seit dem 18. Jahrhundert und die Position der Roma in der Region vor 1945. Die Ausführungen bieten mehr als den berühmt-berüchtigten „historischen Kontext“, der in einer englischsprachigen Publikation für nicht mit der Region vertraute Leser:innen vielleicht auch sinnvoll wäre. Vielmehr umreißt Varsa so ausführlich (und doch so knapp) wie möglich die gesetzlichen Grundlagen, politischen Pfade und sozio-ökonomischen Kontexte, die für die Themen des Buches relevant sind: Welche Einrichtungen des Kinderschutzes existierten, welche Familien- und Bevölkerungspolitik wurde betrieben? Damit bietet dieses einführende Kapitel einen guten Anker für die einzelnen Analysekapitel.

Diese widmen sich weiblicher Erwerbsarbeit, der Bewertung und Regulation weiblicher Sexualität, der Erziehung von Heimkindern durch und zur Arbeit und den vermeintlich politischen Motivationen der Heimeinweisungen im Stalinismus zur Bestrafung politischer Oppositioneller. Auf überzeugende Art und Weise demonstriert Varsa den Mehrwert eines intersektionalen Ansatzes, der es erlaubt, die verschiedenen Bereiche durch die Verknüpfung mit übergeordneten Fragen nach dem Charakter des Regimes und der Gesellschaft in Ungarn in der unmittelbaren Nachkriegszeit sinnvoll und fruchtbar miteinander in Beziehung zu setzen. Dass dieser intersektionale Ansatz nicht ausführlich hergeleitet und methodisch begründet wird, ist zweischneidig. Varsa setzt den Ansatz pragmatisch um, ohne ihn ausufernd zu verorten. Das bedeutet aber auch, dass sie ihren Zugang nicht kritisch hinterfragt und gegenüber anderen abwägt. Einerseits fehlt so eine gut belegte begrifflich-methodische Fundierung. Andererseits liest sich das Buch dadurch sehr viel flüssiger.

So verfolgt Varsa im zweiten Kapitel die Neuausrichtung des Kinderschutzes nach 1945 respektive nach der Machtübernahme der Kommunisten 1949 und erläutert die intendierten wie nicht-intendierten Konsequenzen für Kinder, Frauen und Roma. Wie wurden Devianz und Delinquenz von Kindern und Jugendlichen bewertet? Wie wurden Frauen in den Arbeitsmarkt gedrängt, wie Roma-Frauen und Roma-Familien aufgrund einer ihnen unterstellten „Arbeitsscheu“ und „Rückständigkeit“ abgewertet und zum Ziel staatlicher und pädagogischer Eingriffe gemacht? Bereits hier wird deutlich, dass der Kinderschutz kein simples Disziplinierungsinstrument der Kommunistischen Partei und des Staatsapparates war. Vielmehr war seine Arbeit durch ein Geflecht von Akteur:innen und Zuständigkeiten, von individuellen Motivationen und strukturellen Zwängen bestimmt.

Ebenso werden die weit zurückreichenden Verbindungen in die Zeit der imperialen Habsburgermonarchie und die strukturellen Bezüge und Transfers von zeitgenössischen pädagogischen und bevölkerungspolitischen Diskursen und Praktiken offengelegt. Ohne der Gefahr einer Relativierung zu unterliegen, betont Varsa darüber hinaus, dass die Diskriminierung von Menschen, die den Roma zugerechnet wurden, ihre Entsprechungen in der US-amerikanischen oder australischen Geschichte im Umgang mit indigenen oder aufgrund ethno-kultureller Merkmale marginalisierten Gruppen findet. Da Frauen im sozialistischen Ungarn einerseits zur Integration in die Industriearbeit gedrängt, andererseits aber an ihrer Erziehungsfähigkeit gemessen wurden, ohne dass es ausreichend Tagesbetreuungsangebote gab, führte Berufstätigkeit oft zwangsläufig zur Vernachlässigung von Kindern. Nicht-Berufstätigkeit wurde aber ebenso negativ bewertet, sodass sich für Frauen ein Dilemma ergab, das sich im Fall der Roma-Bevölkerung zusätzlich verschärfte.

Kapitel drei dekliniert diese widersprüchlichen Ansprüche an Frauen in einer sozialistischen Gesellschaft am Beispiel der Bewertung ihrer Lebensführung und Sexualität durch. So zeigt sich, dass recht traditionelle, (klein-)bürgerliche und auf die geordnete Kleinfamilie abhebende Ideale handlungsleitend blieben und die volle Emanzipation und Befreiung der Frau weder angestrebt noch umgesetzt wurde. Nach den oben genannten, mittlerweile vorliegenden Arbeiten zur Rolle von Frauen im Staatssozialismus sind diese Befunde wenig überraschend, aber überzeugend und gründlich dargelegt. Kapitel vier führt schließlich zahlreiche Belege dafür an, dass (Lohn-)Arbeit nicht nur für Frauen verbindlich wurde, sondern auch in das Erziehungsprogramm von (Heim-)Kindern integriert wurde. Die Verschmelzung reformpädagogischer, kindzentrierter Ansätze mit der Fetischisierung der Arbeiterin/des Arbeiters machte Arbeit zum (disziplinierenden) Mittel und (pädagogischen) Ziel der staatlichen Erziehung.

Im letzten Kapitel spielt Varsa noch einmal die Stärke ihrer Quellen aus. Indem sie neben Archivmaterialien auch eine Fülle an Ego-Dokumenten und retrospektiven Interviews mit Erziehungspersonal, Eltern und Kindern heranzieht, kann sie die weit verbreitete Sicht widerlegen, dass das staatliche Heimsystem in erster Linie ein Bestrafungsinstrument für die politische Opposition im Kontext stalinistischer Säuberungsprozesse gewesen sei. Stattdessen zeigt sie die Vielschichtigkeit pädagogischer und pädiatrischer Absichten, Wahrnehmungen sowie Erinnerungen und legt die Interferenzen der zeitgenössischen und retrospektiven Bewertungen des Heimsystems und der verantwortlichen Akteur:innen offen.

Varsa ist es gelungen, ein komplexes Thema – eher ein Themengeflecht – in ein gut lesbares, quellengesättigtes Buch zu überführen, das durch seine klare Analyse und Thesenorientierung, weniger durch ausführliche methodische oder begriffliche Begründungen besticht. Manche Redundanzen in der Darstellung und Schlussfolgerung sind dabei sicherlich nicht zu vermeiden. Sie stören jedoch weniger als die vielen kleinen Tipp- und Schreibfehler im Manuskript, das ein besseres Korrektorat verdient hätte. Wenn man über die fehlende Begründung des intersektionalen Ansatzes hinaus etwas Inhaltliches beanstanden möchte, dann vielleicht, dass Gender, Ethnizität und Arbeit als Analysekategorien sinnvoll und fruchtbar eingesetzt werden, Kindheit hingegen nicht systematisch als soziale und politische Kategorie reflektiert wird. Dabei zeigt sich auch hier, wie sehr die Vorstellungen von Kindheit die anderen Kategorien und die daraus abgeleiteten Politiken beeinflussten. Was und wie Kinder sind oder sein sollen, das belegt die wachsende Zahl an Publikationen aus dem Feld der Kindheitsgeschichte, ist in modernen, auch und gerade sozialistischen, Gesellschaften von zentraler Bedeutung.2

Anmerkungen:
1 Maria Cristina Galmarini-Kabala, The Right to be Helped. Deviance, Entitlement, and the Soviet Moral Order, DeKalb, IL 2016; Claire L. Shaw, Deaf in the USSR. Marginality, Community, and Soviet Identity, 1917–1991, Ithaca, NY 2017; Celia Donert, The Rights of the Roma. The Struggle for Citizenship in Postwar Czechoslovakia, Cambridge 2017; Kateřina Lišková, Sexual Liberation, Socialist Style. Communist Czechoslovakia and the Science of Desire 1945–1989, Cambridge 2018.
2 Nick Baron (Hrsg.), Displaced Children in Russia and Eastern Europe, 1915–1953. Ideologies, Identities, Experiences, Leiden 2016; Martina Winkler, Kindheitsgeschichte. Eine Einführung, Göttingen 2017.

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