A. Chaniotis (Hrsg.): Unveiling Emotions III

Cover
Titel
Unveiling Emotions III. Arousal, Display, and Performance of Emotions in the Greek World


Herausgeber
Chaniotis, Angelos
Reihe
Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien (63)
Erschienen
Stuttgart 2021: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
544 S.
Preis
€ 82,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Justine Diemke, Alte Geschichte, Universität Hamburg

So facettenreich das Konstrukt der Emotionen ist, so auch der dritte und finale Band der Unveiling Emotions Reihe, der in insgesamt 15 Beiträgen die Mittel, mit denen Emotionen erzeugt und gezeigt wurden, ihre Ziele sowie die Kontexte, in denen Emotionen Anwendung fanden, untersucht. Der Band besticht nicht nur durch die Fülle an Quellen und Autoren, sondern auch die Bandbreite an unterschiedlichen Emotionen, vom Ekel bis zur Reue, deren Funktionalität und Wirkungskraft von der Archaik bis zur Spätantike ausgelotet werden.

Der Sammelband gliedert sich in drei thematische Schwerpunkte. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Konstruktion von Emotionen. Den Anfang macht Dimos Spatharas mit einer tiefgehenden Analyse zum Ekel in der griechischen Literatur. Die Erzeugung von Ekelgefühlen galt bereits in der Antike als probates Mittel, um Minderheiten oder Ethnien zu stigmatisieren, soziale Hierarchien zu schaffen oder aufrechtzuerhalten. Hierfür wurden auf die Zielobjekte ekelerregende Eigenschaften projiziert oder bestimmte Personengruppen als ansteckend deklariert, die infolge ihres vermeintlichen Ansteckungspotenzials als gefährlich eingestuft und daher gemieden wurden. Hohe Ekelgrenzen oder gar der Mangel an Ekelgefühlen galten hingegen, so Spatharas, als unangemessen und standen in Opposition zu den sozialen Normen.

Angelos Chaniotis analysiert in seinem Beitrag anhand von vier Fallbeispielen die Rolle von Emotionen in asymmetrischen Beziehungsgeflechten vom Hellenismus bis in die Kaiserzeit. Emotionen sind ein wichtiges Mittel der Macht und Kontrolle sowie Ausdruck von Loyalität. Roms aggressiver Ton gegenüber seinen Feinden trug zu einem „angstfundierten“ Abhängigkeitsverhältnis hellenistischer Herrscher zu Rom bei. Emotionen können genauso über Dinge hinwegtäuschen, sie beschönigen oder Mittel der Propaganda sein: So wahren hellenistische Herrscher durch Betitelung der Mitglieder des Königshauses als phíloi das Bild einer angeblichen Harmonie und Loyalität am königlichen Hof. Die Darstellung des geliebten und loyalen Sklaven sowie seines fürsorglichen Herrn in Grabepigrammen soll hingegen ein humanes Bild der Sklaverei vorführen.

Die Unterlassung schlechter Handlungen, welche nachträglich zur Reue führen, bildet den Grundtenor der griechischen Erziehung. Wie Sophia Kravaritou in ihrem Beitrag zeigen kann, spielen Reue und Schuld für die Aufrechterhaltung einer loyalen Beziehung zwischen den hellenistischen Königen und griechischen Städten eine entscheidende Rolle, da das Eingestehen ehemaliger Fehler zur Versöhnung mit dem König und zur Erneuerung der Beziehung beitragen konnte. Im öffentlichen Kontext wird das Eingestehen von Reue und kollektiver Schuld allerdings nie direkt geäußert, sondern auf indirektem Wege durch die Veröffentlichung von Texten, welche das fehlerhafte Verhalten der Gemeinschaft attestieren.

Unter der emotionalen Intelligenz (EQ) wird eine ganze Palette an kognitiven Fähigkeiten wie das Erkennen und Interpretieren fremder Emotionen verstanden.1 Dass das moderne Konzept der EQ bereits in der Antike an der vielschichtigen Emotion eunoia greifbar ist, kann Maria G. Xanthou in den Werken des Redners Isokrates überzeugend darlegen. Der Begriff hat bei Isokrates einen multifunktionellen Charakter, – eunoia bedeutet nicht allein die wohlwollende Gesinnung oder Empathie gegenüber Anderen, sondern die Fähigkeit emotionaler Informationsverarbeitung sowie das Nutzbarmachen von Emotionen. Diese Fähigkeiten werden gerade im politischen Raum wichtig, um richtige Handlungen und Entscheidungen zu treffen.

Mit Rückgriff auf Wunderers Studie zur Psychologie des Polybios2 wirft Vasiliki Giannopoulou neues Licht auf Polybios‘ Anakyklosis im sechsten Buch. Für Giannopoulou ist der Verfassungswechsel emotionsgesteuert: Die Stimmung der Masse kann ein Verfassungswechsel einleiten, indem sie mit Gefühlen der Angst und Wut auf schlechte Staatsformen reagiert und damit zur Etablierung der nächsten Herrschaftsform führt. Polybios sieht den außenpolitischen Erfolg Roms daher in der Mischverfassung begründet, da diese die negativen Emotionen der Masse am besten kontrollieren kann. Doch auch diese vollkommene Herrschaftsform ist nicht dauerhaft, da sie, wie Polybios dem Leser zeigen möchte, gleichfalls dem natürlichen Verfallsprozess unterliegt.

Der zweite Teil legt den Fokus auf das Hervorrufen von Emotionen. Matthew Peebles, der in seinem Beitrag das emotionale Wirkungspotenzial von Darstellungen waffenschwingender Götter am Beispiel von Apollon, Athena und Zeus herausarbeitet, wagt einen Blick in die antike Plastik. Wie Peebles zeigen kann, bleibt die emotionale Wirkung dieser Darstellungen ambivalent: Die Statuen können beim Betrachter Angst auslösen, indem sie ihn daran erinnern, dass die göttliche Strafe jeden treffen kann, gleichzeitig durch ihre schützende Funktion aber auch ein Gefühl von Sicherheit und Hoffnung vermitteln. John Taits Untersuchung zu den demotischen Briefen verschiebt den geografischen Fokus auf das ptolemäische Ägypten. Die Verwendung emotionaler Begriffen ist hier stark begrenzt, gerade der Adressant verzichtet auf die Artikulation seiner persönlichen Gefühle. Wie Tait überzeugend zeigen kann, wird stattdessen der Schmerz des Empfängers, sollte er den Forderungen des Adressanten nicht nachkommen können, angedeutet.

Vasiliki Giannopoulou wirft ein weiteres Licht auf die Wichtigkeit von Emotionen in Polybios‘ Werk. Seine autopatheia, die nicht nur die Selbsterfahrung, sondern das Einfühlungsvermögen umfasst, sowie sein fundiertes Wissen der griechischen Vergangenheit ermöglichen ihm zum einen ein genaues Verständnis davon, welche Emotionen und welches Verhalten zu bestimmten Anlässen und Kontexten angemessen sind, zum anderen eine möglichst objektive Darstellung der historischen Ereignisse. Das primäre Ziel bleibt die Weitergabe dieses persönlichen Erfahrungsguts an seine Leser. Wie Elizabeth Potter in ihrer Untersuchung zeigen kann, gehören in das Lernprogramm der hellenistischen Progymnasmata der richtige Einsatz und die Kontrolle von Emotionen. Durch Techniken wie der enargeia soll der Redner Emotionen, die dem Wertesystem der Zuhörergruppe entsprechen, wie Hass und Abscheu gegenüber Verbrechen oder Gesetzesbrechern, hervorrufen. Dass die bewusste Projektion von negativen Emotionen auf Gesetzesbrecher als persuasives Mittel tragfähig ist, kann auch Bernhard Palme in seiner Untersuchung zu den Petitionen des Anwaltes und Dichters Dioskoros von Aphrodito (6. Jh. n.Chr.) konstatieren. Wie Palme an einer an den Dux adressierten Petition gegen den Pagarchen Menas zeigen kann, bedient sich Dioskoros unterschiedlicher Strategien wie der Erzeugung von Sympathie mit den Opfern oder dem Vergleich der Tätergruppe mit barbaroi und wilden Tieren, um den Adressaten zu überzeugen.

Mit dem dritten Teil wechselt der Fokus des Bandes auf den Einsatz von Emotionen in performativen Bereichen. Marco Fantuzzi setzt sich mit dem Verhältnis zwischen Emotionen und den Bildbeschreibungen (ekphraseis) des Chores in Euripides‘ drei Stücken Elektra, Ion und Iphigenie auseinander. Konträr zu den objektiven Botenberichten stehen die emotionalen Bildbeschreibungen des weiblichen Chores, wo die Frauen ihre Bilder gezielt, fern von Leid und Gewalt des Krieges, wählen. Helen Slaney gelingen interessante Einblicke in die antike Pantomime (orchesis), in der die Körpersprache ein wichtiges Mittel darstellt, um bestimmte Emotionen zu artikulieren. Hier wird ein breites Repertoire an unterschiedlichen Haltungen und Gesten, darunter aus der Kunst, bedient, die den Zuschauer durch die Wiedererkennung dieser Gesten emotional erregen konnten.

Elizabeth Potters Beitrag fragt ausgehend von Philostratos‘ Lebensbiographien nach der Bedeutung von Emotionen bei den Sophisten und ihren Aufführungen. 3 Breiten Raum widmet Potter dem Einsatz von Emotionen in den Deklamationen, wo Emotionen für die gute Performance zwar unerlässlich sind, gleichzeitig aber das Risiko bergen, im Falle einer mangelnden Emotionskontrolle die Aufführung zu ruinieren. Philostratos skizziert das Bild eines idealen Publikums, das eine kollektive Reaktion zeigt, was allerdings, so Potter, die Möglichkeit eines individuellen Emotionserlebens nicht ausschließt. Der umfangreichste Beitrag des Sammelbandes ist den Emotionen im kaiserzeitlichen und spätantiken Gerichtswesen gewidmet. Dimitris Karambelas richtet den Blick auf den multifunktionalen Charakter von Emotionen, die, wie er am Beispiel der Tränen des Kaisers zeigt, ein „wahres“ Urteil ausdrücken oder dieses beeinflussen können. Der Gerichtssaal avanciert zum Ort der Katharsis, wo sich Emotionen aus zurückliegenden Konflikten zwischen beiden Parteien lösen konnten. Der Wert der umfangreichen Studie (70 S.) leidet allerdings unter der Fülle an angeführten Beispielen. Der letzte Beitrag führt in die antike Magie und Fluchpraxis: Wie David Frankfurter am Beispiel magischer Texte und Zauberpuppen zeigen kann, führen affektive Zustände wie empfundene Ungerechtigkeit, Angst oder Frustration zur Anwendung von Magie. Gerade Frauen greifen aus sozialem Druck, so im Falle eines Kinderwunsches, zu magischen Praktiken.

An der Aufteilung des Bandes ließe sich bemängeln, dass die Beiträge nicht immer zu den übergeordneten Themenfeldern passen. Trotz der thematischen und zeitlichen Spannbreite können die Beiträge zeigen, wie sehr der Diskurs in der antiken Literatur zwischen der Emotionsregulation und dem sinnvollen Einsatz von Emotionen changierte. Ihre enorme Wirkungskraft machen sie in allen Bereichen einsatzfähig, ob zur Konstruktion von Machtverhältnissen, als Mittel der Propaganda oder als persuasives Mittel zur emotionalen Lenkung einer bestimmten Gruppe. Die Heterogenität der Studien erweist sich damit als Mehrwert des Bandes, der das Phänomen der Emotionen aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und zu einem besseren Textverständnis der Quellen verhilft. Wie in den vorangegangenen Bänden konnten auch im letzten Teil ein hoher Erkenntnisgewinn und Mehrwert durch die Erforschung von Emotionen festgestellt werden. Der dadurch geschaffene weitere Anreiz zur Erforschung der antiken Quellen nach ihrem emotiven Gehalt bleibt sicher der größte Verdienst der drei Bände.

Anmerkungen:
1 Die Autorin orientiert sich bei ihrer Definition am Modell von Mayer-Salovey-Caruso. Siehe John D. Mayer / Peter Salovey / David R. Caruso, Emotional intelligence as Zeitgeist, as personality and as a mental ability, in: Reuven Bar-On / James D. A. Parker (Hrsg.), The Handbook of Emotional Intelligence: The Theory and Practice of Development, Evaluation, Education, and Application at Home, School, and in the Workplace, San Francisco 2000, S. 92–117.
2 Wunderer pointiert bereits 1905 die Wichtigkeit der Selbstkontrolle der Massen in Polybios‘ Werk. Carl Wunderer, Die psychologischen Anschauungen des Historikers Polybios, Erlangen 1905.
3 Nicht berücksichtigt wurde die Publikation von Martin Korenjak, die sich intensiv mit der emotionalen Interaktion zwischen Rednern und Publikum in den sophistischen Deklamationen befasst, siehe Martin Korenjak, Publikum und Redner. Ihre Interaktion in der sophistischen Rhetorik der Kaiserzeit, München 2000, v.a. S. 96–114.

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